Der folgende Text handelt unter anderem von meiner Begeisterung für ein Lied namens „That’s How I Got To Memphis“. Es ist ein recht langer Text. In der Zeit, die man benötigt, um ihn zu lesen, reisen andere Menschen vermutlich wirklich nach Memphis und trinken allein während des geradezu als episch zu bezeichnenden siebten Absatzes dieses Blog-Eintrags etliche Bottiche des dortigen Regionalgetränks leer. Gottlob handelt dieser lange Text aber auch von anderen Dingen als dem Song „That’s How I Got To Memphis“. Außerdem kommt, quasi als Belohnung für alle, die den Text zu Ende lesen, im letzten Absatz ganz kurz Tina Turner vor.
Ich bin in einem Ausmaß begeistert von besagtem Country-Schunkler, den kennen zu lernen ich erst vor einer Woche die Freude hatte, daß ich inzwischen ernsthaft erwäge, eine späte Karriere als Lo-Fi-Chansonnier zu beginnen und eine Version des Stücks auf meinem alten spinnwebenumrankten 4-Spur-Gerät aufzunehmen. Doch lässt mich der hochvernünftige Einwand eines Freundes, demzufolge man ja zum Glück nicht jedes Lied, das man mag, auch selber singen muss, von diesem fehlgeleiteten Vorhaben absehen, das mich vermutlich gleichzeitig legendär, arm und journalistisch untragbar gemacht hätte. Bevor ich mehr zu jenem Stück verlauten lasse, möchte ich aber der Versuchung einer billigen Sade-Schmähung nicht widerstehen.
Also, Sade, ich weiß ja nicht.
Bin ich eigentlich der einzige männliche Frühvierziger, dem das Comeback der Frau nicht vor lauter Begeisterung die Herzkranzgefäße überlaufen lässt?
Mich hat Sades heute überall als stilvoll, cool, geschmack- und/oder geheimnisvoll bezeichnete Musik ja schon in den Achtzigern stets in fortgeschrittene Sedierungszustände genüddelt. Ich fand das Cocktail-Gezuckele damals gar so einschläfernd, daß ich, als mich im Dezember 1984 die verzweifelte Suche nach einem Weihnachtsgeschenk für meine Mutter plagte, ich Sades Album „Diamond Life“ erstand und damit bei meiner Lieblingsverwandten für mittelgroße Freude sorgen konnte. Wie also könnte ich mich über die Wiederkehr einer Musik freuen, die ich schon 1984 so langweilig fand, daß ich annahm, meine Mutter könnte sich für sie erwärmen?
Ich erfreue mich lieber an Marina & The Diamonds. Schon wieder eine britische Sängerin (keine Band!), die in ihrer Heimat von allen Seiten mit Lob beworfen wird – aber anders als bei der singenden Tagebuchschreiberin Kate Nash, der Neo-Sixties-Nervnudel Duffy, der romantischen Herbstlaub-Sirene Florence & The Machine und dem stimmlichen One-Trick-Pony La Roux bin ich diesmal begeistert dabei und stehe mit Marina-Fähnchen wedelnd am Wegesrand ihres von Bewunderern gesäumten Karrierepfades. Es ist mir sogar egal, wer links und rechts von mir steht. Selbst wenn Sade neben mir stünde, würde ich weiterwedeln, aber ich habe ja auch persönlich gar nichts gegen sie.
Übrigens basiert meine Begeisterung für Marina & The Diamonds im Grunde lediglich auf dem Song „I Am Not A Robot“, aber für eine kurze Euphorie reicht das. Es kam in diesem Haushalt länger nicht vor, daß ein schlichter Tagesradio-kompatibler Popsong für dermaßen viele Einsätze sorgte. Ich glaube, ich nerve mein unmittelbares Umfeld schon arg mit dem Stück.
Auch famos und der Fähnchenbewedelung würdig ist das Schaffen des amerikanischen Lo-Fi-Musikanten Karl Blau, den ich letzte Woche live bewundern durfte. Allerdings war ich recht erstaunt – ja, fast enttäuscht -, als ich nach dezenter Recherche feststellen musste, daß der schönste Song, den Blau bei jenem Konzert vortrug, eine Coverversion war. Bei besagtem Stück handelt es sich um das einleitend bereits erwähnte Lied „That’s How I Got To Memphis“. Es stammt im Original von dem – generell nicht um tolle Songs verlegenen – Country-Songschreiber Tom T. Hall. Dies ist der andere Song, mit dem ich dieser Tage mein Umfeld quäle. Und es ist wohl dieser Song, der länger halten wird, hat er doch diesen vom Leben gegerbten, dabei jedoch lakonischen Ton, den ich auch bei Jimmy Webb so schätze.
Durch den Auftritt Karl Blaus wurde aber auch eine alte musikalische Liebe neu entflammt:
In den Neunzigern habe ich überwiegend Musik von Musikern gehört, die man seinerzeit oft völlig verallgemeinernd, aber meistens auch ganz zutreffend unter dem Banner „Lo-Fi“ zusammenfasste. Musik, der man ihre – meist willentliche – technische Reduziertheit aufs Schönste anhören konnte. Oder anders: Musik, die seltsame Vögel mit massivem „Kulttypen“-Appeal (und oft ordentlich einem an der Harpune) bei sich zu hause mit viel Einfallsreichtum auf eiernde Vier-Spur-Rekorder aufnahmen.
Heute ist die Bezeichnung Lo-Fi nun wirklich Quatsch, denn seit der Vercomputerisierung der Musikherstellung ist der Begriff ein Anachronismus: Heute kann jeder Mensch zu hause mit seinem Computer eine Platte aufnehmen, die das teuer produzierte Gesamtwerk etlicher Siebziger-Superrockstars klingen lässt wie olle Kassettenmitschnitte aus dem Proberaum. Gleichzeitig wird von einem gefragten Produzenten wie Dave Friedman (Flaming Lips, Mercury Rev, MGMT, OK Go) der akustisch verschobene Klang vieler Lo-Fi-Produktionen im großen Studio nachempfunden. Auch der vor einigen Tagen durch Freitod aus dem Leben geschiedene Mark Linkous hat auf seinen Sparklehorse-Alben die Lo-Fi-Klangästhetik häufig nachgestellt.
Lo-Fi war damals, von Ende der Achtziger bis in die späten Neunziger, total mein Ding, wie wir Jugendlichen sagen. Ich mochte einfach die Vorstellung, daß diese Musik auf kleinstem Raum und zu den technisch simpelsten Möglichkeiten entstand. Doch Lo-Fi war natürlich nur eine auf die Herstellung abhebende Bezeichnung. Denn die bedeutenden Vertreter des Genres machten äußerst unterschiedliche Musik:
Da waren Sebadoh, die völlig verrauschten, aber aus tiefstem Herzen brüllenden und säuselnden Folk-Punk spielten; dann wiederum gab es Robert Pollards und Tobin Sprouts Guided By Voices, die The Who und die Beatles unter lautem Scheppern und mit ausgeprägtem Stadionrock-Gestus in ein Vier-Spur-Gerät zwängten. Es gab den genialischen R. Stevie Moore aus dem Umfeld der genialischen The Chrysanthemums, der gerne als „Godfather of Lo-Fi“ bezeichnet wird. Es gab die australischen Tall Dwarfs und ihren mal fiesen, mal süßen, gelegentlich komödiantischen Folk-Psych-Pop. Es gab die britischen Cleaners From Venus, die eiernde Syd Barrett-izismen auf eine Rhythmusbox treffen ließen und sich damit anhörten wie eine psychedelische Teestunde in einem Gewächshaus in Suffolk. Da waren aber auch aus New Hope, Pennsylvania die frühen Ween – zwei Typen, die klangen wie LSD-süchtige Hinterwäldler, die unschuldige Studenten, die sich aufs Land verirrt hatten, in ihren Folterschuppen verschleppten und dort mit Perlen ihrer Erwachsenenock-Plattensammlung quälten. Nicht zu vergessen: Daniel Johnston, der psychisch instabile Kinderzimmer-Beatle mit seinen weitäugigen Schmerzensliedern. Da waren Julian Copes „Out Of His Mind“-Platten „Droolian“ und „Skellington“, da waren die Chills mit „Pink Frost“, da waren Cotton Mather, da waren The Clean und Alastair Gailbraith aus Neuseeland, da waren Neutral Milk Hotel und Elf Power, da war aber auch der Kölner Harald „Sack“ Ziegler. Und da waren Genre-Stars wie Beck und Pavement. Die letzte waschechte Lo-Fi-Platte, die mich begeisterte, war im Jahr 2003 Cody ChesnuTTs Album „The Headphone Masterpiece“, ein überbordendes Irrsinnswerk, das die Originalversion des The Roots-Hits „The Seed“ enthält und sich überwiegend anhört, als sei Sly Stone Mitglied eines sexistischen Kifferzirkels.
Meine akustische Wahrnehmung ist durch all diese wunderbare Musik, der ich überwiegend in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern begegnen dufte, nachhaltig verschoben worden. Bis heute ist es immer wieder eine gewisse klangliche Windschiefe in der Musik, die mich auf etwas aufmerksam macht
Ich mochte all diese Musiker zwar vor allem wegen ihrer songschreiberischen Talente, dem deutlichen Melodiewillen und weil hier große Ideen auf geschrumpfte Weise umgesetzt wurden. Ich mochte sie aber sicher auch, weil ihre Art des musikalischen Wirkens meinem Technikverdruss entgegen kam. Da ich technisch, gelinde gesagt, äußerst unbeschlagen war, fand ich es nur schlüssig, die Mittel zur Herstellung eines soliden musikalischen Produkts zu versimpeln. Für mich war Lo-Fi auf quasi handwerkliche Art und Weise Punk bzw. DIY: Man konnte es selber machen. Und das tat ich auch. Während der Jahre 1990 bis 1995 habe ich in entlegenen Teilen meiner Wohnung und mit entlegenen Teilen meines Hirns beinah täglich in ziemlicher Abgeschiedenheit mit meinem Vier-Spur-Rekorder Songs aufgenommen. Manche habe ich gar zur Vollendung gebracht und als Tapes in 10-er-Auflage veröffentlicht. Dann und wann krame ich diese Aufnahmen heraus und frage mich, ob ich nicht vielleicht doch mal eine breitflächige Veröffentlichung in Erwägung ziehen sollte. Und wenn ich sie dann tatsächlich höre, denke ich mir: „Ach, weißt du was, Eric? Vielleicht schreibst doch lieber statt über eine Veröffentlichung dieses Unfugs nachzudenken, einen Text über Lo-Fi-Musik“.
Ein Detail zum Thema Lo-Fi, das, glaube ich, noch nirgendwo bedacht wurde, ist, daß mit ziemlicher Sicherheit weite Teile des Lo-Fi-Kanons (womöglich gar bekannte Songs des Para-Genres wie Becks „Loser“, Smogs „A Hit“ oder Daniel Johnstons „True Love Will Find You In The End“) in unzureichender Bekleidung und/oder mit Essensresten am Mund aufgenommen wurden. Schließlich waren die Musiker zum Zeitpunkt der Produktion a) zu hause und b) wohl kaum immer in öffentlich präsentablem Zustand. Auch letzteres ein Punkt, in dem sich Lo-Fi-Musikanten von Sade unterscheiden dürften. Ich weiß nicht, ob es wahnsinnig wichtig ist, in welcher Kleidung und mit welchen Essensresten am Mund die erste Smog-Platte aufgenommen wurde, aber ich möchte der Musikforschung diesen Gedanken doch gerne an dieser Stelle kredenzen. Auf daß er vertieft werden möge. Denn um selbst solches zu leisten, bin ich gerade zu sehr daran interessiert, den folgenden Absatz zu schreiben:
Heute finden sich in jüngeren Indie-Produktionen verstärkt wieder Spuren von Lo-Fi wieder. Etwa bei der kanadischen Band Attack In Black, die gerade in diesem Moment mit ihrer warmen, aber akustisch leicht lädierten Musik mein Arbeitszimmer bedudelt.
Eine anderes neues Projekt mit Lo-Fi-Bezug ist Pearly Gate Music (dahinter verbirgt sich Zach Tillman, der jüngere Bruder des Fleet Foxes-Schlagzeugers und Songschreibers Josh Tillman).
Dann sind da die Strange Boys, eine junge Band, auf die sich, so riecht es, demnächst wohl die gesammelte Musikschreiberzunft wird einigen können. Und das zurecht, denn die Strange Boys tönen, als hätte der junge Bob Dylan mit Pavement als Backingband noch mal die „Basement Tapes“ aufgenommen. Näselnder Gesang und eine angenehme Unambitioniertheit in der Handhabung des Begleitinstrumentariums prägen das Album der Band aus Austin, Texas.
Und dann gibt es da Extremisten wie Ariel Pink aus Hollywood mit seiner vereierten Unterwasser-Musik.
Da ich gerade in Servicelaune bin – hier eine Liste mit Einstiegsalben in den weit aufgefächerten Lo-Fi-Kosmos:
R. Stevie Moore – „Meet The R. Stevie Moore“ (Compilation)
Daniel Johnston – „Continued Story“ und „Hi, How Are You“ (beide auf einer CD)
Sebadoh – „Weed Forstin“ und „The Freed Man“ (zusammengefasst als „The Freed Weed“)
The Tall Dwarfs – „Hello Cruel World“
Cleaners From Venus – „Under Wartime Conditions“
Guided By Voices – „Alien Lanes“ und „Bee Thousand“
Smog – „Julius Caesar“
Ween – „The Pod“
Neutral Milk Hotel – „On Avery Island“
Cody ChesnuTT – „The Headphone Masterpiece“
Eben fällt mir ein: Ich schenkte meiner Mutter zur gleichen Zeit wie Sades „Diamond Life“ auch Tina Turners „Private Dancer“-Album. Es ist die deutlich bessere Platte. Vielleicht schreibe ich ja eines Tages mal einen ambitionierten Text, in dem ich alle Platten, die ich je meiner Mutter schenkte, einer knallharten Analyse unterziehe, die auch der Frage, was diese Geschenke über mein Sohn/Mutter-Verhältnis aussagen, nicht aus dem Weg gehen wird. Aber nicht heute. Heute werde ich den Rest des Tages weiter abwechselnd (und womöglich auch gleichzeitig) meine gegenwärtigen Lieblingslieder „That’s How I Got To Memphis“ und „I Am Not A Robot“ hören.
Lesen Sie beim nächsten Mal: Wie ich Sade davon überzeugen konnte eine Platte mit rauschenden Vierspuraufnahmen zu veröffentlichen. Wie Mutter auf Weens „The Pod“ reagierte. Und: Wie ich meinen Nachbarn erfolglos klarmachte, daß man „That’s How I Got To Memphis“ sehr wohl mehrere Stunden brüllend laut in mehreren Versionen hören kann.