Verehrte Leser,
seit meinem letzten Blog haben sich die Ereignisse in der Musikwelt überschlagen. Ich will daher in ungewohnt knapper Form die vergangenen vierzehn Tage Revue passieren lassen.
15.04.2010
Eine Ohrentzündung plagt mich. Mein Arzt legt das rechte Ohr für zwei Tage mittels eines im Gehörgang verbrachten Mulllappens lahm.
Wieder zuhause suche ich nach Erbauung in meinem Plattenregal.
Wenn man Liebeskummer hat, kann man in der Popmusik reichlich Trost findet. Selbst schwerere Verluste werden in populärem Liedgut besungen. Um das Thema Krankheit jedoch drücken sich die meisten Liedtexter. Warum? Vermutlich weil Krankheit – im Gegensatz zum Tod – unglamourös ist. Warum auch sollten sich junge Mädchen auf Konzerten von Musikern in engen Lederjacken und mit provokanten Frisuren einfinden, wenn diese doch nur über ihre Ohrentzündungen singen?
Spontan fallen mir nur drei Songs ein, die sich im weitesten Sinne mit Krankheit befassen: Blumfelds „Krankheit als Weg“, Paul Simons „Allergies“ und „Schön krank“ von der Achtziger-Jahre-Friedensbewegungsband Bots. Letzterer Song ist im Grunde ein Anti-Pharmaindustrie-Stück und ein offensichtliches Produkt seiner Zeit. Im Text wimmelt es nur so vor agitationswilligen An-die-Wand-sprüh-Parolen wie „Lieber schön krank als Pharma getankt“. Aber auch: „Lieber im Hals ein Frosch als Hoffmann-La Roche“. Nie waren alternativ bewegter Protestrock und Blödelschlager einander näher als hier. Über Ohrentzündungen gibt es keine Lieder.
16.04.2010
Wochenlang lag die mir zugesandte CD des Musikers Hans Unstern ungehört in meiner Wohnung herum. Der Name des Musikers und das Cover (auf dem das fortgeschritten bärtige Antlitz des Künstlers zu sehen ist) hatten mich abgeschreckt. Heute aber war es soweit, ich habe die CD gehört. Und bin arg angetan. Was ist das denn bitte? Avantgarde-Liedermaching? Deutscher Neo/Anti/Freak-Folk? Die hiesige von Harfen- und Tropicália-befreite Version von Joanna Banhart? Die GolDYLAN Zitronen?
Lange habe ich keine so guten Texte in deutscher Sprache gehört. Der durchaus geschätzte Gisbert zu Knyphausen klingt im Vergleich plötzlich noch selbstdreherischer und WG-Küchen-hafter als er es ohnehin schon manchmal tut. An dieser Stelle muss wieder einmal festgehalten werden, dass deutsche Popstars mit ernstem Ansinnen dazu neigen, komisch zu heißen. In den Achtzigern hießen sie Niedecken, Grönehagen, Westermeyer oder sogar Mitteregger. In den Neunziger stießen Distelmeyers und von Lowtzows dazu. Und heute heißen sie zu Knyphausen oder (mit Künstlernamen) Unstern. Ich sollte auch anders heißen.
18.04.2010
Eltern sind wieder wahnsinnig angesagt in der Popmusik.
Während man sich früher nicht zuletzt auch aus Abgrenzungsgründen in musikalische Vorlieben hineinsteigerte, steht heute in jedem zweiten Plattenfirmen-Info ein Satz wie: „Zur Musik kam John durch die Plattensammlung des Vaters, der den Zehnjährigen mit Bob Dylan, Neil Young und Leonard Cohen vertraut machte“.
Die englische Songschreiberin Laura Marling kündigte kürzlich sogar auf einem Konzert eine Coverversion von Neil Young „The Needle And The Damage Done“ mit einer Referenz an ihren Vater an: „This is the first song, my father taught me. It’s about heroin.“
20.10.2010
Das ist das Schöne am Fortschreiten der Popgeschichte: Leute, von denen es schien, als seien sie vor langer Zeit für immer aus dem Bild gefallen, stehen plötzlich wieder in der Schärfe.
Der soeben von MGMT besungene Dan Treacy ist so einer. Er begegnete mir in den Achtzigern, als mir Freunde den Song „I Know Where Syd Barrett Lives“ von seiner tollen Schrammel-Punk-Mod-Band The Television Personalities vorspielten. Später war von schweren Drogenproblemen, Gefängnis und psychischer Instabilität zu hören. Die Kultschmiede taten im Zuge dieser Entwicklung einiges dafür, Dan Treacy zu eben dem Brian Wilson/Syd Barrett des Dilettanten-Schrammel-Punk-Pops zu stilisieren, der er womöglich sogar ist.
Zuletzt sah ich ihn mit der Neuauflage der Television Personalities im Jahr 2008 im Kölner Gloria. Das Konzert gehört zu den denkwürdigsten meines Lebens. „Haha, das sind besoffene Punks“, freute sich meine Konzertbegleitung, als Treacy und seine Band die Bühne betraten. Treacy pöbelte erstmal in Richtung Publikum, und dann ging’s los. „Hm, der linke Gitarrist spielt einen ganz anderen Song als der rechte Gitarrist“, murmelte meine Begleitung bald verstört und untertrieb damit deutlich. Geprobt war hier jedenfalls nichts.
Meinen persönlichen Höhepunkt erreichte das Konzert, als Treacy seines Mod-Parkas überdrüssig wurde und diesen auszuziehen versuchte. Allerdings war der Sänger von der Idee besessen, sich des schweren Kleidungsstücks zu entledigen, ohne sich vorher die Gitarre abzuhängen – eine zum Scheitern verurteilte Absicht, die auch stabilere Menschen an ihre Grenzen geführt hätte. Bald hatte sich Treacy gnadenlos mit dem Mantel in seinem Gitarrengurt verheddert. Der zweite Gitarrist trat hinzu und half seinem Frontmann. Bei jedem anderen hätte es womöglich entwürdigend ausgesehen, aber Treacy gelang es, das ganze wie eine Absage an eitles Rockstar-Gehabe wirken zu lassen. „Oje, die sind komplett auf LSD“, folgerte hingegen, nunmehr genervt, meine Begleitung.
Ich weiß nicht recht, was ich mit Gestalten wie Treacy anfangen soll: Ich finde ihn ebenso tragisch wie vereinnahmungsresistent und erfrischend. Doch es ist etwas anderes, sich Dan Treacy auf der Bühne anzuschauen als tatsächlich Dan Treacy zu sein. Wie schreibt doch der britische Musikjournalist David Hepworth in der neuen Ausgabe von THE WORD zum Tod des unglücklichen Alex Chilton: „“We get to keep the records, but they have to live the life“.
Allerdings ist Dan Treacy um einiges indiskreter als Chilton – er lässt uns an seinen Abgründen wesentlich stärker teilhaben als es der Südstaaten-Gentleman tat. In Dosen kann das stark anrühren: Dieser Tage erscheint ein neues Album der Television Personalities. Im schönsten Song, „My Yoko“, singt Dan Treacy mit dieser schiefsten aller britischen Pop-Stimmen: „All the places I have been / All the places I have seen / Well, thats me, that’s Daniel / I’be been mad and I’ve been bad / I’ve beeng led and I’ve ben had / Well, that’s me, that’s Daniel“. Im Refrain besingt er dann eine ominöse, zur Retterin stilisierte Sie: „Yes or no / She’s my Yoko“.
21.04.2010
Das ist das Traurige am Fortschreiten der Popgeschichte: Man hört immer mehr Toten zu.
Heute erfahre ich, daß der Rapper Guru verstorben ist. Wie viele andere gitarrenbewegte Burschen, bin auch ich in den frühen Neunzigern für eine Zeit beim HipHop gelandet. Anders als andere, bin ich aber nicht lange dort geblieben. Zwar war ich immer eher ein A Tribe Called Quest-Fan („Midnight Marauders“ ist wohl bis heute mein Lieblings-HipHop-Album), aber auch Gang Starr (Lieblingsplatte: „Daily Operation“) mochte ich damals recht gerne.
Noch ein zur Unzeit verstorbener Musiker also. Warum ist es seltsamer, Musik eines verstorbenen Musikers zu hören, als das Buch eines verstorbenen Autors zu lesen? Es ist die Unmittelbarkeit und Vitalität, die speziell die Kunstform Popmusik auszeichnet, die sich nicht recht mit der Vorstellung verbinden lässt, dass jemand gegangen ist.
Es sind mir gerade ein bisschen zu viele Tote in letzter Zeit auf dem Plattenteller: Willy DeVille, Sky Saxon, Lux Interior, Vic Chesnutt, Mark Linkous, Alex Chilton, Guru.
22.04.2010
Stehe auf dem Tunng-Konzert im Gebäude 9 herum. Die Band ist nicht schlecht, aber für meinen Geschmack zu sehr in ihrer ungebrochenen Hippiehaftigkeit gefangen. Doch der Abend bleibt nicht ohne Höhepunkte – deutschem Humor sei Dank. Dies sei ein „brilliant building“, findet Tunng-Sänger Mike Lindsay während einer Ansage und fragt sicherlich freundlich gemeint, wenngleich etwas ranschmeißerisch interessiert, was sich denn früher in diesen Lokalitäten befunden habe.
„A condom factory“, ruft ein Zuschauer in der ersten Reihe nicht ganz unschlagfertig.
Lindsay ist mehr als irritiert.
„It’s not true“, löst ein anderer Zuschauer die Situation nach einiger Zeit auf.
Von diesem Moment an wirkt der Auftritt deutlich gelöster.
23.04.2010
Mein Plan, die Musikindustrie mit dem verstärken Einsatz von 3D-Brillen zu retten, ist gescheitert. Das ist schlimm für mich und die Musikindustrie. Aber ich verzage nicht. Dann rette ich eben die CDU. Mit welch unüberwindbar scheinenden Problemen die Partei zumindest in Nordrhein Westfalen zu kämpfen hat, sieht man hier:
https://www.youtube.com/watch?v=_FPEaWY7BHM
Fragen drängen sich hier auf:
Wer hat der Band den Auftrag zur Produktion dieses Songs gegeben – und warum hat sie zugesagt? Wie hoch war das Budget für den „Videoclip“? Wie heißen die Lieblingsfilme des verantwortlichen Regisseurs?
Dass Jürgen Rüttgers popmusikalisch schlecht beraten ist, ahnte man. Dass es jedoch so verheerend um des NRW-Fürsten Fachkompetenz in Pop-Belangen bestellt ist, dass er ein Lied zu seiner Hymne wählt, das sich anhört, als hätten Pur ein Pausen-Jingle für einen ländlichen Provinzradiosender produziert, erschüttert natürlich. Wie soll dieser Mann denn jemals die Love Parade wieder zurück nach Leverkusen holen? Wie will so ein Ministerpräsident dem Kölner Mundart-Rock wieder zu Auftrieb verhelfen? Wie kann dieser angeschlagene Rüttgers die Zwangsauflösung der Toten Hosen vorantreiben?
24.04.2010
Immer mehr verwirrte Menschen befragen ja inzwischen zur politischen Standort-Bestimmung den sogenannten „Wahl-O-Mat“. Und dann schicken einem plötzlich Menschen mit Hausbesetzerfrisuren und gut kultivierter Tunichtgut-Attitüde Emails, in denen sie verkünden: „Hab‘ Wahl-O-Mat gemacht. Bei mir kam FDP raus!“.
Ich verstehe das mit dem Wahl-O-Mat nicht. Man gibt ja auch nicht als Musikerwerbswilliger im Internet ein, dass man krachige Gitarren und rappelnde Rhythmen mag und lässt sich dann informieren, dass man diesen Eingaben zufolge eine Green Day-CD kaufen sollte. Wobei: Wahrscheinlich machen Menschen solche Dinge.
27.04.2010
Sollte ich wie ein alter Kulturpessimist klingen, so liegt das wahrscheinlich daran, dass ich einer bin. Ich weiß auch gar nicht recht, was so schlimm daran sein sollte. Wo immer Menschen mahnende Worte hinsichtlich allzu unreflektiert angewandter Kulturtechniken sprechen, wird diesen seit einigen Jahren die vermeintliche Schimpf-Vokabel „Kulturpessimist“ hinterher gebrüllt. Ich mag das Wort gar nicht als Schimpfwort begreifen. Da, wo die meisten begeistert klatschen, bin ich gern ein bisschen mürrisch. Mit dem Alter hat das übrigens wenig zu tun. Ich war schon als 12Jähriger kulturpessimistisch.
28.04.2010
Kurz vor Inkrafttreten des Monats Mai weise ich erstmals heuschnupfenartige Symptome auf – und das im hohen Alter von vierzig Jahren! Zwar plagt mich lediglich ein mildes Hüsteln und der Hauch eines Halskratzens – aber immerhin. Hier nun aber gibt es tatsächlich ein Identifikationsangebot aus dem Plattenschrank. Mein liebster Neo-Einstecktuch-Sänger Neil Hannon alias The Divine Comedy hat dem Thema Pollenflug schon vor vielen Jahren ein Lied gewidmet: „Laugh at the tears you’re crying / Smile while your head explodes / You don’t have to take this lying down / So blow your nose, baby“ heißt es in „The Pop Singer’s Fear Of The Pollen Count“. Das ist popmusikalischer Trost von fast Flaming Lip’schen Proportionen. Nicht so ein Lebensberater-Geseiere wie bei Ich + Ich. Also, liebe Leser – tanzen Sie den Pollenflug! Ich tue es auch. Und wenn ich mit dem trotzigen Durchtanzen der Maienblüte fertig bin, recherchiere ich für das „Pop-Tagebuch“ eine komplette Playlist zum Thema Magenschleimhautentzündung. Versprochen.
PLAYLIST:
John Grant – Queen Of Denmark
Gang Starr – „Daily Operation“
Hans Unstern – Kratz Dich raus
Os Mutantes – A Minha Menina (wunderbar wahnsinniges Stück mit famoser Fuzz-Gitarre, das, als es kürzlich auf einer Party lief, mich so begeisterte, dass ich mitten im Satz zu reden aufhörte)
Sniff’n’the Tears – Drivers Seat (Single vom Album „Tickle Heart“; einer der besten Songs des Jahres 1978)
Ariel Pink’s Haunted Graffiti – „Before Today“ (der Lo-Fi-Irre mit einem vergleichsweise polierten Album, aufgenommen in Tito Jacksons ehemaligem Homestudio)
Benedetto Ghiglia – Un dollaro tra i denti (sehr günstig produzierter, aber schwer atmosphärischer Soundtrack zu einem sehr günstig produzierten, aber schwer atmosphärischen Italo-Wetern des Regisseurs Luigi Vanzi mit Tony „Blindman“ Anthony)
New Pornographers – Together (das bislang beste Album dieser sagenhaft guten Band; tolle mitreißende Pop-Hymnen, wie sie so derzeit sonst niemand schreibt)
Umberto Tozzi – Best Of (mio dio, was hatte dieser Mann in seiner Blütezeit für tolle Songs!)
The Divine Comedy – „The Pop Singer’s Fear Of The Pollen Count“
Django Django – MOR/Skies Over Cairo (Debütsingle einer großartigen Irren-Band, die jaulende Synthies, Surf, Spaghetti Western, nachgebastelte Pseudo-World-Music und Psychedelic zu einer unwiderstehlichen Plörre verrührt)