Der Mai bislang:
02.05.2010
Mit vor Erregung bebender Brust betrete ich den Flohmarkt. Mein Begehr ist es, so viele Frühachtziger-Italopop-Platten zu kaufen wie nur irgendmöglich. Der Stand gleich am Eingang verkauft Schnürsenkel. Das trifft sich, denn ich brauche welche. Dann orte ich rasch einen großen Gebrauchtvinylhändler und beginne fiebrig zu wühlen. Der Gebrauchtvinylhändler, ein vollbärtiger Herr mit Truckermütze, hat eine Platte aufgelegt – teilweise wohl um sich selbst bei Laune zu halten, teilweise aber sicher auch um die Kundschaft zum Kauf anzustacheln. Doch die gewählte Musik verwundert: Es läuft „Revolution 9″, jenes acht Minuten und zweiundzwanzig Sekunden währende Collagenmonster der Beatles, das vorletzte Stück auf dem „White Album“, ein charmantes, wenngleich irres Dokument seiner Zeit, aber keine Musik. Phrasenfans würden sicher sagen: „Das Stück hat nichts von seiner verstörenden Kraft eingebüßt“. Damit würden die Phrasenfans zwar arg abphrasen, aber sie hätten tatsächlich recht: Es schliert und hupt, es hämmert, kratzt und eiert; „His stomach was in two that day“, murmeln Stimmen, andere krakeelen irgendetwas von „Satan!“, und alles läuft rückwärts.
Ich wühle tapfer weiter. Gianna Nannini? Hm, nein. Das Frühwerk ist ok, aber ab 1984 hat selbst der selige Conny Plank da nichts mehr reißen können. Wo sind Alan Sorrenti, Umberto Tozzi und Loredana Berté, wenn man sie braucht?
Derweil sind Wellen zu vernehmen, die Stimmen werden immer lauter, jetzt hupt es, und immer wieder taucht in all dem collagierten Akustiktrubel die penetrante „Number 9″-Stimme auf.
Wie soll man denn da Platten kaufen? Andererseits: Ach komm, es sind die Beatles, und außerdem: Ist doch mal was anderes, so etwas auf dem Flohmarkt zu hören. Besser jedenfalls als das übliche Funk-Getüddel oder „Miss You“ von den Stones. Ich wühle weiter, finde nichts. Überhaupt finde ich nichts Interessantes, weil ich vollkommen damit beschäftigt bin, fasziniert den neben der Box lehnenden Plattenverkäufer zu beobachten, der nicht auf die Idee kommt, die Platte zu wechseln.
Irgendwann ist das Stück vorbei. Wie immer, wenn irgendwo das „White Album“ läuft, folgt auf „Revolution 9″ das schöne – mindestens ebenso Beatles-untypische Crooner-Stück „Good Night“. Doch was macht der Plattenverkäufer: Just in dem Moment, in dem die satten Geigen einsetzen, geht er zum Plattenspieler und nimmt die Platte herunter!
Ich verlasse verwirrt den Flohmarkt. Ohne Platten, nur mit zwei paar Schnürsenkeln.
03.05.2010
Ich folge dem Ruf der 56. Internationalen Kurfilmtage nach Oberhausen, wo ich als Mitglied der MuVi-Jury aus zwölf deutschen Musikvideos das Beste auswählen soll. Was ich sehe, macht mich ratlos.
Im Vorfeld hatte mich noch die Sorge geplagt, dass es sich bei meinen Mit-Juroren um ausgewiesene Visual Arts-Experten handeln könnte, die bei jeder Retro-Computergrafik, jeder grobkörnig abgefilmten Schlierenbewegung und jedem Para-Avantgardismus vor Begeisterung aus dem Sessel fallen würden. Zwar handelt es sich bei der Kuratorin Carine le Malet und dem Videokünstler Lillevan tatsächlich um ausgewiesene Visual Arts-Experten, aber die beiden sind lustig und haben keinerlei Interesse an prätentiösen Quatsch.
Vor der Sichtung der zwölf deutschen Beiträge sehen wir im prall gefüllten großen Kino einen Haufen internationaler Musikvideos, die von der Festivalleitung für besonders aufsehenerregend gehalten werden. Während ich früher berufshalber fast täglich stapelweise Musikvideos sichten musste, ist mein Interesse an dieser Kunstform in den letzten Jahren arg zur Ruhe gekommen, aber viele der gezeigten Filmchen sind tatsächlich so gut wie die besten Arbeiten von 2001 oder 2002, einer Zeit, die ich hier mal leichthin als Blütephase des Musikvideos bezeichnen möchte. Besonders gut gefallen mir an diesem Nachmittag Stépahnie di Giustos Video zu Jarvis Cockers „Further Complications“ (was jedoch in erster Linie daran liegt, dass ich Jarvis Cocker sehr gerne sehe; ich würde dem Mann sogar beim Rasenmähen oder beim Verzehren von Reibekuchen zuschauen). Auch der Massive Attack-Clip zu „Paradise Circus“, für den der Regisseur Toby Dye Ausschnitte aus dem 70er-Porno-Klassiker „The Devil In Miss Jones“ und ein Interview mit der inzwischen 73jährigen Hauptdarstellerin Georgina Spelvin kombiniert hat, weiß zu gefallen. Mein Favorit bleibt aber das ohnehin ja schon von jedermann gepriesene OK Go-Video „This Too Shall Pass“, das Fischli und Weiss auf die Flaming Lips treffen lässt. Wenn Sie sich in diesem Leben noch einen Gefallen tun wollen, dann mieten Sie ein Kino und schauen Sie sich auf großer Leinwand dieses Video an. Es könnte sein, dass Sie lächeln müssen.
Der Großteil der deutschen Videos, die wir danach zu Bewertungszwecken auf einem kleinen Fernsehgerät in dem Büro des Festivalleiters sichten, lässt jedoch Ödnis in mir emporschwappen. Ich bin mir sicher, dass von den kundigen Oberhausenern aus all den Einreichungen tatsächlich die besten Videos ausgewählt wurden. Bloß muss der Rest der Clips demnach noch weitaus schlechter gewesen sein: Man darf wohl von einer Krise sprechen. Manche der von uns begutachteten Filmlein wirken in ihrer eitlen Freudlosigkeit fast schon wie eine Parodie auf besonders langweilige Videos aus dem letzten Jahrzehnt. Ich sehe flatternde Laken und Tücher, neben denen man eigentlich nur noch Parfüm-Flacons einblenden müsste, gefolgt von vulgär-ironischen Tanzvideos mit ungelenken schnurrbärtigen Mattenträgern, wie sie zu Belustigungszwecken heute ja in jeder Softdrink-Werbung vorkommen. Ich erlebe Schwaches vom sonst immer verlässlichen Schorsch Kamerun, pseudo-pychedelischen Computertrash und technisch vermutlich hochinteressanten pseudokünstlerischen Deko-Käse.
Ich weiß, ich bin ein einfacher Mann von schlichtem Geschmack, aber wenn ich mir ein Musikvideo ansehe, will ich entweder gut und schillernd inszenierte Musiker sehen oder ich möchte der Umsetzung eines einfachen, aber präzisen Einfalls beiwohnen, über dessen Irrsinn ich immer wieder staunen kann (das OK Go-Video hat beides; Bob Dylans „Subterannean Homesick Blues“ auch). Am Schluss einigen wir uns mit Ach und Krach auf drei Videos, wobei der Gewinnerfilm, Sönke Helds Video zum Felix Kubin-Song „Lightning Strikes“, so steil aus der Masse emporragt wie eine verschonte Kathedrale aus einer bombardierten Großstadt.
05.05.2010
Ich bin völlig entflammt für die neue HBO-Serie „Treme“, deren erste Folgen mir über dunkle Kanäle zugespielt wurden. Komme ich jetzt ins Gefängnis? Werde ich ab sofort beobachtet? Wen muss ich wählen, um solches abzuwenden?
„Treme“ spielt im Post-Katrina-New Orleans des Jahres 2005 und erzählt anhand zahlreicher ineinander verschränkter Geschichten von den Sorgen und Nöten, mindestens ebenso sehr aber auch von den Freuden und Torheiten der Einwohner dieser Stadt. Es geht ums Weitermachen, um das große Jetzt-erst-recht, und natürlich ist „Treme“ durchdrungen von Musik: Dr. John taucht auf, ebenso wie Allen Toussaint, natürlich auch der unvermeidliche Elvis Costello. Was aber viel mehr beeindruckt, ist, wie viele der mal wieder großartig aufspielenden Schauspieler ebenso phantastische Musiker sind: Es wird posaunt und getrommelt, klaviergeklimpert und gefiedelt, dass selbst in rheinischen Wohnzimmern die Voodoosuppe überkocht.
„Treme“ ist trotz der Schwere des Themas angenehm unpathetisch, was sicherlich nicht zuletzt dem ausführenden Produzenten und Mitschöpfer der Serie, David Simon, zu verdanken ist, dem Mann, der uns schon die brillante Cop-Serie „The Wire“ schenkte. Aber auch der leider kurz vor Serienstart verstorbene Autor und Mitproduzent David Mills (ebenfalls schon bei „The Wire“ dabei) dürfte seinen Teil zum Gelingen beigetragen haben.
„Treme“ ist – obwohl durchaus ein wenig zugänglicher – ähnlich frei von selbstzweckhaften Stilismen, Kitsch und falscher Versöhnlichkeit, platzt aber geradezu vor großartiger Charaktere und feiner Charakterstudien.
Durch „Treme“ habe ich nun tatsächlich auf meine alten Tage noch das New Orleans’sche Soul/Jazz-Gebräu entdeckt: wieder eine Welt, in die man sich hemmungslos ganztägig hineinsteigern könnte, wenn es nicht ständig so wichtige Dinge wie Steuererklärungen, Autoinspektionen oder Arztbesuche zu erledigen gäbe.
06.05.2010
Stehe auf dem Delphic-Konzert im Kölner Gebäude 9 herum und ärgere mich. Und dass nicht nur, weil das Konzert viel zu laut ist. Womöglich ist es das lauteste Konzert, auf dem ich mich je gelangweilt habe.
Würden Delphic gute Musik machen, wäre das mit der Lautstärke womöglich auch gar nicht so schlimm. Aber Delphic sind ziemlich ärgerlich. Weil sie nichts, aber rein gar nichts auszeichnet als kühle Professionalität, strammer Pop-Karrierismus und kreative Abgebrühtheit.
Bands klauen. Das ist normal und schön und richtig. Nervig wird’s bloß, wenn eine Band komplett die Ästhetik einer anderen Band übernimmt und diese mit modernen Mitteln und einem strategischen Blick auf die Tagesradionutzbarkeit aufbläst. Delphic ist der vorzeitig überprofessionalisierte Neuaufguss dessen, was New Order schon vor Ewigkeiten gemacht haben. Wie gesagt: Wenn Sie ihren New Order-Tanzpop mit, sagen wir, flämischem Speed-Reggae und Comedian Harmonists-Elementen kreuzen würden, wäre ja alles in Ordnung. Aber sie spielen bloß New Order nach – allerdings ersetzen sie deren eigentümlichen Charme durch öde Technik. Sie verfeinern auch nicht, wie das beispielweise Teenage Fanclub auf ihren besten Platten mit der Musik Big Stars taten.
Und so steht man da, langweilt sich und nickt mit zur lautesten Snare-Drum der Welt. Die Musik funktioniert – aber bloß, weil etwas funktioniert ist es nicht gut.
12.05.2010
Die New Pornographers haben mich im Jahr 2007 eiskalt erwischt. Einer meiner ersten Schreibjobs für die FAZ hatte mich damals auf das Kölner Konzert der Band geführt. Eigentlich war ich beauftragt, über den Auftritt des Hauptacts, The Fiery Furnaces, zu schreiben (die mir jedoch ein wenig zu furchteinflößend waren, um mich wirklich zu beeindrucken, wobei die Band über eine nicht zu leugnende Bühnenpräsenz und die Sängerin über eine gute Frsiur gebot). Die New Pornographers aber, von denen ich zu diesem Zeitpunkt nur einen Song kannte, hinterließen mich völlig begeistert.
Wer die Kanadier nicht kennt: Die New Pornograhers klingen in etwa, als wäre Abba eine Powerpop-Band mit seltsamen Texten. Die Band ist einigermaßen merkwürdig konstruiert: Eigentlich handelt es sich um ein Allstar-Kollektiv ohne echten Star am Bühnenrand, was nicht zuletzt daran liegt, daß das prominenteste New Pornographers-Mitglied, die Sängerin Neko Case, bei internationalen Live-Auftritten nicht dabei ist. Die Rolle des Frontmanns kommt bei Konzerten somit klar dem eher etwas blassen Hauptsongschreiber Carl Newman zu. Doch die mangelnde Präsenz macht der Mann durch Kompositionen wett, die so wendungs- und fintenreich sind, daß man niederknien möchte (der Mann nennt Menschen wie Bacharach als Einfluss, macht aber nicht den klassischen Fehler, dessen Klangästhetik pasticheartig nachzustellen, vielmehr überführt er dessen songschreiberische Eleganz in einen ganz anderen Rahmen). Die Neko Case-Parts wiederum werden live von Newmans Nichte, der famosen Kathryn Calder gesungen. Neben Newmans Songs, die in mir ganze Collegeparties ausbrechen ließen, war es wohl vor allem diese Frau, ihr Gesang und ihr hingabevolles Keyboardspiel und Schellenkranzgerassel, das mich an jenem Abend so unverhofft beglückte.
Die neue Platte der New Pornographers ist ihre bislang beste, und das hat einen etwas langweiligen technischen Grund: Die Songs waren ja schon immer gut, aber für „Together“ wurden die Stimmen von Newman und Case, die sonst immer etwas zu sehr im Gesamtsound eingebettet waren (was bisweilen für milde Anonymität, für ein Verschwinden der Sänger hinter ihren Liedern sorgte), im Mix prominenter nach vorne gemischt. Der Effekt ist, daß die Stücke den Hörer nun förmlich anspringen.
Meine Best Of-New Pornographers-Datei jedenfalls ist um etliche Songs praller geworden. Wer sich die Band live anschauen will, kann das am 21. Mai in Berlin und am 22. Mai in Hamburg tun. Köln muss leider weinen. Aber das Album hilft gegen fast alle Daseinstrübnisse und benetzt noch das älteste Knittergewelk mit einem guten Guss aus der Kanne der ewigen Jugend.
17.05.2010
Im Stammcafé läuft Musik. Meist ist in dem charmant geführten Laden äußerst Ohrschmeichelndes zu hören, sonst könnte ich hier nicht meinen Kaffee trinken. Heute aber läuft Röyksopps „Happy Up Here“. Ich glaube, ich kenne kein nervenderes Popstück der letzten zehn Jahre als Röyksopps „Happy Up Here“. Lena Meyer Dingsbums‘ „Satellite“ erscheint im Vergleich wie ein geheimnisvoll schimmernder Lied-Diamant. Daß der Rökysopp-Song so nervt, liegt sicherlich auch daran, dass das Stück von deutschen TV-Redakteuren nahezu allen Bildstrecken, in denen Menschen beim Kochen, beim Snowboarden, beim Straßeentlanggehen und beim Von-der-Schaukel-fallen zu sehen sind, unterlegt wird. Mancher mag einwenden, dafür könnten Röyksopp ja nichts. Doch, sie können! Denn Röyksöpp machen Bildstreckenunterlegungsmusik unterster Latrine.
Röyksopps Musik hat die brüllend dämliche Aura eines Party-Events für Zahnärzte mit Niedlichkeitsfetischismus. Röyksopp ist Air für Modeopfer. Ich habe eben mal geschaut, ob sie vielleicht wahnsinnig tolle Musikvideos machen. Eher nicht.
PLAYLIST:
Harlem – Hippies (das zweite Album einer tollen jungen Band aus Arizona: famos scheppernder, dabei aber melodietrunkener Garagen-Pop, wie geschaffen für hysterische WG-Parties)
Jonathan Richman & The Modern Lovers: „Pablo Picasso“ (Niemand sang je besser durch die Nasennebenhöhlen – und dann auch noch über Picasso)
Graham Parker – Imaginary Television (neues Album eines alten Helden, locker eines seiner besten; Parker ist die etwas zünftigere, süffigere Version von Nick Lowe, aber das war er ja immer schon)
Talking Heads – Little Creatures (mal wieder rausgekramt; gilt ja nicht als ihr Meisterwerk, ist mir in seiner fast strengen Poppigkeit aber lieb und teuer)
Danger Mouse – „Revenge“ (der Eröffnungstrack des kommenden Albums feat. Wayne Coyne)
Luke Haines – 21st Century Man (Englishness auf Stelzen; enthält Songs mit Titeln wie „Peter Hammill“ und „Klaus Kinski“)
Violent Femmes – Hallowed Ground/The Blind Leading The Naked (Gemeinhin wird ja immer das Debüt gepriesen; diese beiden Platten sind mindestens genau so gut!)
John Boutté – „Treme Song“ (Das Titelstück der Serie)
Mink DeVille – „Spanish Stroll“
Ennio Morricone – Indagine Su Un Cittadino Al Di Sopra Di Ogni Sospetto (Ein böser, tickender Thriller von Elio Petri mit dem tollen Gian Maria Volonté; Morricones Musik lädt, wie so oft beim Meister, die Geschehnisse mit einer ganz eigentümlichen Mischung aus Kühle, Spott und Schwelgerei auf).