12.06.2010
Ich bin zum sechzigsten Geburtstag meines Verlegers Helge Malchow eingeladen. Ich kenne Helge Malchow weder gut noch lange, aber man muss mit diesem Mann nur mal ein paar Worte gewechselt haben, um zu merken, daß man hier einen ausgesprochen wachen, neugierigen und zudem herzlichen Menschen vor sich hat. Einen, wie er im hiesigen Kulturbetrieb nicht an jeder Ecke herumsteht.
Malchow hält vor seinen etwa zweihundert Gästen eine charmante und tugendhaft kurze Rede, danach wird gegessen. Und Musik spielt auch. Das erste Stück, das nach Malchows Rede erklingt, ist „Girl From The North Country“, jenes einzige regulär veröffentlichte Duett von Bob Dylan und Johnny Cash. Ich lasse erstmal ein paar andere Schriftsteller, über die ich schon viel gelesen habe, ans Buffet gehen, und erst nachdem einige Hochkaräter ihre Teller beladen haben, gehe auch ich los. Als ich zu meinem Platz zurückkomme und mein Besteck auf die gedünsteten Bohnen hernierdersausen lasse, setzt Johnny Cashs „Hurt“ ein. Der Geburtstags-DJ hat echt Nerven!
Erfreulicherweise wird die Live-Musik des Abends von Malchows Namensvetter Helge Schneider und Chili Gonzales bestritten. Schneider sagt auch ein paar kurze Worte: Es werde am späteren Abend noch einige Entlassungen geben, aber drei Mitarbeiter könnten gehalten werden.
Später wird Helge Malchow das Hauptgeschenk überreicht. Ein gebundenes Buch (und die dazugehörige E-Book-Fasung) mit „Texten zum Helge“, wie es im Untertitel heißt. Alle Autoren des Verlags haben darin einen Text über ihren Verleger verfasst. Alle außer mir. Das liegt daran, daß ich, als die Anfrage eintrudelte, soviel zu tun hatte, daß ich nicht dazu kam. Natürlich ärgere ich mich, es ist mir auch etwas peinlich. Aber ich bin kein Bestseller-Autor, ich bin Arbeiterklasse. Ich muss dauernd arbeiten.
Im Zuge des Darbietungsteils kommt wieder Dylan zum Einsatz: Drei Damen singen „Forever Young“, ich bin gerührt. Auch Maxim Biller sprechsingt einen seiner schönen mürrischen Texte, aber das ist nicht ganz so überraschend, denn das hat er ja schon mal auf einer ganzen CD getan. Einer CD übrigens, auf der sich die famose Zeile „Lost In Translation ist kein Film“ findet.
Später, Schneider und Gonzales spielen inzwischen Tanzmusik, werde ich Frank Schätzing vorgestellt. Die vorstellende Dame deutet Schätzing (der heute mal keine Claudia Carpendale-Glitzerjacke trägt) an, daß ich ein Buch über Musik geschrieben habe. Was er denn so geschrieben hat, sagt sie nicht.
Schätzing ist freundlich. Er lässt den Blick einmal über die zu Schneiders ruppigem Swing umherfedernden Tänzer gleiten und sagt dann so etwas wie „Musik ist ja auch das Wichtigste, das begleitet einen das ganze Leben“. Da hat er definitiv Recht.
18.06.2010
Ich fahre mit dem ICE nach Berlin, um von dort aus mit Arcade Fire zu telefonieren. Die Reise ist erforderlich, weil das neue Album jedem Journalisten auf Ansage des Band-Managements nur im Büro der Plattenfirma am Computer vorgespielt werden darf. Und zwar nur ein einziges Mal! Vermutlich, damit sich ja keiner die Songs merkt und eigenhändig in der nächstbesten Fußgängerzone mit Akustikgitarre und Rückentrommel öffentlich aufführt.
Kaum in Berlin angekommen stelle ich fest, daß alle jungen Männer gerade aussehen wie die Band The Drums: 1982er-New-Pop-Haare und Hochwasserhosen. Aracde Fire dagegen sehen mit ihren Westen, Langhandschuhen und Off-Theater-Klamotten ja aus wie Berliner Jugendliche circa 1988.
Eigentlich mag ich ja keine „großen“ und „wichtigen“ Bands. Aber die Schnürstiefelmusik von Arcade Fire berührt mich tatsächlich. Und das neue Album „The Suburbs“ ist ziemlich großartig: ein langes, sich bald steigerndes, bald einbrechendes Riesenwerk. Mit dieser Band über den Bedeutungsverlust der Kunstform „Album“ zu sprechen, wäre wohl so – man möge die sehr zeitgeistige Fußballreferenz entschuldigen – wie Diego Maradona die Lächerlichkeit des Ballspiels nahebringen zu wollen.
Über dem Raum in der Berliner Cityslang-Zentrale, von dem aus ich mit Win Butler und Régine Chassagne spreche, liegt eine Kampfsportschule. Das hat zur Folge, daß während des gesamten Interviews oben Leiber auf den Fußboden knallen und schweres Ächzen zu vernehmen ist. Auf der Rückfahrt höre ich das mitgeschnittene Interview im Zug über Kopfhörer ab und muss beim Abtippen immer wieder lachen. Ich weiß, was meine Mitreisenden denken. Meine Mitreisenden denken: „Ah, da sitzt uns wohl der Typ gegenüber, der immer die Texte für die neuen Bühnenprogramme von Cindy aus Mahrzahn abtippt. Na ja, auch ein Beruf.“
23.06.2010
Das Eröffnungskonzert der c/o-Pop in Köln wird von Deutschlands smartester Kuschelband Klee bestritten. Den Höhepunkt erreicht das Konzert, als Sängerin Suzie Kestgens den Wedding Present- und Cinerama-Kopf David Gedge auf die Bühne bittet und zwei Lieder mit ihm darbietet. Beim zweiten Song spielt der Mann dann auch seine unkopierbare herrlich daherschraddelnde David Gedge-Gitarre, und alle im Publikum herumstehenden Indierock-Greise schütteln vor fassungsloser Rührung den Kopf.
25.06.2010
Branded Entertainment und Event Placement macht’s möglich:
Die Mädchenmusiker Phoenix spielen unter dem Banner der c/o-Pop einen so genannten street gig, organisiert von einer Telekommunikationsfirma. Der Großteil der Tickets wurde verlost, und so stehen am Abend etwa 2000 glückliche Abi-2005-ler in Sonnenuntergangslaune auf einem Kölner Parkhausdach mit Domblick herum.
Schon nach kurzer Zeit schwanken Bühne und Parkhausdach so sehr, daß mildes Unwohlsein aufkommt. Doch es liegt auch am Rahmen, daß das Konzert eine etwas uneuphorische Sache bleibt: Wenn auf einer Veranstaltung so sehr der Druck lastet, doch bitteschön ein unvergessliches Ereignis werden zu müssen, (Phoenix! Draußen! Auf einem Dach!! Mit Domblick!!! Und SONNENUNTERGANG!!!!) hat es die arme Tante Wirklichkeit natürlich schwer.
Nach dem Konzert lande ich im King Georg, wo ich in einen Auftritt des famosen, retrospektiv orientierten Soulpop-Musikers Xantone Blacq stolpere. Der Mann spielt nur mit einem Bassisten und einem Schlagzeuger, aber was die drei hier veranstalten, wird für mich wohl der Höhepunkt der diesjährigen c/o-Pop bleiben.
26.06.2006
Beim Spex-Abend lerne ich mal wieder (ähnlich wie bei The Drums, s. letzter Blog-Eintrag) die süßen Wonnen des Hin- und Hergerissensseins zu schätzen. Nach den rührenden OMD (die allen Ernstes mit „Maid Of Orleans“ anfangen!) und Caribou, die klingen wie „Piper At The Gates Of Techno“ spielt die Band Bonaparte, jene Gruppe, auf die sich gerade alle Auskenner, Szene-Trinker, Internet-Krakeeler und Lena Meyer-Raab einigen können. Alles erwartet Krawall und Unfug, und es gibt natürlich auch Krawall und Unfug. Aber ordentlich durchgeprobten Unfug. Wer noch nie auf einem Bonaparte-Konzert gewesen ist, der stelle sich vor, die Bloodhound Gang sei in eine intellektuelle Phase eingetreten und kombiniere New York-Indie mit burleskem Kostüm-Firlefanz samt Blut und Brüsten.
Für eine Viertelstunde sind Bonaparte recht packend. Irritierenderweise klingt die Band – die auf Platte einen eckigen Wohnzimmer-Elektro-Punk spielt – live ein wenig überprofessionell. Der ganze schöne Irrsinn ist perfekt getimed, geprobt und inszeniert („Natürlich“, mag mancher dazwischenrufen), und die Band klingt fast nach Headliner auf der Rock am Ring-Alternastage.
„Hauptstadt-Hipster-Musik für Rage Against The Machine-Fans“, könnte man am Ende, als alle blutbeschmierten halbnackten Krankenschwestern von der Bühne geschwankt sind, böse sagen, aber wer würde schon so etwas sagen? Was sind das denn bitte für Menschen, die solche Sachen sagen??!
27.06.2010
Ach, Superpunk! Wie gerne ich diese Band doch habe. Alleine schon für den besten deutschen Politsong aller Zeiten, „Neue Zähne für meinen Bruder und mich“: So und nicht anders kann man über soziale Missstände singen.
„Die Seele des Menschen unter Superpunk“ heißt das neue Album, und wieder gibt es darauf attitüdenprallen, verletzlichen, aber wunderbar nonchalanten Mod/Garagen-Pop. „Das waren Mods“ nölt der begnadete Nichtsänger und Spitzentexter Carsten Friedrichs wehmütig der einzig akzeptablen Jugendbewegung hinterher. Schon einen Song drauf huldigt er der Bibliothek als ultimativer Tankstelle für Erbauung, Trost und Aufrüttelung: „Die Dancer, die Lover, die Surfer am Meer / Ich beneide sie schon, aber nicht so sehr / Denn ich hab die Bibliothek“.
So lange diese Band weiter die Kinks-Gitarren röhren und die Orgeln schmoren lässt, muss man sich um die Zukunft der deutschen Mod-Kultur keine Sorgen machen.
28.06.2010
In der Juni-Ausgabe des Rolling Stone gab es ein ausgesprochen langweiliges Interview mit Michael Ballack zu lesen. Wer wirklich mal in fortgeschrittene Sphären der Ödnis vordringen will, dürfte hier fündig werden. Ich mag den deutschen Rolling Stone sehr gerne und finde die Idee, mit Nicht-Musikern über Popmusik zu sprechen nicht gänzlich uninteressant. Allerdings scheinen mir FDP-Politikerinnen und Mittelfeldspieler, die wirklich nichts zum Thema Musik zu sagen haben, eher ungeeignet für derlei Gespräche zu sein.
Im Rahmen des Artikels gibt es auch einen Kasten, in dem etliche Nationalmannschaftsspieler ihren Lieblingssong, ihre erste Platte und den Popstar, den sie gerne einmal treffen würden, auflisten. Auch diese Liste ist nicht sonderlich ergiebig und zeigt mal wieder, wie flach der Popball im deutschen Kickbetrieb immer noch gespielt wird: Die meisten mögen Die Atzen, U2, die Black Eyed Peas und Michael Jackson. Immerhin nennt niemand mehr Peter Maffay, der noch um 1990 die popmusikalische Ikone unter deutschen Fußballspielern war.
Nur der Beitrag eines Spielers verblüfft wirklich: Philipp Lahm. Auf die Frage, wen sie denn gerne mal treffen würden, antworten die meisten deutschen Spieler: Rihanna, Fergie oder P. Diddy. Philipp Lahms Antwort jedoch knallt völlig raus: Philipp Lahm möchte gerne mal Rainhard Fendrich treffen!!! Was für eine exzentrische Wahl. Ich stelle mir vor, wie eine wallehaarige Fee vor Philipp Lahm auftaucht, ihn fragt, wen er denn gerne mal treffen würde, und all seine Mitspieler händeringend abwechselnd „Rihanna!“, „Obama!“, „Thomas Pynchon!“ oder „Sasha Grey!“ brüllen. Philipp Lahm aber – oder wie es sportberichterstatterisch ja automatisch heißen muss: der kleine Philipp Lahm – wählt wie der seelenreinste Walton-Boy auf Erden Rainhard Fendrich. Ich finde das sympathisch: Jemand, der sich solches wünscht, muss sich wohl, anders als seine R’n’B-lüsternen Kollegen, ernsthaft für Musik interessieren.
Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn jemand Philipp Lahm vor Jahren mal eine Superpunk-Platte in den Turnbeutel gesteckt hätte. Dann wäre Deutschlands heute wohl nicht im Viertelfinale, denn womöglich säße Lahm in der Bibliothek. Oder würde im engen Anzug zu Xantone Blacq umherzucken. Gottlob sind, um meine liebe Mutter zu zitieren, die Geschmäcker verschieden. Jedem das Seine. Es lebe der Sport! (Reinhard Fendrich)
PLAYLIST
Arcade Fire – „The Suburbs“ (der Titelsong des neuen Albums; stand oder steht vorab irgendwo an jenem Ort rum, den die Leute das Internet nennen)
Jaill – „That’s How We Burn“ (gute neue Gitarrenband auf Sub-Pop: swingend, treibend, hochmelodisch, nichts Neues, aber nur Langweiler brauchen Neues)
Mike Patton – „Mondo Cane“ (Ha! Der mir immer etwas suspekte Schlawiner Mike Patton covert mein absolutes Lieblingsgenre, den Italo-Schlager, und macht auch noch ein tolles Album draus! U.a. mit Versionen von „Un cielo in una stanza“ und Morricones „Deep Down“)
Ariel Pink’s Haunted Graffiti – „Round and Round“ (nach seinem Wahnsinns-Konzert im King Georg mag ich den Bekloppten noch lieber; dies ist sein bester Song vom neuen Album)
Texas Tornados – Esta Bueno (Augie Myers und Flaco Jiménez lassen es mit Doug Sahms Sohn noch mal ordentlich krachen; da schwappt der Bohneneintopf über. Wie singen sie selbst: „They don’t make em like I like `em anymore“)
Doug Sahm – The Genuine Texas Groover (auch wieder rausgeholt)
Camper Van Beethoven – Telefone Free Landslide Victory (noch mehr Tex-Mex-Quatsch. Das beste Album dieser glorreichen Band mit vielen famosen Border Ska-Instrumentals zwischen den Indie-Hits).