Der Sommer welkt, die Seen vertümpeln: Ein guter Zeitpunkt für ein Comeback!
15.07.2010
Sich als sogenannter Musikkritiker über den Geiger David Garrett aufzuregen, ist ja in etwa so, als schnallte man einen besonders enervierenden Spatz auf eine Zielscheibe und schösse aus einem Meter Abstand mit der sprichwörtlichen Kanone auf ihn. Allerdings könnte ich tatsächlich Rachegefühle hegen, denn ich verdanke David Garrett einen der schlimmsten Abende der letzten Jahre. Es muss Anfang 2009 gewesen sein – ich schreibe in meinem Buch ausgiebiger darüber – da besuchte ich mit meiner lieben Mutter ein Konzert des blondbezopften Fiedlers. Mutter hatte nach einem Talkshow-Auftritt des Mannes Gefallen an seiner „Natürlichkeit“ gefunden, und so hielt ich es für eine sagenhaft gute Idee, mit ihr auf ein Konzert des Guinessbuch-Rekordhalters im Schnellgeigen des Hummelflugs zu gehen. Ich hätte es besser wissen müssen. Denn Garrett tut drei Dinge, die man dringend bleiben lassen sollte: 1. Er spielt Klassikstücke im Rockgewand. 2. Er spielt Rockstücke im Klassikgewand. 3. Er bezeichnet das Ganze allen Ernstes und ohne sich zu übergeben als „Crossover“. Und so geigte und geigte Garrett an jenem Abend unablässig grinsend alles in Grund und Boden. Er geigte „Thunderstruck“, er geigte Vivaldi, er geigte Queen und er geigte noch manch anderes. Es war schlimm.
Heute nun treffe ich ihn zum Interview für ein Magazin. Als ich seine Suite betrete, steht er mitten im Raum – und geigt. Daß der Mann gerne Violine spielt, stand zu vermuten. Daß er aber so besessen ist, daß er selbst zwischen den dreißigminütigen Interviews spielen muss, hatte ich nicht erwartet. Und so lässt er mich erstmal eine Zeitlang im Raum stehen und geigt in Ruhe zu Ende. Hier nun hätte ich wohl etwas sagen können. Aber eine Konfrontation oder gar eine Anklage kommen für mich nicht in Frage. Ich finde Künstler dürfen sich seltsam, ja, sogar unhöflich verhalten, selbst wenn es geckenhafte Geiger sind. Wer von einem Künstler Anstand erwartet, darf sich nicht wundern, wenn er bald nur noch Musik von „netten“ Menschen wie den Sportfreunden Stiller oder Madsen hören muss. Ich sehe also davon ab, Garrett anzupampen – weder für sein Geigen hier und jetzt, noch für den verkorksten Abend mit meiner Lieblingsverwandten. Zumal unser heutiges Gespräch ein klar abgestecktes Thema hat: seinen Vater, einen gelernten Jurist, der Garretts Talent nicht ohne Strenge förderte und ihn sogar eine lange Zeit vermarktete. Und so lautet meine erste Frage an ihn: „Herr Garrett, wenn Ihr Vater ein Musikstück wäre, welches Stück wäre er wohl?“. Garrett grinst: „Die 5. Sinfonie von Beethoven“. Und er erläutert… Tatsächlich unterhalten wir uns von diesem Moment an eine halbe Stunde ganz angeregt über Väter. Ich würde das jederzeit wieder tun, denn Garretts Ausführungen sind klug, reflektiert und weisen ihn als sensibles Wesen aus. Seine Musik bleibt trotzdem ein Verbrechen.
Draußen vor dem Hotel, muss ich an meinen Vater denken. Mein Vater war Musiker, er spielte auf Hochzeiten und Geburtstagen Orgel und Akkordeon. Ohne ihn würde ich mir die Welt wohl kaum so sehr mit Musik erklären. Wenn mein Vater ein Musikstück gewesen wäre, dann wäre er „Red Roses For A Blue Lady“ gewesen.
18.07.2010
Vor ein paar Tagen belauschte ich das Gespräch zweier Herren, in dem der eine den anderen fragte, wann denn mal wieder so ein richtig toller „Mod-Weekender“ stattfände. Die Herren waren jenseits der Vierzig und gar prachtvoll wölbten sich ihre Bäuche über dem Hosenbund. Ich habe daraufhin rasch die fiktive Band „Dicke Mods“ gegründet. Das Gründen fiktiver Bands ist für mein Leben enorm wichtig, es ist dies ein kathartischer Akt. Andere Bands, die ich gegründet habe, sind das Neuköllner Elektro-Duo „Die Flausen“, die Death-Metal-Formation „Talg“, die Kölner Mundart-Stimmungskapelle „Ömmel“ und die Skin-Band „Glockengeloit“. Und falls Sie jemals von einem Hamburger Singer/Songwriter mit dem Namen „Hermes zu Erbrechtsherfers & die Entgegnung“ hören – das bin auch ich!
20.07.2010
Mein persönlicher Sommerhit 2010 ist Justin Curries „A Man With Nothing To Do“. Ein Stück, so klug und schön, dass ich ihm täglich Altäre errichten könnte! Auch das dazugehörige Album habe ich in den vergangenen sechs Wochen so oft gehört wie kein Zweites. Currie ist der ehemalige Sänger der Band Del Amitri, mit der ich nie viel am Hut hatte. Sein Album „The Great War“ aber hat mich in diesem Sommer bei allem begleitet: beim Heulen, beim Zähneknirschen, bei der Ratlosigkeit, aber auch bei all den schönen Sachen zwischendrin. Wenn ich diese Platte nicht gehabt hätte, ich wäre vermutlich in meine Einzelteile zerfallen.
Bevor nun jemand falsche Erwartungen hat: Im Grunde ist es ganz altbackener Radiorockpop, den Currie macht; ich nenne das allerdings anders, ich nenne das Jacketträger-Songwritermusik. Der eben erwähnte Album-Opener etwa hat das Kaliber von Lloyd Coles Neunziger-Hit „Like Lovers Do“: Eine charmante, von hübschen Harmonien umspielte Jinglejangle-Melodie und darüber ein lebensweiser Text mit Tendenz ins mild Depressive. Ich habe keine Ahnung, ob solche Musik heute noch Freunde hat. Wenn ich dieser Tage allerdings ein Album von Herzen empfehlen kann, dann ist es Justin Curries „The Great War“.
22.07.2010
Der neue Rolling Stone liegt im Briefkasten. Dem Heft beigefügt ist die neue CD von Prince. Eine bisweilen sehr lustige Platte, klingt sie doch stellenweise wie ein größenwahnsinniger Prince-Parodist mit Rädern untendran. Im Heft protokolliert der tolle Joachim Hentschel seinen Besuch bei dem Musiker im Paisley Park zu Minneapolis. Es ist ein wunderbarer Artikel: klug und respektvoll, dennoch prall an wirren Zitaten und schönen Schnurren.
Mir fällt wieder meine Begegnung mit Prince im Jahr 1999 ein. Damals betreute ich ein Interview für einen Musikfernsehsender, das in den Studios eben dieses Senders produziert wurde. Außer uns wurde nur noch Roger Willemsen ein Interview gewährt, der damals eine ZDF-Sendung mit dem fetzigen Namen „Willemsens Musikszene“ moderierte. Zum erwarteten Ankunftszeitpunkt des Musikers hatte so ziemlich jeder beim Sender Beschäftigte plötzlich im Studiobereich zu tun: Man verlegte sinnlos Kabel, fotokopierte Blätter, prüfte den korrekten Zustand der Sitzmöbel oder reparierte die Studio-Kaffeemaschine – alles nur um einen Blick auf das Genie zu erhaschen (Prince, nicht Willemsen!). Als Prince kam, musste ich zweierlei feststellen. Erstens hatte er so viele baumhohe Bodyguards dabei, dass er beim eiligen Durchhuschen der Studioräumlichkeiten von all den angestrengt Scheinarbeitenden kaum erblickt werden konnte. Zweitens war er in ein lila Geschmeide gewickelt, das aussah wie ein aus Wühltischware eilig zusammengenähter Zauberanzug zur Kinderbelustigung.
Willemsen war zuerst dran. Doch gleich mit seiner ersten Frage verärgerte er den Mann, den man damals The Artist Formerly Known As Prince nennen musste. Willemsen wollte sinngemäß wissen, welche Musik man wohl im Himmel höre. Woher er das denn wissen solle, kam es patzig zurück, nächste Frage! Uns, die wir draußen am Monitor das Interview beobachteten, brach der Schweiß aus: Beim heiligen Tafkap! Der Künstler hat schlechte Laune. Auch die weiteren Fragen Willemsens kamen nicht allzu gut an. Nach ein paar weiteren Versuchen riss Prince dem verdutzten Interviewer plötzlich den Zettel aus der Hand und machte sich über die restlichen Fragen lustig.
Wir hatten bei unserem Interview danach ein wenig mehr Glück, aber die – zugegebenermaßen einfallslose – Frage, ob es ihn denn freue, daß nun zur bevorstehenden Jahrtausendwende so viele Menschen „1999″ hören würden, sorgte erneut für Missstimmung beim Künstler. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn wir gefragt hätten, welches Musikstück sein Vater wohl sei. Vermutlich hätte er seinen Zauberstab herausgeholt und uns in purpurfarbene Elektro-Schlagzeuge verzaubert.
01.08.2010
In einer englischen Musikzeitschrift empfielt Black Francis einen Lieblingssong. Ich lasse mir gerne von Musikern in Zeitschriften Lieblingssongs empfehlen, wesentlich lieber etwa als von realen Freunden, da ich deren Lieblingssongs zumeist kenne. Sie pfeifen sie ohnehin unentwegt und laufen einem damit hinterher. Ich muss das wissen, ich tue es schließlich selbst. Black Francis nun empfahl das Gilbert Bécaud-Lied „L’Orange“. Und in der Tat: Nach einmaligem Hören dieses Kleinods war ich am Haken. Was für ein verrücktes, ebenso abgründiges wie lustiges Stück Musik. Bécaud, der ja noch nie Gefangene gemacht hat, drückt hier auf die Tube wie nur selten, so etwas macht ja heute kein Mensch mehr. Nicht umsonst nannte man ihn ja „Monsieur 100.000 Volt“. Überhaupt war es früher in Sängerkreisen, vor allem bei Männern des gehobenen Entertainments, ja Usus, einen flotten Kosenamen zu haben – man denke nur an den Tiger oder den Boss. Wahrscheinlich hieß auch irgendjemand „Die Pranke“, ich werde das mal recherchieren. Eric Clapton kann es nicht gewesen sein, der hieß ja schon „Slowhand“. Ich finde es schade, dass das Vergeben lustiger Beinamen mit Siebziger-Jahre-Schulhof-Einfärbung aus der Mode geraten ist. David Garrett etwa könnte man wunderbar den Gruselgeiger aus Gelsenkirchen nennen. Gut, er kommt nicht von dort, aber was heißt das schon? Zurück zu Bécaud.
Meine Freude kannte keine Grenzen, als ich feststellte, dass ich eine Gilbert Bécaud-Schallplatte mit eben jenem Stück darauf längst mein Eigen nannte. In noch höhere Entzückungszustände aber ließ mich der auf der Innenseite des Klappcovers abgedruckte Steckbrief/Fragebogen vordringen. Bécaud gab hier Auskunft auf allerlei elementare Fragen des Daseins: Lieblingsmaler: „Van Gogh“. Lieblingsfarbe: „Rot“. Lieblingsgericht: „Gemüsesuppe, gegrillte Blutwurst“ (!). Sein größter Wunsch: „Eine Insel in der Sonne“. Ach, was müssen das damals für herrliche Zeiten gewesen sein. Heute würde sich kaum ein Sänger noch eine „Insel in der Sonne“ wünschen. Dann kommt meine Lieblingsfrage: Was er nicht mag. Bécauds Antwort: „Heuchelei“. So sehr ich glaube, dass Monsieur 100.000 Volt Heuchelei ein Dorn im Zeh war, so sehr bin ich davon überzeugt, dass „Heuchelei“ ein Modewort vergangener Tage ist. Spätestens bei diesem Wort nämlich fühlte ich mich sogleich an meine Schulzeit erinnert. Damals, in den frühen Achtzigern, zur Zeit meines Heranreifens zum sexuell empfindenden Wesen, kursierten – vor allem unter Mädchen – Tagebuch-artige Bücher, in denen man ähnliche Fragenkataloge zu beantworten hatte. In der Kategorie „Was ich nicht mag“ schrieben dort Mädchen, die Elke oder Christiane hießen, Sachen wie „Krieg“ oder „Heuchelei“, obwohl sie meines Erachtens gar nicht wussten, was Heuchelei ist. Jungs wiederum schrieben in der Kategorie „Was ich nicht mag“ gerne: „Elke“ oder „Christiane“.
Vor einigen Monaten weilte ich im Kreise alter Klassenkameradinnen und – sehr zu meiner Pein – holte eine der Damen ein solches Buch der Saison 1983/1984 aus dem Schrank. Ich musste nicht nur feststellen, dass mein damaliges Lieblingslied angeblich „I Like Chopin“ von Gazebo war. Noch mehr erstaunte mich, zu erfahren, dass die meisten Menschen aus meiner damaligen Klasse das Lied „High Society Girl“ als musikalischen Favoriten benannten. Sie schrieben nicht „Dolce Vita“ (Ryan Paris) oder „Do You Really Want To Hurt Me? “ (Culture Club), was ich beides aus heutiger Sicht gütig belächeln könnte. Nein, sie schrieben tatsächlich „High Society Girl“: Nanu, dachte ich da, was ist denn das für ein Konsens-Hit, an den ich mich nicht erinnern kann?
Besagtes Lied, so ergaben meine Recherchen, war der dritte Halb-Hit des dänischen Doof-Duos Laid Back, das mit Umhängekeyboards bewehrt kurz zuvor die damaligen Hitparaden mit dem Stück „Sunshine Reggae“ zu verekeln die Güte hatte. Fast jeder über 35 kennt diesen Song, den Nachfolgehit „High Society Girl“ aber erinnert kaum noch jemand, obwohl er 1983 immerhin bis auf Platz 9 der deutschen Charts kam. Im dazugehörigen youtube-Filmchen sehen die beiden aus wie die Kölle Alaaf-Version von Hall & Oates. Doch auch diesen Song habe ich mir noch einmal gekauft. „High Society Girl“ ist ein herrliches Stück Ballerburg-Musik, quasi das musikalische Gegenstück zu einer Klavierkrawatte.
02.08.2010
Das „Album of the day“ bei allmusic.com ist heute Foreigners „4″. Was soll denn das bitte für ein Tag werden?
Aus Verzweiflung gründe ich eine Ü-40-Jugendbewegung: Wir nennen uns „alternde Halbstarke“: Männer und Frauen, die blinde Zerstörungswut in der zweien Hälfte ihres Lebens für sich wiederentdeckt haben und die gerne Remmidemmi-Musik von früher hören. Bald werden Anne Will und der „Stern“ über uns berichten. Wenn wir uns mit den dicken Mods zusammentun, sind wir unschlagbar!
PLAYLIST
Al Martino – „Red Roses For A Blue Lady“
Justin Currie – „A Man With Nothing To Do“
Gilbert Bécaud – „L’Orange“
Gilbert Bécaud – „Schwarzer Sonntag“ (eine schöne Variante des aus Liedern wie „Delilah“ oder „Where The Wild Roses Grow“ bekannten Themas)
Erdmöbel – Krokus (das bislang beste deutschsprachige Album eines an guten deutschsprachigen Alben nicht eben armen Jahres)
Lloyd Cole – Broken Record (neues Album, kommt im September)
Josh Ritter – So Runs The World Away (Und noch ein famoses Singer/Songwriter-Album)
Delta Spirit – History From Below (zweite Langspielplatte der Americana-Popper, vor allem die ersten sechs Songs sind famos)
Boz Scaggs – „Georgia“ (ein prachtvolles Lied für sommerliche Autofahrten)
Bread – „Dismal Day“ (noch ein prachtvolles Lied für sommerliche Autofahrten)
The Morning Benders – Morning Echo (Für Abonnenten von: Flaming Lips, Grizzly Bear, The Shins, Dr. Dog)
Prince – „Beginning Endlessly“ (Das beste Stück vom neuen Album profitiert von einem Keyboardriff, das an ein klanggewordenes Baiser denken lässt)