19.10.2010
Über den Kassen des großen Medienfachgeschäfts, das ich gelegentlich betrete, hängen zahlreiche Monitore. Bis vor kurzem war auf diesen Monitoren stets Peter Maffay zu sehen. Maffay schwitzend, Maffay jovial scherzend, Maffay Mundharmonika spielend, Maffay Motorrad fahrend – immer Maffay. Davor sah man auf den Monitoren monatelang ausschließlich Herbert Grönemeyer: Grönemeyer schwitzend, Grönemeyer beim Abschreiten endlos langer Laufstege ins Publikum, Grönemeyer auf putzigen Kinderbildern, Grönemeyer in den frühen Achtzigern. Auf einem Motorrad sah ich Grönemeyer nie, ich vermisste es auch nicht.
Nun ist seit einigen Wochen ein anderer Mann auf den Monitoren über den Medienfachgeschäftskassen zu sehen. Im Gegensatz zu Grönemeyer und Maffay mag ich diesen Mann ganz gerne. Ich habe auch nicht wirklich etwas gegen Grönemeyer und Maffay. Müsste ich mich entscheiden, mit wem der beiden ich gerne mal in einem Aufzug steckenbliebe, so wählte ich wohl Maffay, da er, so vermute ich, die besseren Geschichten erzählen kann. Worüber auch immer, womöglich übers Motorradfahren. Der Mann, der nun unentwegt über die Bildschirme flimmert, ist Bruce Springsteen. Wann immer ich das Geschäft betrete (meist, um mir eine DVD zu kaufen, Tonträger kaufe ich nach wie vor beim freundlichen Einzelhändler), sehe ich also „den Boss“. Ich sehe ihn bei Tageslicht auf einer großen Open Air-Bühne. Die Kamera kommt ihm indiskret nah; der Boss schwitzt stärker als Maffay und Grönemeyer zusammen und ist arg rotgesichtig, aber das verwundert auch nicht, denn er strengt sich ja auch ganz schön an. Mich macht das banal Jetzige und Unanheimelnde dieser Aufnahmen wahnsinnig; ich will das nicht ständig sehen müssen. Ich will nicht, dass all meine inneren Bruce Springsteen-Bilder von diesen unentwegt daherflimmernden 2010-er-Open-Air-Bildern ausgelöscht werden.
Da ich schlecht durch ein Seitenfenster in das Geschäft einsteigen kann, bemühe ich mich seither, beim Betreten des Ladens stets den Blick niederzuschlagen. Es gelingt mir nicht immer, aber es ist seither nicht mehr ganz so schlimm. Bloß weil eine unnötige Springsteen-Live-DVD erscheint und die Plattenfirma des Mannes offenbar Spitzenkontakte zur Medienfachgeschäftskette unterhält, will ich noch lange nicht meine schönen inneren Bilder aufgeben müssen.
Überhaupt Live-DVDs: Ich verstehe ja, dass das „ein Markt“ ist.
Trotzdem ist selbst das, was ich auf den Live-DVDs großer und mittelgroßer Helden und Lieblingsmusikanten zu sehen bekomme, in der Regel verzichtbarer Humbug. Dieser Eindruck wird zusätzlich verschärft durch das mulmige Gefühl, dass Stars, je länger ihre Karriere währt, immer mehr Live-DVDs herausbringen, ja, dass sie geradezu jeden größeren Auftritt vor mehr als fünf Menschen zu dokumentieren scheinen.
Man verstehe mich nicht miss: Es ist nichts zu sagen, gegen das Ausgraben historischer Aufnahmen, die, sagen wir: Mireille Mathieu 1972 in bizarrem Fummel und auf dem Zenit ihres Schaffens bei einem Konzert vor der Akropolis zeigen. Mitschnitte von 2009er ZZ-Top-Konzerten oder der großen Saga-Reunion 2008 möge man jedoch bitte künftig in demselben Unkenpfuhl versenken, in den auch bitte die ganzen Bonus-Band-im-Studio-bei-der-Produktion-ihrer-jüngsten-CD-Album-Sonder-Editions irgendwelcher Wald-und-Wiesen-Indie-Fatzkes (Razorlight, Mando Diao) wandern mögen. Ich weiß, dass ich hier nun weder für ZZ Top-Fans, noch für Saga-Bewunderer, wohl auch kaum für Wald-und-Wiesen-Indie-Band-Anhänger und erst recht nicht für die verzweifelte Musikindustrie, die in diesen Editionen die vorletzte Möglichkeit zum Geldverdienen zu sehen scheint, spreche, aber das nehme ich mal in Kauf.
21.10.2010
Zum Glück muss ich ja nur selten in das Medienfachgeschäft.
Meine CDs und Vinyls kaufe ich nach wie vor in den kleinen Plattenläden meiner Stadt. Unter anderem, weil ich dort mit Menschen über Musik reden, Cover betatschen und mir Platten aufschwatzen lassen kann, die ich ursprünglich gar nicht haben wollte. Ich habe die Hälfte meiner ewigen Lieblingsalben auf diese Weise kennengelernt (die andere Hälfte meiner Lieblingsplatten hat durch inspiriert geschriebene Texte über Musik meine Aufmerksamkeit gefunden). Viele meiner Freunde und Bekannten, die nicht so fetischistisch mit Musik befasst sind wie ich, pflegen gegenüber diesen Plattenläden eine fortgeschrittene Ablehnung: Bei Sowieso-Records seien die Verkäufer ja immer so arrogant, da gehe man nicht mehr hin, heißt es oft. Oder: Die behandeln einen dort immer so herablassend.
Ich glaube, hier wird die eigene Unsicherheit in eine Skepsis gegenüber einem ehrbaren Beruf umgemünzt. Natürlich hat Nick Hornby in „High Fidelity“ nicht umsonst dem Typus des versnobten Plattenhändlers ein Denkmal gesetzt (in der Verfilmung des Buchs wird die Rolle von Jack Black ziemlich großartig dargestellt – die beste Schauspielleistung dieses von mir mit Skepsis beäugten Akteurs). Trotzdem: Wer würde dem Fachpersonal eines Lampenfachgeschäfts je Arroganz vorwerfen und stattdessen lieber seinen Lampenbestand im Möbelgroßhandel aufstocken? Aus finanziellen Erwägungen mag der Großhandelsbesuch schlüssig sein, aber doch keinesfalls aus einem diffusen Gefühl des Schlechtbehandeltwerdens durch Lampenfachleute. Und wer würde sagen: Das zauselige Paar, das den Bioladen führt, ist immer so herablassend, da gehe ich doch lieber weiter in den Supermarkt und kaufe dort den guten alten mit Geschmacksverstärkern hochgejuxten Kram? Nein, der Vergleich hinkt keinesfalls! Betritt man ein Fachgeschäft sollte man ungefähr wissen, was man will, dann lässt sich jedes Fachberatungsgespräch ertragen. Ist man aber nur labberige Käufermasse, wird man sich eventuell auch vom Lampenfachverkäufer schikaniert fühlen.
Mein Kölner Lieblingsplattenladen, parallel zum Milowitsch-Theater gelegen, ist alleine schon deshalb gut, weil dort, egal zu welchem Zeitpunkt ich meinen Fuß über die Schwelle setze, nie Musik läuft, die ich kenne. Auch verurteilt man dort nie meine Plattenkäufe, selbst wenn ich mal wieder nur mit vier Italo-Top-Hits-Samplern aus den Jahren 1981 bis 83 abziehe und höchstens acht Euro entrichte.
22.10.2010
Rom.
In meiner Lieblingsstadt hat sich seit meinem letzten Besuch vor neun Jahren wenig geändert. Wie auch? Rom lebt von seiner Unbeweglichkeit, von seiner Vergangenheitspflege, von seinem Festhängen in seiner Romhaftigkeit. „Grüß Morrissey“, sagten Freunde zum Abschied. Seltsam, dass es immer nur der professionell beleidigte Edel-Grantler ist, der so vielen Leuten einfällt, wenn man das Wort Rom erwähnt. Warum nicht Dario Argento, Falcos „Junge Römer“ (die bekanntlich anders tanzen als die anderen) oder Ennio Morricone? Ich weiß gar nicht, ob Morrissey überhaupt noch in Rom lebt, war sicher nur eine Phase, ähnlich wie bei Helmut Berger. Dario Argento und Ennio Morricone leben immer noch in Rom; Falco wiederum lebt gar nicht mehr.
Auf die Gefahr hin, mich auf das esspapierdünne Eis der Allgemeinplätze zu begeben: In Rom ist – trotz der Vergangenheitspflege, den Troddeln und dem Muff – natürlich alles besser als überall sonst auf der Welt. Es gibt keine schönere Stadt, nirgendwo sehen die Menschen so großartig aus. Für Freunde vorwärts gewandter Popmusik jedoch ist hier nichts zu holen. Italien ist ja seit den Achtzigern ohnehin das konservativste Popland Europas. Als letztes aufsehenerregendes Zucken des italienischen Pop-Muskels muss wohl das Italo-Disco-Zeug von vor mehr als zwanzig Jahren gewertet werden. Seither regiert gediegener Schlagerpop. Mir ist das nur recht.
Ganz oben auf meiner Einkaufliste steht der Jovanotti-Song „Baciami Ancora“, den ich vor Monaten zufällig in der Bar Celentano zu Köln hörte, als er dort brüllend laut in irgendeiner quietschigen RAI-Sendung dargeboten wurde. „Moment – Jovanotti?“ mag manch betagter Leser denken. „Ist das nicht die Italo-Nervensäge aus den Neunzigern, die monatelang den damals noch jungen Erfolgssender Viva mit seinem grässlichen „Serenata Rap“ bedudelte?“. Ja, genau, der Jovanotti. Vom Rap-Imitat hat er inzwischen abgelassen, stattdessen tut er nun das, was in Italien – und bei mir – am besten ankommt: Er schmettert Pop-Schlager. Gut so. Ich finde den Song dann schließlich auf einem Film-Soundtrack. „Was it a big hit here in Italy“ frage ich den Verkäufer. Der guckt mich gequält an und sagt mit leidvoller Miene: „Pretty much“.
24.10.2010
Fazit nach vier Tagen Rom: Italien ist erfolgreich im musikalischen Gestern angekommen. Und das passt ja zum Rest. Am Flughafen herrscht bei der Abreise ein Chaos, das nur härteste Italophile als charmant südländisch empfinden können: Viel zu viele Menschen werden durch viel zu wenige Schleusen gepfercht, nicht nur Kinder fangen an zu weinen. Man bekommt tatsächlich das Gefühl, Pier Paolo Pasolini hätte bei den Passionsspiel-artigen Check-In-Vorgängen Regie geführt. Es ist eben wie bei der Musik: Vergangenheit – das haben sie drauf, die Italiener, aber mit der Gegenwart, das dauert noch. Trotzdem: Lieblingsland.
Im Flugzeug läuft eine Folge der amerikanischen TV-Serie „Two And A Half Men“. Elvis Costello hat darin eine sogenannte cameo appearance. Ich glaube, es gibt keinen Popmusiker, der mehr cameo appearances in TV-Serien und Spielfilmen hat, als Elvis Costello. Erst kürzlich sah ich ihn in einer Folge der HBO-Serie „Treme“ in einer New Orleans-Spelunke herumsitzen. Was motiviert Elvis Costello in seiner doch sicher karg bemessenen Freizeit, die ihm zwischen seinen Tourneen, Plattenaufnahmen und den Spaziergängen mit seiner Ehefrau Diana Krall bleibt, unentwegt in Serien aufzukreuzen? Nach allen mir bekannten Klischees bedeuten Film- und Fernseharbeiten in erster Linie Warten. Wartet Elvis Costello so sagenhaft gerne? Ich kann es mir kaum vorstellen. Wenn ich Elvis Costello wäre, ich würde nicht so gerne warten wollen. Aber zum Glück bin ich nicht Elvis Costello, denn dann hätte ich eine komische Stimme.
29.10.2010
Vor etwa einem Jahr war ein Dokumentarfilmer bei mir zu Gast. Der Dokumentarfilmer war sehr nett, trotzdem muss man sich erstmal daran gewöhnen, wenn man einen Dokumentarfilmer in Ausübung seiner Tätigkeit in der Bude herumstehen hat. Ich schreibe das vor allem für Leute, die vielleicht auch mal einen Dokumentarfilmer bei sich zu Gast haben könnten. Der Dokumentarfilmer arbeitete an einem Film über die Band Die Sterne und wollte ein paar O-Töne von mir haben. Da sich der Dokumentarfilmer in der Tradition des Cinéma vérité sah, wies er mich an, mich möglichst meinen normalen Alltagsgewohnheiten entsprechend zu verhalten, während ich über Die Sterne plauderte. Das fiel mir nicht schwer und so machte ich erstmal einen Kaffee. Der Dokumentarfilmer filmte daraufhin in meine Küchenspüle hinein, wo sich beschmierte Nutella-Messer und anderer Dreck befanden. „Na, das macht jetzt wohl einen nicht so guten Eindruck“ dachte ich zwar, plauderte aber munter weiter.
Der Dokumentarfilmer heißt Frank Wierke. Vor ein paar Tagen nun rief er mich an und berichtete, dass sein Sterne-Film nun fertig sei, allerdings seien meine Szenen komplett der Schere zum Opfer gefallen. Ich habe den Film eben gesehen und kann nicht behaupten, dass dieser Umstand dem Endergebnis sonderlich schaden würde.
Wierkes Film ist keine blöde Rockmusiker-Doku. Es ist ein wackeliger Film über eine wackelige Band. Tatsächlich passen Wierke und Die Sterne perfekt zusammen: Wie anders könnte man diese ewige Schülerband, diese etwas hüftsteife Funk-Gruppe, diese Slogan-feindlichen Slogan-Lieferanten, deren kluge Lieder sich immer wieder um Selbstausbeutung halb-selbstverwirklichter Dauerkreativer ranken, darstellen, als mit einer wackeligen Handkamera?
Der Film zeigt im Stile von D.A. Pennebakers Fly-On-The-Wall-Doku „Don’t Look Back“ – also ohne blöden off-Kommentar, atmosphäreheischende Musik oder andere glättende Elemente – eine deutsche Band zwischen mürbem Proberaumalltag und umjubelten Konzerten. Man sieht ein Uni-Seminar zum Thema „Hamburger Schule“, Sterne-Sänger Frank Spilker beim Steuerberater und sich anbahnende Zerwürfnisse innerhalb der Band. Wenn zwischendurch nicht die Konzertaufnahmen kämen, müsste man sich wirklich fragen, warum intelligente Ü-40-Männer überhaupt so einem freudlosen Beruf nachgehen. Man erlebt aber auch die Band, wie sie der Gefangenheit in der Routine entkommt und langsam wieder verrückt wird. Wierke schneidet teilweise beherzt mitten in die Songs hinein, was dem Ganzen oft den Appeal eines Amateurvideos verleiht; tatsächlich steckt der Film aber voll gut gesehener Momente: Als etwa die Musik des neuen Sterne-Albums im Studio endlich zu grooven beginnt, filmt Gierke nur die mitwippenden Füße der Musiker.
„Sterne“ läuft am 3. November um 22.55 Uhr auf 3Sat und sei hiermit dringend empfohlen. Nicht auszudenken, wie epochal dieser brillante Film geworden wäre, hätte Wierke noch meine Nutella-Messer in sein Werk integriert. Aber bestimmt werden die Messerszenen im Bonus-Teil der DVD-Auswertung enthalten sein. Dann kann der Film auch sicher auf den Monitoren des großen Medienfachhandels laufen. Es wäre mal eine Abwechslung, denn in Wierkes Film wird – zumal für eine Musikerdoku – selten geschwitzt. Vor allem aber wird nicht über Laufstege ins Publikum geschritten und nie Motorrad gefahren.
PLAYLIST
Carole King – „It Might As Well Rain Until September“ (die Demo-Version des Songs, den Bobby Vee so prominent darbot; soeben auf der Compilation „The Essential Carol King“ erschienen)
Munk – „Violent Love“ (Bislang mein Lieblingsstück von Herrn Modica, dem Producer der letzten Sterne-Platte; tolles Euro-Disco-Stück mit großartigem Glitzermädchengesang; auch das dazugehörige Video zum Thema „Mein Freund ist DJ und nervt“ ist famos)
Jovanotti „Baciami Ancora“ (Famoser Kitschpop, bei dem sogleich die innere Toskana zu brennen anfängt)
Vincent Delerm – Les piqures d’araignées (Habe mir endlich das vorletzte Album meines Lieblingsfranzosen zugelegt)
The Coral „Lieza“ (Vom gestrigen Konzert der Band im Kölner Luxor angeregt, habe ich mal wieder meinen Lieblingssong dieser Orchideenzüchterband ausgegraben).
Jason Collett – Rat A Tat Tat (neues Album von einem meiner Lieblings-Songschreiber. Was Collett so angenehm abhebt, ist dass es seinem songschreiberischen Treiben nie an Humor und Sexyness gebricht)
Gibt es Live-Konzerte, die Sie...
Gibt es Live-Konzerte, die Sie so mitgerissen haben, dass Sie sich wünschen, dieser Abend sollte auf DVD festgehalten werden, damit Sie diese tolle Erinnerung nicht nur im Kopf sondern später auch mal wieder vor den Augen haben?
Oder waren Sie zuletzt 1972 bei Mireille Mathieu auf der Akropolis?
gääähn...
gääähn
<p>Live-DVD-Fan: Nein, diese...
Live-DVD-Fan: Nein, diese Live-Konzerte gibt es nicht. Ich hab schöne Erinnerungen lieber im Kopf als im Schrank. Zumal das abgefilmte Bild ja irgendwann die Erinnerung ersetzt. Und keine achtfach restaurierte Deluxe-DVD-Superedition ersetzt mir meine Erinnerungen an Mireille Mathieu vor der Akropolis. Ich war damals 19, das waren prägende Jahre…