Das Pop-Tagebuch

Das Pop-Tagebuch

Popmusik, so ist verstärkt zu hören, ist ein von der totalen Entwertung bedrohtes Kulturgut. Und wie fast alles, was keinen Wert mehr hat, ist auch

Der König von Deutschland beim Zahnarzt oder No More Peace Songs

| 5 Lesermeinungen

Thema diesmal: Das endlose Wiederkommen von allem. James Blunt rettet die Welt. Musik am Arbeitsplatz und die „Bravo“ revisited.

16.11.2010
Klar, es gibt Wichtigeres. Zum Beispiel die Frage: „Darf man bei Menschen, die vorm Supermarkt Obdachlosenzeitschriften feilbieten, Geld für die Parkuhr wechseln?“. Auch harrt das Problem, wie man der Überalterung hinter deutschen DJ-Pulten endlich Herr werden kann, noch immer einer für alle Beteiligten würdevollen Lösung. Man kann den DJs ja nicht einfach von heute auf morgen ihre Auflege-Slots wegnehmen. Aber vielleicht ist es ja eine Lösung, die Oheime und Muttchen hinter den Dudelpulten nach und nach auf ihrem Alter angemessene Aufgaben umzuschulen. Sie könnten zum Beispiel Musikmessen organisieren, interessante Vertriebswege im Internet aushecken, junge Nachwuchsbands bei tollen, von Getränkeherstellern bezuschussten Förderwettbewerben anmelden oder aus Musikzeitschriften alberne Musikerfotos ausschneiden und daraus verrückte Collagen herstellen. Doch dies sind nur ein paar in die Runde geworfene Möglichkeiten, keine Lösungen. Das Problem ist noch lange nicht vom Tisch.
Wie gesagt, es gibt Probleme, die weitaus mehr nach Lösung lechzen. Aber mich plagt gerade nur eines. Eben schaute ich trüben Blickes aus dem Fenster auf die Welt und musste angesichts dessen, was ich da sah unwillkürlich fluchen. Was denn los sei, fragte meine Katze, die ich nur in der Fiktion, für diesen einen Text, besitze. „Er ist wieder da.“, gab ich zur Antwort und kroch verängstigt hinter die Gardine. Wer denn bitte wieder da sei, wollte die Katze wissen. Ich drehte mich um: „Jamiroquai ist wieder da.“
Ich glaube, mich haben nur wenige Musiker in den Neunzigern so genervt wie der notorisch umhertänzelnde Büffelmützenträger und – wie beinahe jedes Mal, sobald sein Name irgendwo auftaucht, zu hören ist – leidenschaftliche Autofahrer Jay Kay. Jener Mann also, der dem Mucker- und Funkimitatorenverein namens Jamiroquai vorsteht. In den Neunzigern, als ich unzähligen Mädchen mit ambitioniert zusammengestellten Mix-Kassetten mein Vorhandensein fassbarer zu machen trachtete, war der Mann mit seiner aggressiv tanzfreundlichen Langweilermusik mein größter Gegner. Und er kreuzte immer wieder auf. Die letzten fünf Jahre aber war es ruhig um ihn. Herrlich ruhig. Aber nun ist er wieder da. Demnächst musiziert er bei Stefan Raabs ebenso großem wie prominent besetzten Barren-Turnen oder was immer Raab da demnächst wieder zu veranstalten gedenkt. Ich muss mich da endlich mal dran gewöhnen: Nie ist was wirklich weg.

17.11.2010
Ich weiß: Auf James Blunt herumzuhacken ist so öde wie das Imitieren von Politikerstimmen oder noch schlimmer: auf Jamiroquai herumzuhacken. Dennoch: Sensiblen Zeitgenossen fällt es schwer, James Blunt so richtig lieb zu haben. Ich weilte vor Jahren mal beruflich auf einem Konzert des Mannes und gab mir wirklich alle Mühe, ihn nicht vom ersten Moment an fürchterlich zu finden. Doch es war tatsächlich so schlimm, dass mir das Pur-Konzert, das ich 2006 aus ähnlichen Motiven besuchte, im Direktvergleich geradezu wie ein Infektionsherd der Inspiration erschien. Was mich am meisten an Blunt irritierte, war übrigens weniger seine weinerliche Musik mit all ihren ungelenken Schlichtheiten und pathetischen Hohlraumbepumpungen, als vielmehr der Umstand, dass dieser Mann, der Chris De Burgh als schlimmsten anzunehmenden „Wetten, dass..?“-Showgast abgelöst hat, das ganze Konzert über so mitleiderregend unsicher und unentspannt wirkte, dass ich kaum hinschauen mochte. „Komisch, es zwingt ihn doch keiner“ dachte ich mir. Gleichviel: Ich schrieb meinen Text, ich schrieb auch andernorts noch einmal über das Leid, das Blunt mit seiner Musik in die Welt getragen hat – und beschloss dann, fortan zu schweigen. Nun aber hat Blunt eine derart sonderbare Äußerung getan, dass man beinahe geneigt ist, ihn künftig in einem Atemzug mit Interview-Erratikern wie Morrissey, Helmut Berger oder Klaus Kinski zu nennen.
In einem Interview mit einem britischen Radiosender, so ist heute zu lesen, behauptete der einstmals als Soldat im Kosovo stationierte Musiker, seine Weigerung als damaliger Kavallerieoffizier gegenüber einem amerikanischen General, eine etwa zweihundert Mann starke russische Truppe anzugreifen, habe  dafür gesorgt, dass der Konflikt nicht in einen Krieg von internationalem Ausmaß ausartete.  Unter der Artikelüberschrift „How I prevented a third world war“ ist heute im Guardian folgendes Zitat James Blunts abgedruckt: „I was given the direct command to overpower … 200 or so Russians. And the practical consequences of that political reason would be then aggression against the Russians. (…) The direct command [that] came in from general Wesley Clark was to overpower them. Various words were used that seemed unusual to us. Words such as ‚destroy‘ came down the radio. (…) There are things that you do along the way that you know are right, and those that you absolutely feel are wrong. That sense of moral judgment is drilled into us as soldiers in the British army.“ Auf die Nachfrage, ob das Ausführen des Befehls tatsächlich einen dritten Weltkrieg hätte auslösen können, antwortete Blunt nur knapp: „Absolutely.“
Da haben Sie es: Andere Popsongs mögen davon singen – James Blunt aber verhindert die Kriege tatsächlich. Und zwar vor Ort und – wie es so schön heißt – „an vorderster Front“! Bis unters Dach mit Drogen vollgepumpt im Hotelbett irgendwelche Anti-Kriegslieder verfassen und diese dann zauselbärtig in Zehntausenderhallen vortragen – das ist ein Leichtes. Aber vor Ort einem amerikanischen General in die Blutsuppe zu spucken – dazu gehört ein bisschen mehr!  Vielleicht wäre es ja eine Lösung, wenn sich James Blunt künftig nicht mehr um die Musik, sondern um den Weltfrieden kümmerte. Man hätte ein bisschen Ruhe von seiner Musik, und auch die zahlreichen gut gemeinten, aber selten gutgelungenen Friedenslieder namhafter Popmusiker könnten somit obsolet werden. Darauf einmal „Pipes Of Peace“!

18.11.2010
Die täglichen kulturellen Umwälzungen lassen immer mehr Menschen verstört und verwirrt zurück. Wie beruhigend ist es da, festzustellen, dass sich manche Dinge einfach nicht geändert haben. Um mir am Flughafen die Zeit zu vertreiben, blättere ich ein bisschen in der aktuellen Bravo. Alles wie gehabt. Beziehungsweise wie etwa 1981, als ich selbst noch dringend auf die Zeitschrift angewiesen war: Bunt bebilderte Homestories mit minderjährigen Stars, kompetente Liebesberatung, Poster in der Heftmitte, Foto-Lovestories mit Sprechblasen und Artikel mit Überschriften wie „Lady Gaga – Sie wird verfolgt!“.
Im wohl schönsten Artikel der Ausgabe besucht die Bravo den ewigen Nachwuchsrapper und Medienliebling Bushido im Krankenhaus, wo er sich, so ist zu lesen, von einer Rücken-Operation erholt. Der textlich knappe Artikel punktet vor allem mit etlichen Fotos, die Bushido im Krankenbett zeigen, mal in der Bravo blätternd, mal mit dem ranschmeißerischen Bravo-Schreiber für die Kamera einen HipHop-Gruß vollziehend. Unter einem der Fotos steht: „Zehn Tabletten muss er täglich einnehmen – unter anderem gegen Schmerzen“. Also: Bushido muss die Tabletten einnehmen, nicht der Bravo-Reporter. Das Verhältnis zwischen Bushido und Bravo scheint im Übrigen sehr gut zu sein, denn auch ein handgeschriebener Brief an die Bravo-Leser ist abgedruckt. Darin heißt es: „Yoyoyo! Tausend Dank für euren Support! Alles wird gut. Bushido. Fühl dich Bravo“. Das Wort „dich“ hat Bushido unterstrichen. Ich denke lange nach, warum er das wohl getan hat und verbringe so noch etliche Minuten im Flughafenkiosk.
Es gibt noch mehr Zeitschriften, die zum Schmunzeln einladen. Wer noch nach einem weiteren Grund suchte, Mark Ronson voller Freude doof zu finden, wird hier fündig: Das Gesicht des eklektischen Wunderproduzenten und Star-DJs prangt auf dem Cover der Zeitschrift „Business Punk“ (Untertitel: „Work Hard, play Hard“). Um es mit Bushido zu sagen: „YoYoYo – Fühl dich Business Punk“. Ich gönne es Mark Ronson von ganzem Herzen, auf dem Cover der „Business Punk“ zu sein: Was für eine hübsche Form der Bestrafung.
Auch sonst lädt der Flughafen zum Herumstöbern ein. Im nebenan gelegenen Laden gibt es die aktuellen Album-Top10 zu kaufen. Erstaunt muss ich feststellen, dass sich Chris de Burgh von James Blunts Auftauchen in seinem Marktsegment nicht hat irritieren lassen und weiter tapfer Alben veröffentlicht. Mehr noch: Sein jüngstes Werk rangiert in den deutschen Albumcharts auf Platz drei. Kulturpessimisten, die Sorge haben, von amoklaufenden Business Punkern in der U-Bahn mit Existenzgründungsbezuschussungsbelegen verhauen zu werden, dürfen sich also beruhigt zurücklehnen und weiter an der Meerschaumpfeife saugen: Es gibt eine Menge Sachen, die immer noch so sind wie früher: Die Bravo, Chris De Burgh … mir fällt bis zum nächsten Mal bestimmt noch etwas ein.

22.10.2010
Tolle neue Musik: Neben dem nach klanggewordenem Moosbewuchs tönenden Album von Emily Jane White ist es vor allem die kanadische Band Zeus, die mich gerade begeistert. Zeus ist eigentlich die Backingband des Dandy-Songwriters Jason Collett, der vor Jahren mit „Idols Of Exile“ sein Meisterstück veröffentlicht hat. Seither sind zwei weitere Alben erschienen, zuletzt „ Rat A Tat Tat“. Im Grunde ist alles wie immer: Collett spielt Pop mit gebrochenem Rolling Stones-Gestus, ersetzt Innerlichkeit und Jammerei durch Sexyness und Humor und hat offenbar sehr gut bei Könnern wie Nick Lowe hingehört. Leider sind die Songs diesmal nicht ganz so gut.
Anders bei Zeus, die in einen Stück mitunter mehr Einfälle packen, als andere auf ein ganzes Album, diese aber nie blöd ausstellen. Wer seinen Pop gerne Kinks-beatmet mag oder die Beatles vor allem für „Abbey Road“ schätzt, der dürfte hier obere Begeisterungssphären entern. Eine Platte, die meine Jahresbestenliste noch einmal ordentlich durcheinanderwirbelt.

23.10.2010
Kurz bevor Dr. Papadopoulos (Name geändert) seinen Bohrer anwirft und sich über meinen weit geöffneten Mund beugt, ertönt aus dem Radio, das den Behandlungsraum bedudelt „Shadow On The Wall“, jene über alle Maßen unerfreuliche Zusammenarbeit von Roger Chapman und Mike Oldfield. Gottlob erlöst mich Papadopoulos (Name geändert) mit seinem gütigen Bohrer, dennoch verbringe ich die gesamte Sitzung damit, wieder einmal nachzugrübeln, was um alles in der Welt die Zahnärzte und Krankengymnasten dieser Welt dazu motiviert, ihre Behandlungsräume mit diesen schlimmen Das-Beste-der-Achtziger-Sender zu bedröhnen? Als Papadopoulos (Name geändert) den Bohrer wieder abstellt, singt Herbert Grönemeyer gerade „Männer“, ein Lied, das nicht eben vorteilhaft gealtert ist. Doch selbst diese unfreiwillige Wiederbegegnung mit Herbert Grönemeyers erstem großen Hit vermag mich nicht auf das vorzubereiten, was dann folgt: Als Papadopoulos (Name geändert) mir zum Zwecke der Zahnabdrucksherstellung eine Metallschiene nebst Schmiermasse in den Mund schiebt und mich anweist, diese bitte fünf Minuten im Mund zu belassen, melden sich die Moderatoren des Radiosenders zu Wort. In gezwungen ungezwungener Morgenplauschmanier greift das Moderatorenduo ein aktuelles Reizthema auf – und zwar mit der gebotenen kabarettistischen Schärfe und journalistischen Unbestechlichkeit: „Also, ich hab schon ein mulmiges Gefühl“ leitet die weibliche Moderatorin das Thema „Terrorangst auf dem Weihnachtsmarkt“ ein. Er aber kontert mit Die-Hard-esker Lässigkeit: „Ganz ehrlich Janina, ich lasse mir von Terroristen nicht meine Freizeit bestimmen. Ich gehe weiter auf den Weihnachtsmarkt.“ Genau! Und zwar täglich! Ich versuche wegzuhören, doch die langsam vor sich hinhärtende Paste im Mund lässt es nicht zu, dass ich mich vom Radio wegkonzentriere. Wo um Gottes Willen sind Roger Chapman und Mike Oldfield, wenn man sie braucht? Schnell, irgendwer muss Richard Marx, Meredith Brooks, Alannah Myles oder Mr. Mister rufen. Von mir aus auch Chris De Burgh. Oder das Ein-Mann-Kommando James Blunt!! Der Säusel-Söldner und Welt-Befrieder – er ist in diesen Tagen gefragter denn je.

NACHTRAG:

Der Titel dieses Eintrags verdankt sich dem Umstand, dass beim Zahnarzt auch noch Rio Reisers gar nicht mal so gutes Lied „König von Deutschland“ lief. Eigentlich wollte ich mich ausgiebig zu diesem Lied und seinem blöden Witztext hier ausbreiten, aber – was soll ich sagen: Ich habe es schlichtweg vergessen. Der Titel ist trotzdem geblieben.

PLAYLIST
Adventureland-Soundtrack (toller Film, der den amerikanischen Geek-Humor auf eine angenehm abgründige Coming-of-age-Story knallen lässt; der Score stammt von Yo La Tengo, dazu gibt es Songs u.a. von Big Star, The Replacements und Velvet Underground)
Zeus – Say Us
Emily Jane White – Ode To Sentience (Gut durchmoderter Folk-Pop, vor allem die Single „The Cliff“ ist fantastisch!)
Best Coast – Crazy For You (Verwaschener und verhallter Girl-Pop; kann es nie genug geben)
Turner Cody – On The Road (auf Konzerten des Herrn zu erwerben; im Februar ist ja mit arger Verspätung sein genialisches Abum „Gangbusters“ bei uns erschienen, dies hier ist somit quasi das zweite Album innerhalb eines Jahres)

 

 


5 Lesermeinungen

  1. 1ng0 sagt:

    he, mach meinen blunt nicht...
    he, mach meinen blunt nicht an!
    man nennt ihn auch südenglands kant
    er ist so klug und weise
    der sangesphilosoph james blunt
    trifft töne meistens leise
    wenn er ergriffen zeilen haucht
    die von der schönheit handeln
    die sich im herzen nie verbraucht
    spürt man sein genius wandeln
    moral, gefühl und daseinszweck
    hat er durchdacht wie keiner
    sein werk gehört zum pflichtbesteck
    macht große fragen kleiner

  2. Filou sagt:

    Vielen Dank. Obwohl ich die...
    Vielen Dank. Obwohl ich die Gnade der spaeten Geburt genoss, gehen mir viele Kuenstlernamen am Ruecken vorbei. Ich kenne die meisten einfach nicht (ich muss bei Van Morisson aufgehoert haben).
    Ihre Kolumne aber lese ich sehr gerne. Das musste mal gesagt werden. Grinsend verbleibt Ihr F.

  3. Quintus sagt:

    Hallo Eric Pfeil, dankschön...
    Hallo Eric Pfeil, dankschön für die Kolumne und v.a. für T. Cody, der uns letzten Samstag in München vorgesungen hat, das war herzerweiternd. Die Platte heißt übrigens Rules of the Road, konnte man ihm abkaufen da. Sie ist gut und wunderschön verpackt in mit dem Hackbeil zugehackten Karton.

  4. dandyhorst sagt:

    Quintus: Ja, ich habe eben...
    Quintus: Ja, ich habe eben noch in einem Radiointerview Turner Codys „Gangbusters“ als eine der schönsten Platten des Jahres gepriesen. Was etwas seltsam ist, da sie mich ja schon 2009 erreichte und mir vor allem in jenem Jahr das Herz wärmte. Aber der offizielle Release war ja dann dch erst 2010.

  5. dandyhorst sagt:

    <p>An 1ng0: Ich habe übrigens...
    An 1ng0: Ich habe übrigens eine gute Freundin, die laut eigenem Bekunden aussieht wie James Blunt. Es hört sich seltsam an, trifft aber tatsächlich zu. Und sie ist sehr hübsch Hm…

Kommentare sind deaktiviert.