Das Pop-Tagebuch

Das Pop-Tagebuch

Popmusik, so ist verstärkt zu hören, ist ein von der totalen Entwertung bedrohtes Kulturgut. Und wie fast alles, was keinen Wert mehr hat, ist auch

Eingeknastet und bewundert: Letzte Musik zum Jahresende

Thema diesmal: Ein letzter Einkaustipp für Menschen, die Silvester im Kreise ihrer Plattensammlung daheim verbringen möchten.

Ich bin gescheitert. Wieder einmal.
Eigentlich wollte ich kurz vor Weihnachten noch einen Text zum Thema „Alben, die mir das Jahresende versüßt haben“ einstellen, um damit in Geschenkangelegenheiten Zaudernde zum Last-Minute-Tonträgererwerb anzustacheln. Doch es kam etwas dazwischen. Ich wurde nämlich entführt. Weil ich zuviel wusste. Ich weiß, das klingt unglaubwürdig, zumal man nicht annehmen sollte dass ich über irgendetwas zuviel wissen könnte, aber es war eben so. Zum Glück aber wurde ich befreit und kann den Text zum Thema „Alben, die mir das Jahresende versüßt haben“ nun mit einiger Verspätung doch noch einstellen.  Wenn Sie mir bitte folgen wollen…

CHET BAKER – THE COMPLETE MILAN SESSIONS
Es passiert selten, womöglich zu selten, dass Menschen auf Kälber herniederweinen. Wie es dennoch dazu kam, mögen die folgenden Zeilen darlegen.
Neulich war ich zum Essen eingeladen. Gerade hatte die Gastgeberin Kalbschnitzel aufgetragen, da legte ihr Mann ein Chet Baker-Album auf oder ein, so genau weiß ich das nicht mehr, es wurde ja auch getrunken. Doch kaum lief des singenden Sondertrompeters Musik, begann ich schlagartig auf mein Kalb herniederzuweinen. Wenige Tage später hörte ich im Radio von der endjahresgeschäftsfreundlichen Kopplung aller Chet Baker’schen Italien-Aufnahmen aus dem Jahr 1959 auf einer CD. Baker, eben aus dem Gefängnis entlassen, war Ende der Fünfziger nach Italien gegangen, wo er mit wechselnden Begleitmusikern einige äußerst prunkvolle Aufnahmen machte. Die „Complete Milan Sessions“, die nun erschienen sind, präsentieren den Cool Jazz-Melancholiker tatsächlich in all seiner Pracht: Mal federleicht swingend („Lady Bird“), mal angeschossen und streicherüberstrahlt (natürlich: „My Funny Valentine“).
Die zweite CD legt den Schwerpunkt auf Aufnahmen, die Chet Baker für italienische Filmsoundtracks einspielte. Komponist dieser brausend und stürmisch dargebotenen Stücke ist Piero Umiliani, jener italienische Film- und Library-Komponist, dem die Welt auch das unsterbliche „Mah nah mah nah“ verdankt, das bitte alle Leser dieser Zeilen jetzt kurz laut singen mögen, um so einen über das Land verteilten Kanon zu erzeugen. Kann man Kanons erzeugen? Ich weiß es nicht. Letztens rügte ein digitaler Besserwisser in der Kommentar-Sektion zu meinem Pop-Tagebuch eine Formulierung: Man könne nicht auf einem „schmalen Grad operieren“, das sei schief, so der Kommentator, zudem heiße es korrekt „Grat“ (Ich hatte wohl geschrieben, der und der Musiker operiere auf dem schmalen Grad zwischen Dingsbums und Bumsdings). Das ist es ja eben: Auf einem „schmalen Grat“ kann vielleicht nicht besonders gut operieren, auf einem „schmalen Grad“ aber kann man alles, sogar Athener Eulen in die Kohleabbaugebiete von Newcastle umsiedeln. Man kann allerdings auch auf einem „schmalen Grat“ operieren, wenngleich nicht allzu komfortabel: Man denke sich einen Alpinbergsteiger, der nicht nur großer Fan der Kastelruther Spatzen, sondern im Hauptberuf auch noch Chirurg ist und weit droben einem Kollegen, den plötzlich ein Blindarmdurchbruch bekümmert, operieren muss. Das täte er dann womöglich auf einem schmalen Grat. „Was aber soll der Hinweis, dass er auch Fan der Kastelruther Spatzen ist?“ mag nun mancher fragen. Na, weil er dann während des Zunähens der Operationswunde das Kastelruther Spatzen-Lied „Wahrheit ist ein schmaler Grat“ singen könnte.
Die Liner Notes zur Neuveröffentlichung der Chet Baker-Aufnahmen beginnen übrigens mit der Zeile: „Chet Baker had a long and complicated relationship with Italy“. Ein Satz, der so auch für mich gilt. Was ich von der darauffolgenden Information „It was a country where he was both imprisoned and adored“ nicht behaupten kann.

V.A – CALIFIA – THE SONGS OF LEE HAZLEWOOD
Lee Hazlewood war ja so etwas wie der Rock’n’Roll-besessene evil twin von Burt Bacharach. Zu diesem Eindruck kann man zumindest kommen, wenn man die wohlverlesene und launemachende 25-Song-Kopplung „Califia – The Songs Of Lee Hazlewood“ hört, einen schönen Ace-Sampler, der lauter selten gehörte Versionen von Hazlewood-Songs versammelt. Der Schwerpunkt liegt auf den eher feurigen, preschenden Nummern – die verspukten, ruhigen Stücke konnte ja im Grunde nur Hazlewood selbst singen, weshalb die hier von ihm höchstpersönlich, mal mit Nancy Sinatra, mal mit Duane Eddy, mal mit Suzi Jane Hokom gesungenen Lieder ein gutes Gegengewicht zu dem übrigen, eher überschäumend intonierten und Beat-geprägten Material bilden. Schon das einmalige Hören von Songs wie „Need All The Help I Can Get“ (wieder Suzi Jane Hokom) oder „The Rebel Kind“ (Dino, Desi & Billy) ließ in mir den Wunsch aufkeimen, diese Lieder als alte Vinylsingles zu besitzen. Aber auch so lässt sich zu diesen Stücken trefflich ein innerer Sixties-Allnighter veranstalten. Ähnlich gut wie die vor drei Jahren erschienene CD mit frühen Randy Newman-Auftragskompositionen (ebenfalls auf Ace/Soulfood) und dringend empfohlen.

DOUG PAISLEY – CONSTANT COMPANION
Noch ein Eintrag in die Liste der besten  traditionellen Singer/Songwriter-Alben des Jahres. Der Kanadier Doug Paisley klingt ein wenig, als hätte Jim Croce an der amerikanischen Westküste gewohnt (hat er ja auch kurz), streunt aber auch mehr als einmal durch Will Oldham-Territorium.
Obwohl Paisley, der früher lange Jahre den Stanley Brothers huldigte und zwei Alben mit Country-Covers aufnahm, den klassischen Hängekopf mit Gitarre gibt, ist hier nichts zu dick aufgetragen, zu klischiert oder zu rührselig. Das liegt natürlich vor allem an den einfachen, aber fein auskomponierten Songs. Das liegt auch an den schlichten Arrangements, die nicht viel mehr als eine melodiöse Akustikgitarre, einen unauffälligen Bass und ein trockenes Schlafzimmer-Schlagzeug benötigen. Das liegt aber auch an dem etwas unheimlichen Orgelspiel, das an Garth Hudson von The Band denken lässt, was womöglich daran liegt, dass es tatsächlich Garth Hudson ist, der hier die Orgel schmoren lässt.
Die meisten Rezensenten preisen die balladesken Stücke des Albums, mir haben es aber vor allem die beiden etwas beschwingteren Auftaktsongs „No One But You“ und „What I Saw“ angetan, die von so selbstverständlicher Größe sind, dass man geneigt ist, anzunehmen, sie seien schon vor vierzig Jahren irgendeinem genialischen Bartträger aus dem Karohemd gepurzelt.

FABIENNE DELSOL – ON MY MIND
Wenn Sie gerne mit einer Baskenmütze unter dem Arm und einem Baguette auf dem Kopf die Straßen durchwandern, sich aber gleichzeitig gern in die Pose eines existenzialistischen Beatrolli-Trägers des Jahres 1965 wünschen, könnte Ihnen das folgende Produkt gefallen: Fabienne Delsol ist eine in Großbritannien beheimatete Französin, die sich strikt an die Klangästhetik der mittleren Sechziger hält. Es mag hilfreich sein, hinzuzufügen, dass ihr Gatte Liam Watson heißt, bereits die White Stripes, Nic Armstrong und Pete Molinari produzierte und den in einschlägigen Kreisen für stilvolle Neo-Sixties-Produktionen bekannten Toe-Rag-Studios vorsteht.
Gemeinsam haben die beiden ein Album gefertigt, auf dem die McCartney-Bässe tänzeln, die Farfisas summen und die Schellenkränze nur so rasseln: Mod-Musik für Menschen, die sich nicht zwischen Jess Franco und Jean-Luc Godard als Lieblingsregisseur entscheiden können. Manchmal gebricht es der Platte ein wenig an wirklich zwingendem Song-Material, aber heute wird mal nicht rumgemäkelt.

CAITLIN ROSE – OWN SIDE NOW
Die 23jährige Caitlin Rose veröffentlichte früher im Jahr eine EP mit einer Handvoll Songs (Cover und Eigenkompositionen), die von großem Talent zeugte. Allerdings konnten die einfachen Country- und Folk-Arrangements mit wenig oder kaum Schlagwerk-Begleitung nicht auf die Pop-Finesse ihres Debütalbums vorbereiten, das seit Herbst vorliegt.  Auf „Own Side Now“ finden sich zehn meistenteils vortreffliche Eigenkompositionen (plus ein Stevie Nicks-Cover), die neuerlich die hohe Sangeskunst der jungen Musikerin bezeugen und anhand derer man der Dame eine große Karriere prophezeien möchte. Als Anspieltipp, um mich einer etwas altertümlichen Musikjournalistenvokabel zu befleißigen, sei das zutiefst lässige, von zweistimmigem Gesang veredelte „Shanghai Cigarettes“ genannt, das alleine schon den Kauf rechtfertigt. Auch der Opener „Learning To Ride“ zieht nach wie vor Träne um Träne in diesem Haushalt. Anfang des kommenden Jahres ist die junge Dame samt ihrer Band auf deutschen Bühnen zu bewundern. Ein spätes Lieblingsalbum 2010. Allerdings nichts für Freunde des „Abgefahrenen“.

Dieser bescheidene Text ist dem nicht genug zu preisenden Don van Vliet alias Captain Beefheart gewidmet, der am letzten Wochenende den Folgen seiner MS-Erkrankung erlag. Wegen des Plattencovers von Captain Beefhearts „Trout Mask Replica“-Album erwog ich einst allen Ernstes, mir für ein Bandfoto meiner zurecht erfolglos gebliebenen ersten Gruppe Overheated einen Fisch über den Kopf zu stülpen. Aber das ist eine andere Geschichte…
Ein bisschen ist der Text auch dem Boney M-Vortänzer Bobby Farrell gewidmet, den es kurz vor Jahresende ebenfalls noch aus den Glitzerstiefeln gehauen hat.
Guten Rutsch!

www.ericpfeil.com