Das Pop-Tagebuch

Von Alice Donut bis Zeltinger – Plattensortierung 2012

Wenn Sie diese Zeilen lesen, bin ich gerade mitten im Umzug begriffen. „Was hat ein Umzug mit Popmusik zu tun?“, mag manche Leserin nun fragen, derweil sich ihre Stirn in Falten legt. Nun, eine ganze Menge. Nein, stimmt nicht. Eine ganze Menge wäre wohl übertrieben, zumindest aber hat ein Umzug mehr mit Popmusik zu tun als Popmusik mit, sagen wir: der korrekten Zubereitung eines rheinischen Sauerbratens (was ich für eine beruhigende Erkenntnis halte). Da fällt mir prompt mein alter Englischlehrer selig ein. Dieser prächtige Mann mit Heinz Erhardt-Look und Brillantine im Haar, der stets im schwarzen Anzug vor seine Schüler zu treten pflegte, stand, obgleich er auch das Amt des Schuldirektors bekleidete, den in Lehrbüchern vermittelten Inhalten ausgesprochen kritisch gegenüber, hielt er sie doch für allzu formelhaft und lebensfern. Diesem konservativen Freigeist gefiel es vielmehr, händereibend vor der Klasse zu stehen, den Blick schweifen zu lassen und etwa zu sagen: „Eric, please tell me how to prepare a Rheinischer Sauerbraten!“. Ich bin daher mit der vergleichsweise sinnlosen Gabe ausgestattet, einem Briten die Zubereitung eines für meine Herkunftsregion typischen Gerichts herunterzuleiern. Auch führte mein Englischlehrer, wie er stolz verkündete, stets einen Zettel im Portemonnaie mit sich, auf dem er die Maße des Schiffes stehen hatte, mit dem Columbus dereinst in See stach. Er fand diese Information vermutlich so essentiell wie ich diejenige, dass der Schlagzeuger auf Dylans „Blonde On Blonde“ derselbe ist wie auf Neil Youngs „Harvest“. Kenny Buttrey heißt der Mann. Sein Spiel auf „Stuck Inside Of Mobile With The Memphis Blues Again“ ist so treibend wie nonchalant. Ich glaube, es war Frank Black, der irgendwo sagte, dass Buttrey am Ende jeder Strophe eine neue Variation spiele, ähnlich wie Dylan die Titelzeile bei jedem Durchgang anders phrasiert. Bei den Aufnahmen zu „Harvest“ wiederum wies Neil Young den vielgebuchten Studio-Mann an, so reduziert zu spielen, wie nur eben möglich. Buttrey tat sein bestes Wenigstes, doch Young wollte alles noch reduzierter haben und verdonnerte Buttrey dazu, nur mit einer Hand (und somit ohne Hi-Hat) zu spielen. Man kann das Ergebnis wunderbar bei dem Song „Out On The Weekend“ genießen, wo Buttrey als einzige kleine Variation in der „She’s so fine…“-Zeile eine Bassdrum-Figur einbaut. Buttrey spielte auch für Elvis, J.J. Cale, Kris Kristofferson und viele andere. 2004 verstarb der Nashville-Crack dann leider viel zu früh und zeigt seither jenen im Orkus, wie man den Rhythmus hält. Ich denke, man kann ruhigen Gewissens sagen: Ein Album, auf dem Kenny Buttrey spielt, kann nicht schlecht sein.

Nun halte ich, zwischen Kartons und Kisten umherstehend, „Harvest“ in Händen, unoriginellerweise meine liebste Neil Young-Platte, was bei zahlreichen „On The Beach“-Fans dafür sorgen dürfte, dass sie verständnislos den Kopf schütteln, bis der Braten sauer wird. Wenn sie mit Schütteln fertig sind, werden die „On The Beach“-Fans dann feststellen, dass ich wieder bei meinem Eingangsthema „Popmusik und Umzüge“ angekommen bin. Das Neil Young-Album war in meinem Plattenschrank bislang unter „Y“ wie „Young“ eingeordnet und lehnte, der alphabetischen Sortierung meiner Platten wegen, an Paul Youngs „The Secret Of Association“, was ich für einen ausgesprochen prätentiösen Plattentitel halte, mehr noch als „Tales From Topographic Oceans“ von Yes oder Fiona Apples „When the pawn hits the conflicts he thinks like a king what he knows throws the blows when he goes to the fight and he’ll win the whole thing ‚fore he enters the ring there’s no body to batter when your mind is your might so when you go solo, you hold your own hand and remember that depth is the greatest of heights and if you know where you stand, then you know where to land and if you fall it won’t matter, cause you’ll know that you’re right“, die ich aber beide nicht besitze. Zwei Fragen drängen sich nun auf: Soll ich beim Einräumen meiner Platten in der neuen Wohnung eine andere Sortierung vornehmen? Und: Welches Album der Musikgeschichte hat eigentlich den schlimmsten Titel? Meine Leserinnen mögen sich vielleicht ganz andere Sachen fragen. Etwa: Warum hat Pfeil eine Paul Young-Platte, wo er doch den Pino Palladino-Bass so sehr hasst, aber nicht das Fiona Apple-Album namens „ When the pawn hits the conflicts he thinks like a king what he knows throws the blows when he goes to the fight and he’ll win the whole thing ‚fore he enters the ring there’s no body to batter when your mind is your might so when you go solo, you hold your own hand and remember that depth is the greatest of heights and if you know where you stand, then you know where to land and if you fall it won’t matter, cause you’ll know that you’re right“? Nun stehen bereits drei Fragen im Raum, das sind zu viele. Da der Umzug Vorrang hat, zunächst also zur Sortierung.

Vorab: Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass „Plattensortieren“ (gerade in einem vorrangig mit Popmusik befassten Blog) ein ähnlich ödes Thema ist wie der Komplex „Männer und Frauen“ im  professionellen Humorismus. Das Thema drängt sich gerade aber einfach auf, ich will ihm nicht arrogant die Tür weisen. Menschen, die weniger Platten besitzen als die FDP Mitglieder zählt, können diesen Absatz ja überspringen. Ich glaube, eine alphabetische Sortierung empfiehlt sich. Wonach sollte man sonst sortieren? Nach Genre?? Wo stelle ich dann meine siebenhundertdreiundsechzig Adriano Celentano-Platten hin? Zu Croonern wie Sinatra oder Andy Williams? Celentano croont nicht, beziehungsweise: nur selten. „Italien“ ist kein Genre, sondern ein Zustand, der sich als Urlaubsland aufspielt. Und „Schlager“ oder „Volkstümliches“ kommt nicht in Frage. Wo landet Kevin Ayers? Unter „Psychedelic“? Nein, denn seine Platten ab Ende der Siebziger sind ausgesprochen unpsychedelisch. Unter „Sixties“ auch nicht, da sich der Großteil seines Werks in den „Seventies“ abspielte. In den „Seventies“ aber auch nicht, da seine besten Platten aus den „Sixties“ stammen. Nein, das mit den Genres funktioniert nicht. Die meisten Genrebezeichnungen sind zudem doof („Indierock“, „Neo-Prog“, „kongolesischer Speed-Reggae“).Man könnte nach groben Stimmungen sortieren: „Musik für Sonntagmorgens“ etwa. Da stünden dann „Songs For Swingin‘ Lovers“ von Sinatra, Josh Rouse oder Cass McCombs-Platten. Oder „Musik, um an Sommerabenden auf der hölzernen Terrasse in den Grill zu gucken, auch wenn es einem an Terrasse und Grill gebricht“. Da stünden dann „New Morning“ von Dylan und eben „Harvest“. Andere Kategorien, unter denen man Vinyl bündeln könnte: „Music To Watch Girls By“, „Music For Airports“,, „Musik zum Staubsaugen“, „Achtziger-Jahre-Secondhandladen-Musik“ (Monochrome Set, Jazz Butcher, Go-Betweens, Smiths, Creation-Bands usw.), oder „Soundtracks für Prügeleien“ (= alles von Oliver Onions). Eine „Stimmungs-Sortierung“ halte ich grundsätzlich für erwägenswert, gebe allerdings zu bedenken, dass meine Stimmungen stärker schwanken als Karnevalisten am Rosenmontag, von daher bleibe ich wohl bei der alphabetischen Reihenfolge.Man könnte auch nach anderen Kategorien als allzu stimmungsbehafteten archivieren. Es böten sich etwa an: „Fehlkäufe“, „Platten, auf denen Kenny Buttrey Schlagzeug spielt“, „Alben mit doofen Titeln“, „Hüllen, auf denen Tiere abgebildet sind“ o.ä. Allerdings birgt ein solches Verfahren die Gefahr der totalen Verfransung. Gibt es sonst noch eine Möglichkeit? Nun, ich kenne sogar Menschen, die sortieren in der Reihenfolge des Plattenkaufs. Diese Zeitgenossen können zwar voller Stolz eine nachvollziehbare musikalische Biographie im Schrank präsentieren, spinnen aber total! Also: Tanz das Alphabet!

So, Frage beantwortet, Problem gelöst, gerne geschehen. Bazon Brock (der, wenn ich mich recht entsinne, das Internet mal mit einem Internierungslager verglichen hat, was ich grundsätzlich angemessen finde) hat ja gerade in Berlin ein Büro für unlösbare Probleme eröffnet. Das ist gut, ein weiteres Grafikbüro wäre auch echt blöd gewesen. Manche Probleme kann man aber tatsächlich lösen. Jenes nämlich, das entsteht, wann immer Menschen vor Getränken beieinander sitzen und darüber streiten, welcher denn der schlimmste Albumtitel aller Zeiten sei. Für alle, die nicht abzuschätzen in der Lage sind, von welcher Tragweite das hier behandelte Problem ist, seien ein paar schlimme Plattentitel aufgelistet:

Coldplay – Viva la Vida or Death and All His Friends
REO Speedwagon – You Can Tune a Piano but You Can’t Tuna Fish
Blink 182 – Take Off Your Pants and Jacket
John Hiatt – Dirty Jeans and Mudslide Hymns (super Album dennoch!)
Flux of Pink Indians – The Fucking Cunts Treat Us Like Pricks
Limp Bizkit – Chocolate Starfish and The Hotdog Flavored Water
Alle Album-Titel der Smashing Pumpkins (mit Ausnahme von „Gish“)
Ausnahmslos alle Albumtitel von FlerThe Rolling Stones – Bridges To Babylon

Aber wissen Sie was? Je länger ich herumstöbere, meine Umzugskisten nach törichten Titeln durchsuche und in Foren umherstreune, desto mehr formt sich die umumstößtliche Erkenntnis, dass die Sache doch gar nicht so einfach ist. Mancher mag „Intensities in Ten Cities“ (Ted Nugent) für einen fürchterlichen Titel halten, ein anderer womöglich nicht. Das Schlimme ist: Ich bin sowohl der Eine, als auch der Andere, es zerreißt mich förmlich. Ich glaube, Bazon Brock hat doch Recht: Man muss sich damit abfinden, dass viele große Probleme nicht zu lösen sind und einen Weg finden, mit diesen atommüllartig herumliegenden Problemen zu leben. Zumindest heute bin ich zu schwach, eine Lösung zu finden, freue mich aber über die Zusendung zahlreicher schlimmer Albumtitel. Wer den Miesesten findet, dem verrate ich auch „how to prepare a Rheinischer Sauberbraten“. Auch ein Albumtitel. Frohes Neues!

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