Das Pop-Tagebuch

Das Pop-Tagebuch

Popmusik, so ist verstärkt zu hören, ist ein von der totalen Entwertung bedrohtes Kulturgut. Und wie fast alles, was keinen Wert mehr hat, ist auch

Der Februar Vol. II – Ein Monat gibt nicht auf!

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Weitere Neuerscheinungen des Monats.

Beim letzten Mal sind mir in meiner Monatsschau etliche bemerkenswerte bis tolle Alben durchgerutscht, deren Besprechungen ich in der heutigen Ausgabe des Pop-Tagebuchs rasch nachreichen will. Wohlan …

Chuck Prophet – Temple Beautiful (YepRoc, 24.02.)
Herrlich konservatives Album voll schludrigem Songwriter-Rock’n’Roll vom ehemaligen Green-On-Red-Mann. Prophet ist wie immer auf der breiten, staubigen Straße unterwegs, die auch von Paul Westerberg, Peter Wolf und Tom Petty bevorzugt befahren wird (mit Dylan und den Stones im Autoradio, wenn man so will). Stimmlich hängt er dabei irgendwo zwischen einem virilen Mark Knopfler und einer schlimmen Nebenhöhlenvereiterung. Dies hier ist eine der beste Platten, die er je gemacht hat: Die Songs sind simpel und gut, enthalten mehr Hooks als jede olle Jukebox und stecken voller Schlüsselreize, auf die Menschen, die dem übel beleumundeten Ding namens Rockmusik noch irgendetwas abgewinnen können, mit sofortigem Sabbern reagieren müssen. „Temple Beautiful“ ist ein Album voller Lieder über San Francisco und seine Freak-Gestalten. „Google-free-facts“ nennt Prophet Geschichten wie „The Left Hand & The Right Hand“, in dem die Gebrüder Mitchell, ihres Zeichens kalifornische Porno-Pioniere, besungen werden. Kommt hoffentlich bald auf Tour.

The Original Sound of Cumbia (Indigo, bereits erschienen)
Diesen bereits im Januar erschienenen Sampler habe ich kürzlich abends beim Kochen in der Küche gehört. Das Essen konnte ich nachher wegschmeißen, aber was habe ich getanzt! Cumbia ist in aufgeschlossenen Extremtänzer-Zirkeln ja schon seit einigen Jahren überaus beliebt. Falls jemand dennoch nichts mit dem Begriff anzufangen weiß: Cumbia ist so etwas wie die weniger hüftfertige Variante von Salsa, bei der sich afrikanisches Getrommel und südamerikanische Melodieführung mischen. Typisch für Cumbia ist aber vor allem das diatonische Akkordeonspiel: El Sintetizador del Pecho‘ (Der Synthesizer der Brust) wurde das Instrument auf dem Land genannt. Für diese phantastische 2-CD-Zusammenstellung hat Kompilator Will „Quantic“ Holland über fünf Jahre recherchiert und über fünfzig alte Shellacs und Vinylplatten aus den Jahren 1948 bis 79 zusammengetragen. Man hört hier somit quasi der Ursuppe des Genres beim unkontrollierten Brodeln zu, ein Vergnügen, das man sich nicht entgehen lassen sollte. Ich habe lange keine so pralle, bunte Musik mehr gehört. Man fragt sich schon, warum man so viel Zeit damit verbringt, miesepetrigen Menschen mit Gitarren zuzuhören. Sampler der Saison!

Die Türen – ABCDEFG HIJKLMN OPQESTU VWXYZ (Staatsakt, bereits erschienen)
Irgendwo zwischen Die Sterne und Gebrüder Blattschuss bewegt sich das Werk der Hamburger Beinahe-Allstar-Band Die Türen um Sänger und Staatsakt-Labelinhaber Maurice Summen. Die Türen spielen geschmackvolle, federnde Hipster-Musik mit hyperreferenziellen Texten voller Haltungshumor. Einige Zeilen möchte man am liebsten sofort auf irgendwelche Szene-Toiletten kritzeln. Manchmal hätte es der Witze und Referenzen aber ruhig etwas weniger sein können, denn so gagreich Die Türen manches Auskenner-Problem auch festnageln, so sehr verstellen die Texte oft den Blick auf die Musik. Trotzdem: Eine gute Band – haltungsstark, wohlinformiert, feinnervig und dagegen. Für alle, denen Deichkind zu sehr nach Kiff und Konsole klingen. Und Sänger Maurice Summen ist, wie man im Clip zu „Leben oder Streben“ bewundern darf, ein begnadeter Tänzer.

Dr.Dog – Be The Void (Indigo, bereits erschienen)
Die Käuze aus Philadelphia mit einem neuen, gewohnt überbordenden, wenngleich deutlich Rock-lastigeren Album. Nachdem beim letzten Mal kundige Produzentenhände den Sound ein wenig glätteten, nimmt die Band hier wieder selbst das Heft in die Hand und nutzt das Studio als Instrument. Das Ergebnis ist ein leicht verwaschener Siebziger-Sound. Oft spielt das leicht umbesetzte Quintett so überschäumend auf, dass man meint, die Flaming Lips wären in Jam-Laune auf The Band gekracht. Zudem verfügen Dr. Dog über zwei Eigenschaften, die nicht jede dahergelaufene Indie-Band für sich beanspruchen kann: Soul und Humor. Wenn diese Schrate in Ihre Stadt kommen, tun Sie sich etwas Gutes und gehen Sie hin!

Lambchop – Mr. M (Cityslang, bereits erschienen)
Die Männer aus Nashville, kriegen mich immer wieder. Auf „Mr. M“ gedenkt Kurt Wagner, seines Zeichens Inhaber einer der lakonischsten Gesangsstimmen in der zeitgenössischen Populärmusik, gut drei Jahre nach dem letzten Lambchop-Album seines Freundes Vic Chesnutt, der sich am ersten Weihnachtstag des Jahres 2009 das Leben nahm. Wagner, der auch im Info ausführlich über seine (nicht nur) künstlerischen Zweifel nach Chesnutts Tod schreibt, formuliert es freilich anders: „This is a record of, and about, love and the healing, binding force that it represents“. In der typisch detailfreudigen Beziehungsstudie „2B2″ hört man dieses Thema besonders gut heraus. Wagners Band spielt dazu getupfte und konzentrierte Musik, die immer ein wenig klingt, als hätte es geschneit. Einige der Stücke sind wie letzte verschleppte Bewegungen kurz vorm Stillstehen: Die Pianos perlen, die Akustikgitarren schnarren, Percussion rasselt warm und das bloße Öffnen eines Hi-Hats wird hier manches Mal zum Ereignis. Ich finde ja, dass das Wort „atemberaubend“ allzu inflationär benutzt wird, gerade im Zusammenhang mit Kunst. Treppensteigen ist atemberaubend, Kunst hingegen selten. Hier aber kann man von mir aus „atemberaubend“ sagen.

Sharon Van Etten – Tramp (Cargo, bereits erschienen)
Man muss es sich als Singer/Songwriterin leisten können, ein Album titels „Tramp“ herauszubringen. Van Etten kann es! Als mir ein Freund im letzten Jahr zwei Songs von Sharon Van Etten schickte, da war ich vollkommen hin und weg von diesen sparsam, aber nie karg klingenden Liedern, denen es gelang, Nüchternheit und Melancholie zu verbinden. Das vorliegende Album hat die aus New Jersey stammende Van Etten mit dem The National-Multiinstrumentalisten Aaron Dessner in dessen Garage in Brooklyn aufgenommen. Hätte Van Etten nicht diese Stimme, ihre Lieder könnten vor lauter Ernst leicht etwas Grimmiges bekommen. Eine Platte, die Zeit braucht.

Deichkind – Befehl von ganz unten (Universal, bereits erschienen)
Die Rückkehr der Ballermänner. Die drei Pyramidenköpfe lassen die Abrissbirne wieder Kreisen und schenken der Welt eine weitere Platte, die an tristen Tagen wunderbar das Hirn durchputzt. Sicher, eine grundsätzliche Offenheit für Trash-Techno, Proll-Hop und Euro-Dance-Bedenklichkeiten sollte man schon mitbringen, um hier Freude zu haben. Ich finde ja, Deichkind hört man immer dann am besten, wenn man sich von einem guten Freund zusammen mit einer Stehlampe in Klarsichtfolie einwickeln, danach gut zukleben und dann mit laut eingeschalteter Anlage daheim herumstehen lässt: besser als Yoga, vertrauen Sie mir. Schade, dass das in Deutschland im Zusammenhang mit lustigen Menschen immer wieder so deutlich Kulturmagazin-artig gesagt werden muss, aber bei Deichkind geht es natürlich um mehr, als nur darum, die schlimme, graue Realität und Substanz-befeuerten Irrsinn aufeinanderkrachen zu lassen. Deichkind nämlich verfügen über etwas, woran es den meisten hiesigen Großraum-Blödelbarden und T-Shirt-Witzeerzählern gänzlich gebricht: Attitüde. Deichkind zünden ihren Psychedelic-Nonsense, Dada-Pop und Hirni-Hop stets von einem klar umrissenen Standpunkt aus. Damit stehen sie deutlich in der Tradition anderer Hamburger Irrer wie etwa Studio Braun oder den seligen Fischmob. Eine Jugend, die mit Deichkind aufwächst, kann nicht verloren sein!

Chimes Of Freedom – The Songs Of Bob Dylan (Fontana, bereits erschienen)
Bob-Dylan-Coverversionen: Gibt’s schon zu viele. Kann es nie genug von geben. Nerven wie Drahtseile. Reichen ohnehin nie an das Original heran. Gehen in Ordnung, solange sie nicht von John Baez oder Wolfgang Niedecken kommen. Man kennt die Standpunkte. Hier gibt es nun also gleich vier CDs voll mit Fassungen von Liedern des famosen Oheims. Ihrem Rezensenten gefallen auf dieser 4-CD-Kopplung zu Ehren von fünfzig Jahren Amnesty International besonders: Pete Townshends rührend zerschossene „Corrina, Corrina“-Bearbeitung und Sting (!) mit „Girl From The North Country“. Auch gut: Patti Smith, Mariachi El Bronx, Jackson Browne, Band of Skulls und Thea Gilmore. Lustig auch, dass so viele der Interpreten Dylans Gesangsstil imitieren oder variieren (am schönsten zu hören bei Raphael Saadiqs „Leopard-Skin Pill-Box-Head“ und Mick Hucknalls (!) „One Of Us Must Know“). Der Tiefpunkt ist auf Disc 3 erreicht, wo hintereinander Bad Religion und My Chemical Romance „It’s All Over Now, Baby Blue“ und „Desolation Row“ ermorden. Und wenn ich auch nur noch eine stumpfe „Knockin‘ On Heaven’s Door“-Fassung höre, die nach Superrockstar-Konzertfinale klingt, werde ich dem betreffenden Künstler nachreisen, um ihm oder ihr die Luft aus der Gitarre zu lassen.
Aber wissen Sie, liebe Uninteressierte, was ich mir in Punkto Dylan-Coverarbeiten wirklich wünsche? Eine komplette Neufassung des „Empire Burlesque“-Albums, egal nun, ob von einem oder mehreren Künstlern. Das wäre überhaupt mal eine Maßnahme: Schwierige, misslungene, fehlproduzierte oder anderweitig diskutable Platten von vorne bis hinten durchcovern, nicht immer nur die ganzen langweiligen Meisterwerke! Mit diesem womöglich inspirierenden Gedanken möchte ich Sie nun alleine lassen. Vielleicht finden Sie ja Zeit und Lust, daß „Berlin“-Album von Barclay James Harvest zu covern.


3 Lesermeinungen

  1. Ändy sagt:

    <p>Zu Bob Dylan Cover. Diese...
    Zu Bob Dylan Cover. Diese Version kennen Sie noch nicht, lieber Herr Pfeil. Läuft bei mir unter dem Motto: Tanz den Mythos. Viel Spaß damit. (Klick auf Webside)

  2. Trstn sagt:

    Lieber Ändy: sorry, aber um...
    Lieber Ändy: sorry, aber um dazu zu tanzen müsste man es ersteinmal länger als bis nach den zweiten Vers anhören können.
    Apropos tanzen: das kann Maurice Summen sicher nicht, aber er hat wirklich die moves like Jagger. Für eine Christina Aguliera-Perücke hat das Videobudget wahrscheinlich nicht gereicht, was das Sahnehäubchen an Referenzironie gewesen wäre. Toll!

  3. Ändy sagt:

    @ Trstn. Man kann den Song...
    @ Trstn. Man kann den Song ganz durch hören, wenn es nur teilweise gespielt wird, liegt höchstwahrscheinlich am verwendeten Browser. Bei Google Chrome – hab ich das auch hin und wieder – schmutzen die Flashplayer öfter rum, da geht es wohl auch um handfeste Interessen an künftigen Standards. Also, apropos Tanzen, man kann. 😉

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