29.03.
„Keine Kompromisse“: So lautet der Titel der Autobiografie des Kiss-Gitarristen Ace Frehley. Ich weiß ja nicht, was diese Rockmusiker immer mit der Kompromisslosigkeit haben. Wenn ihnen nicht unentwegt hinterhergeschrieben wird, sie seien zeit ihrer Karriere stets kompromisslos gewesen, dann schreiben die Musiker es eben selbst. Dabei sind Kompromisse ein nicht nur häufig beschrittener, sondern auch guter Weg, gerade in der Popmusik. Aber nein, Musiker, vor allem solche, die ihr langhaariges Treiben in den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrzehnts begonnen haben, müssen immerzu den Eindruck erwecken, ihr Leben sei eine einzige brüllende Kompromisslosigkeit gewesen. Ein Leben auf der Überholspur. Eine Kerze mit zwei brennenden Enden. Eine Achterbahnfahrt mit einem Zwölf-Kugel-Eis in der Hand. Dabei ist Musikmachen ja meistens schon von vornherein ein Kompromiss: Man einigt sich auf bestimmte Töne und ergänzt einander im gemeinsamen Spiel. Wenn man keine Kompromisse macht, entsteht dabei vermutlich automatisch Prog-Rock.
Sollte ich je eine Autobiografie schreiben, werde ich sie „Kompromisse all night long“ oder so ähnlich nennen.
01.04.
Ein belauschtes Gespräch:
Person 1: „Was ist eigentlich Prog-Rock?“
Person 2: „Prog-Rock, das ist, wenn hässliche Männer, die zwar eine Glatze, aber an der Seite lange Haare haben, Phantasiekostüme anziehen und überlange Lieder über Schwäne aufnehmen.“
04.04.
Zum zweiten Mal während der letzten zwölf Monate habe ich mir im Kino einen Juliette-Binoche-Film angesehen. Ich weiß nicht, warum. Der erste Juliette-Binoche-Film war schon schlimm. Den zweiten hätte ich mir also wirklich schenken können. Ich weiß nicht, was das soll mit diesen Juliette-Binoche-Filmen. Ich habe nach Juliette-Binoche-Filmen immer das Bedürfnis, mir alles von Insterburg und Co. anhören zu wollen. Ich besitze aber nur eine Insterburg-und-Co-Platte. Jetzt sitze ich also hier und höre immer wieder Insterburg und Co. Gleich lege ich auch noch Fips Asmussen auf. Alles nur wegen dieser Juliette Binoche.
06.04.
Ein guter Freund wirkt nebenberuflich als Discjokey. Für die Jüngeren unter uns: Ein Discjokey ist ein Mensch, der zur Erbauung anderer Menschen öffentlich Musik auflegt und damit in unterbeleuchteten Schankbetrieben den Getränkeumsatz ankurbelt. Neulich stand ich mit diesem Freund in einem nikotinvernebelten Laden, als sich dem ebendort auflegenden Kollege plötzlich die Technik widersetzte: Kein Ton war mehr zu vernehmen, und ganz gleich, an welchem Regler geruckelt wurde – es geschah nichts. Mein Freund nickte nur teilnahmsvoll und sprach: „Das hatte ich auch schon des Öfteren. In solchen Fällen hilft nur eins …“. Wann immer während seiner Darbietung die Technik ihre Dienste versage, so ließ er mich wissen, halte er einfach nur das Singles-Cover von Cameos „Word Up!“ mit ausgestrecktem Arm in die Höhe. Daraufhin fingen die Leute meist wild zu schreien und zu jubeln an. Wenn dann alles wieder in Ordnung sei, spiele er den zur Hülle gehörigen Song und der Raum gleiche einer hysterischen Abrissparty. Er habe es auch schon mit anderen Singles-Hüllen versucht, doch nur „Word Up!“ sei in der Lage, für einen derartigen Tumult zu sorgen.
08.04.
Was wäre die Welt ohne schlechte Ideen? Hier ein Auszug aus dem Plattenfirmeninfo zur drohenden Solo-Platte des Revolverheld-Gitarristen, Kris geheißen:
KRIS ist nicht nur Gitarrist und Songwriter bei Revolverheld, sondern auch ein äußerst entspannter Typ. Kein klassischer Mucker – sein erster großer Traum war es, Tennisprofi zu werden. Er war Hamburger Meister, Deutscher Vizemeister und Doppelpartner von Tommy Haas, bevor ihn sein Handgelenk zwang sich auf seinen zweiten Traum zu konzentrieren: die Musik. Revolverheld bestehen seit 2004 – alle Alben gingen Top Ten, es gab Goldawards und ausverkaufte Konzerte. Nach der Nominierung für „Spinner“ 2011 ist „Halt dich an mir fest“ als ‚Bester Radiosong‘ auch in diesem Jahr für einen ECHO im Gespräch.
Die Pause, die Revolverheld sich für 2012 selbst verordnet haben, nutzt Kristoffer Hünecke alias KRIS, um sein Solodebüt zu veröffentlichen. (…) Es wurden 12 Tracks, die unbeschwert durch die Genres rocken; Geschichten, die ihn durchsichtig werden lassen und Grooves, die auf den Punkt kommen. KRIS schreibt Musik, die das Licht ausmacht, die Chips holt und auf Play drückt. Patrick von Strenge, Director Marketing Columbia Four Music, freut sich auf die Veröffentlichung: „Für uns ist ein Soloalbum eines Revolverhelden Ehrensache. KRIS, sowie die ganze Band, sind Stammspieler unseres Columbia Four Music Rosters“.
Toll, endlich wieder Musik, die die Chips holt!
09.04.
Die Egal-Band Europe hat ein neues Album aufgenommen. Gemeinsam mit dem Produzenten Kevin Shirley. Offenbar verlief die Zusammenarbeit mit eben jenem Gentleman ausnehmend zufriedenstellend, denn Europe-Sänger Joey Tempest weiß nur Gutes zu berichten und verwendet hierbei so ziemlich jede Hohlphrase aus dem Katalog der Rockmusiker-Sprüche: „Kevin Shirley hat es geschafft, uns als Band zu verstehen. Er hat uns einfach unser Ding machen lassen und dabei uns und unsere Songs ins Unendliche gepusht. Endlich konnten wir uns vollkommen öffnen und fallen lassen, ganz ohne Fesseln. Direkt aus unseren Herzen und Seelen. Es hat eine Weile gedauert, aber wir sind endlich angekommen.“
10.04.
Ich habe übrigens nichts gegen Prog-Rock. Während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich selbst aus wie ein Prog-Rocker.
11.04.
Der Juliette-Binoche-Film erreicht übrigens seinen flach gelegenen Höhepunkt in jener Szene, da ein nackter Mann Akustikgitarre spielt und dazu sentimentales Zeug singt. Ich weiß seither nicht recht, ob es eine besondere Anmut oder eine besondere Lächerlichkeit hat, wenn nackte Männer Gitarre spielen. Und nein, es hat nichts damit zu tun, welcher nackte Mann – ein Revolverheld, Ace Frehley oder mein Nachbar – zur Gitarre greift.
Ich halte jetzt die „Word Up“-Single in die Luft und gehe nach draußen. Tennisspielen mit Tommy Haas und Ace Frehley. Ich werde mich ins Unendliche pushen. Keine Kompromisse!
PLAYLIST
Michael Hurley – Snockgrass, Long Journey, Armchair Boogie (Ähnlich wie J.J. Cale ist Hurleys schrullige Hängemattenmusik in der Lage, dem Hörer vorzuführen, mit wie viel Mist er seine Ohren doch tagtäglich beschäftigt)
SJ Andrej presents: Lift It Up – Sampler des Gutfeeling-Labels. Die Platte versammelt alte Folk-Shellacs aus aller Welt. Passt gut zu Hurley.
Wolfram Wire – Strom – Freunden seltsamen Heimgefrickels sei diese stark limitierte Vinyl-only-Veröffentlichung wärmstens ans Herz gedrückt: Wolfram Wire denkt auf diesem Freistil-Werk Sinus-Gezirpe, Robert Wyatt und die Residents zusammen. Für diese Musik wurde dereinst das schöne deutsche Wort „verschroben“ erfunden.
Prince Jammy – Kamikazi Dub – Eine meiner liebsten Dub-Platten überhaupt. Ein überstrahltes, wuseliges Werk in King-Tubby-Tradition. Essentiell!
groß-ar-tig!...
groß-ar-tig!
Warum steht in dem neuem...
Warum steht in dem neuem Beitrag kein Wort über die neue Platte „Locked Down“ von Dr. John ? Stattdessen KRIS … noch nie von dem gehört …
"Geschichten, die ihn...
„Geschichten, die ihn durchsichtig werden lassen …“
Igittigitt – ein neuer von Hagens?
„… und Grooves, die auf den Punkt kommen.“
Wär ja noch schöner, wenn das ein Groove nicht täte.
Sehr schön, Herr Pfeil
Die Zukunft der Popmusik liegt...
Die Zukunft der Popmusik liegt nun einmal in ihrer Vergangenheit, das war immer schon so, das fing nicht erst mit den Rolling Stones und Muddy Waters an.
Das langhaarige, glockenhosige, progressive Rocktreiben der endlosen 1970er Jahre hat einen Namen: Van der Graaf Generator mit den LPs „The Least We Can Do Is Wave To Each Other“ oder „H to He – Who Am The Only One“. Ja, genau so.
Al Stewart’s „Time Passages“ ist auch so eine LP, die ich des Prog-Rocks verdächtige, yes, und dann natürlich YES und Emerson, Lake und Palmer. Als akzeptabler Prog-Rock geht für mich als Jugendlicher der 1980er Jahre nur „Magic Bus“ von The Who durch.
Die lustigste Gruppe der 1970er Jahre dürfte aber MUD sein, die hatten eigentlich keine langen Haare, sie gingen halt nur fast nie zum Friseur. Der Gitarrist in den Frauenkleidern (Frauenrock war damals wirklich nur ein Frauenrock), Rob Davies, ist wahrscheinlich immer noch ein erfolgreicher Dancefloor-Produzent.
Die meisten Rockmusiker sind allerdings tatsächlich kompromisslos, als Redakteur bei der FAZ kann man sich das natürlich kaum vorstellen – jeder Musiker/Künstler muss sich zwingen oder er muss gezwungen werden, mit oder ohne Drogen und/oder Geld, alles Egomanen, Tyrannen, Diktatoren, Unterdrücker.
Oder man macht Free-Jazz, frei nach dem Motto „zugleich anfangen und zugleich aufhören“. Heute gibt es fast nur mehr einsame Solo-Projekte mit Begleitmusikern. Hab dank, du Diktatur der Kunst!
Mozart beispielsweise komponierte, dirigierte vom Cembalo aus, organisierte, plakatierte selber die Veranstaltungen, nichts gab er aus der Hand, und als Klavierlehrer spielt nur er, die Schüler mussten zuschauen.
Die einzig demokratische Band waren nicht einmal die Beatles, fast nie durfte George Harrison zeigen was er kann, immer nur die einen zwei, wobei der andere seit 40 Jahren eigentlich so gut wie keine Nummer mit Bedeutung derschreibt.
Diese Zeilen sind übrigens ein illegal downgeloadeter Vorgeschmack aus Eric Pfeils vorweggenommenen Memoiren mit Titel „Von einem CD-Vertilger, der auszog, um der Pop-Welt den Spiegel vorzuhalten und sich dabei trotzdem selbst treu geblieben ist“. Schon jetzt ein Buch des Jahres.
Guten Progrock gibt es wie...
Guten Progrock gibt es wie Sand am Meer. Gerade erst ist die neue CD von den Flower Kings erschienen. Heute gibt es sogar wesentlich mehr Progbands als in der Hochphase in den 70er, nur die Publikumsmedien zieren sich, diese auch wahrzunehmen. Fast alle Bands und CD`s kann man unter https://www.babyblaue-seiten.de entdecken.