Manchmal stehen in den Begleitschreiben, die Plattenfirmen ihren Promo-CDs beilegen, tolle Sachen. Im Text der verdienstvollen Firma Cargo zum neuen Werk des Dead Rat Orchestras heißt es zu Beginn:
„Das neue Album von DEAD RAT ORCHESTRA wurde ursprünglich als Soundtrack zur BBC Dokumentation „The Guga Hunters of Ness“ aufgenommen, die zehn Männer aus der Gemeinde Ness auf der Isle of Lewis verfolgt, die sich auf die traditionelle Jagd nach Tölpeln begeben.“
Es hat eine Weile gebraucht, bis mir klar wurde, dass es sich bei den erwähnten „Tölpeln“ nicht etwa um ungeschickte Inselbewohner, sondern um Seevögel handelt. Daraufhin verbrachte ich eine halbe Stunde damit, darüber nachzusinnen, was es wohl über mich aussagt, dass ich allen Ernstes eine BBC-Dokumentation über die traditionelle Jagd nach tollpatschigen Inselbewohnern auf den Hebriden für denkbar hielt. Dann war ich kurz traurig, dass es sich nur um Vögel handelt. Tradition enttäuscht eben meistens, wenn man sich ihr nähert. Darauf tat ich das womöglich Naheliegende und hörte mir die CD des Dead Rat Orchestras an. Eine sehr schöne Platte, auf der die drei Mitglieder des Orchestras unter Zuhilfenahme von Harmonium, Geigen, Holzstümpfen (!), Orgelpfeifen und Jagdhörnern wunderbar seltsame Instrumentalmusik machen. Instrumentalmusik, die klingt wie aus einer Doku über Tölpeljagd.
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Manchmal schreiben Plattenfirmen auch komische Sachen.
Auf dem Label Cherry Red erschien früher mal allerhand faszinierende Musik. Heute erscheint auf Cherry Red auch allerhand nicht so faszinierende Musik. Derzeit kümmert man sich unter anderem um den Backkatalog der beliebten Chanteuse Samantha Fox („Touch Me“). Dazu trötet der Postillon von Cherry Red:
„SAM FOX IS AVAILABLE FOR INTERVIEWS! These releases feature classic PWL tracks and plenty of unreleased material. Sam is still very active in the music scene and has many exciting projects in the pipeline…“
Hm, also wenn ich behaupte, „many exciting projects in the pipeline“ zu haben, dann darf davon ausgegangen werden, dass es vor Leere nur so hallt in meiner Pipeline. Hierzulande ist es ja schon länger verpönt, von „aufregenden Projekten“ zu faseln, zumal solchen, die sich in Pipelines abspielen, aber vielleicht ist das in England noch gang und gäbe. Was genau das wohl für „interesting projects“ sind, die Frau Fox da so laufen hat? Bestimmt irgendetwas mit Boy George, das ist auch so einer, in dessen Pipeline es sich nur so quetscht und drängelt. Wobei: Boy George, so las ich eben auf der Homepage des Rolling Stone, hat jetzt Lana del Rey gecovert. Das ist doch schon ein ziemlich ausgewachsenes Projekt. Rasch weiter …
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Vielleicht sollte ich ja einen Dokumentarfilm über die Tölpel-Jagd in meinem Viertel drehen? Doch Obacht: Lehren nicht zahlreiche Filme und Bücher, dass der Jäger oft recht schnell zum Gejagten werden kann? Nicht, dass bald ein paar Tölpel einen Dokumentarfilm darüber drehen, wie sie einen nervigen Schreiber durchs Viertel jagen und womöglich noch irgendeine Band einen tollen Soundtrack dazu komponiert. Wobei: Falls dem Film ein Erfolg beschieden wäre, könnten Leute, die meiner auf der Straße ansichtig werden, ausrufen:
„Schaut, da geht der Typ aus dem Film, in dem ein paar Tölpel diesen Schreiber jagen! Weißt du noch, der Film mit dem tollen Soundtrack von The Notwist!“
„Ach, den fand ich gar nicht so gut. Aber haben die Tölpel den Schreiber nicht am Schluss bekommen?“
„Doch, aber sie haben ihn nur verprügelt, dann ist er wohl ausgebrochen.“
„Hm, ja, stimmt wohl. Ich glaub, ich fand den Film ziemlich albern und konstruiert. Und diese mäandernden Doku-Filmmusiken von Indie-Bands, die schon immer mal was mit „Film“ machen wollten, können mir auch gestohlen bleiben.“
„Boah, was ist denn los? Ich wollte dir nur den Typen zeigen und du pampst hier so los. Das geht den ganzen Tag schon so, ich glaube, du bist noch sauer auf mich, weil …“
Der Ton wird langsam runtergezogen, pluckernde Notwist-Musik setzt ein, das Bild wird unscharf. Abspann.
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Stephen Malkmus zeigt sich bei seinem Kölner Konzert in Hochform. Musikalisch sowieso (er spielt seine Gitarre inzwischen fast ausnahmslos hinter dem Kopf und auf einem Bein stehend), aber auch, was seine Ansagen betrifft.
Den Song „Jenny & The Ess-Dog“ moderiert er wie folgt ab: „It’s a timeless song. We played this one in Afghanistan recently. With the Foo Fighters and Kid Rock.“
Am Schluss bedankt er sich für das Vorprogramm (es gab keins) bei Van der Graaf Generator und „the guy with the talking eel“.
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Details: Dem Musiker Brian Lopez, der erst vor wenigen Wochen ein schönes Konzert im King Georg spielte, gelingt es, während seines Auftritts mit Giant Giant Sand für die gesamte Länge des Konzerts mit nur einem einzigen Gesichtsausdruck auszukommen. Was genau des Musikers Antlitz ausdrückt, bleibt indes rätselhaft: Langeweile? Verdruss? Gleichgültigkeit? Konzentration? Widmung? Versunkenheit? Völlegefühl? Heimweh? Professionalität?
Überhaupt ein faszinierendes Konzert: Ganze elf Musiker stehen auf der Bühne, darunter auch eine Violinistin, die auf ihrem Rücken einen Säugling (mit riesigem Gehörschutz) trägt. In der Mitte des Konzerts wacht das Kind auf, just als gerade eher besinnliche Töne angeschlagen werden. Die Folge: Die Violinistin muss, um das Kind wieder in den Schlaf zu wiegen, im Bühnenhinteren herumtanzen, was allerdings gar nicht zur ruhigen Musik passen will. Sieht toll aus.
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Die Platten von J.J. Cale sind nicht nur wegen J.J. Cale so gut. Einen Großteil zum Gelingen tragen die famosen Studiomusiker und Cales Producer Audie Ashworth bei, dem wohl ein Großteil dieser beispiellos versunkenen Stimmung auf den Siebziger-Platten des Meisters zu verdanken ist.
Am besten gefallen mir ansonsten die Schlagwerker, die Cale und Ashworth beschäftigten. Über den tollen Kenny Buttrey (spielt auch auf den Dylan-Platten von 1966 bis 1968 und auf Neil Youngs „Harvest“) schrieb ich ja hier schon vor einiger Zeit. Beinah noch faszinierender aber ist das, was der Trommler Kenny Malone beim Song „Crying“ (vom Album „Okie“) veranstaltet, bzw. NICHT veranstaltet. Der Mann klopft hier nämlich einen Trance-Rhythmus oberster Kanüle, den auch der Wunderschlagzeuger Jaki Liebezeit nicht besser hinbekommen hätte.
Man sollte aufgrund der Aufnahme annehmen, Malone sei ein Stirnband- und Fransenjackenträger auf Lebzeit; tatsächlich verraten Recherchen, dass es sich bei Malone um einen freundlich wirkenden älteren Herrn handelt, der auch eine Trattoria im Ruhrgebiet leiten könnte. Inzwischen hat sich der Mann (der auch für Guy Clark, Townes van Zandt, Johnny Cash, Waylon Jennings uva. spielte) auf das „hand drumming“ verlegt und gilt hier wohl als Koryphäe. Er unterrichtet auch, veranstaltet Workshops und hat die DVD „Drumming with your Hands“ veröffentlicht, die ich schon jetzt fünf mal mein Eigen nenne..
Ich stehe Trommel-Workshops zwar mit beinah ebensoviel Skepsis gegenüber wie Sonntagnachmittagen in der Kletterhallen. Bei Malone allerdings würde ich sofort ein Ticket zur Trommel-Glückseligkeit lösen und mich auf einem seiner Workshops in lallende Ekstase klopfen. Hernach wäre ich wohl einer zünftigen Tölpel-Jagd in einer nahegelegenen Pipeline nicht abgeneigt.
PLAYLIST
Dead Rat Orchestra – „The Guga Hunters Of Ness“ (s.o.)
Lucio Battisti – „Il Mio Canto Libero“ und „Il Nostro Caro Angelo“ (Ich komme in diesem Jahr immer wieder zu diesen beiden Früh-Siebziger-Prachtplatten des Meisters zurück. Kann man nicht genug hören. )
Zeus – „Busting Visions“ (Zweites Album von Jason Coletts Backingband. Diesmal noch bunter, quietschiger und eklektischer. Die ELO des Indie?)
Kid Kopphausen – „I“ (Unangestrengter Deutschrock und lässige Neo-Liedermacherei mit Auf-der-Walz-und-Blume-im-Mund-Gestus. Ich wandere mit.)
J.J. Cale – alles bis 1980
The Rolling Stones – „Sticky Fingers“ und „Black and Blue“ (Ein offizielles Meisterwerk und eine häufig übergangene Perle.)
Loredana Berté – „Bandaberté“ (Eine der besten Platten der launischen Italo-Kratzbürste. Mit „… E La Luna Busso“ drauf.)
John Hiatt – „Mystic Pinball (Der Alte hat einen Lauf. Das vierte Spitzenwerk seit 2008. Man nennt das wohl Roots-Rock. Von mir aus.)
Lee Hazlewood – „The LHI Years“ und „A House Safe For Tigers“ (Nein, es kann gar nicht genug Lee-Hazlewood-Reissues geben. Album Nummer 1 versammelt Singles und Obskures, Platte Nummer 2 dokumentiert die seltsame Schweden-Phase des Schnäuzermannes.)
Giant Giant Sand – „Tucson“ (Natürlich zerfasert die „Country Rock Opera“ von Howe Gelb und Mitstreitern ein ums andere Mal, aber wie immer finden sich Perlen zuhauf. Etwa „Caranito“ oder das verwehte „Plane of Existence“.)
Stephen Malkmus & The Jicks – „Mirror Traffic“ (Das jüngste, von Beck produzierte Album. War zum Zeitpunkt der Veröffentlichung an mir vorbeigegangen.)