„Are you THAT Thomas, that German guy?“ Leider nein – die Dame am Empfang ist ein bisschen enttäuscht. Doch als sie hört, dass man ihn kenne und sogar begleiten werde auf seiner Reise, als mitreisender Journalist, hellt sich ihr Gesicht schnell wieder auf: „Great, crazy man!“ Wie Recht sie hat: Dieser Thomas Dold ist ein crazy man, und für solche haben die Neuseeländer per se eine Schwäche. Kaum ein Land der Welt begeistert sich so für sportliche Extreme wie die beiden Inseln im Südpazifik, deren Bewohner mitunter fürchten, irgendwann von der Weltkarte zu rutschen, ohne dass es jemand merkt. Und wer immer nach Neuseeland kommt, um dort im freien Fall von Häusern zu stürzen, im Speedboat tosende Wildbäche hinunter zu rasen oder im Innern einer mit Wasser gefüllten Plastikkugel bergab zu rollen, wird mit großem Hallo empfangen. Als einer der ihren – als eventorientierter Kiwi ehrenhalber.
Auch Thomas Dold ist in Auckland schon so etwas wie eine Attraktion, bevor er überhaupt neuseeländischen Boden betreten hat. Fast jeder hier hat schon von dem wahnsinnigen deutschen Treppenläufer gehört, der schneller als jeder andere die höchsten Türme der Welt hinaufhetzt und dabei Weltrekorde sammelt wie andere Briefmarken. Das Empire State Building in New York, der Messeturm in Frankfurt, der Donauturm in Wien: Sie alle hat Dold schon bezwungen, die meisten von ihnen als schnellster. Aber dieser hier, der Sky Tower in Auckland, mit 328 Metern der höchste der südlichen Hemisphäre, fehlt ihm noch in seiner Sammlung. „Ich will der Schnellste sein, das wollte ich immer schon“, sagt der 25 Jahre alte Extremsportler über sich. Deshalb reist er als Treppenläufer um die Welt, deshalb ist er nach Neuseeland gekommen. Auch wenn der Plan seiner Reise streng genommen ein anderer ist. Eigentlich will Dold in den nächsten acht Tagen im Rückwärtsgang das Ende der Welt erkunden – eine Art Entspannungsübung für einen Athleten, der rückwärts schneller läuft als die meisten vorwärts und, wie könnte es anders sein, auch in dieser Disziplin diverse Rekorde hält. „Das ist besser für die Muskeln“, sagt Dold lapidar auf die immergleiche Frage, warum um Himmels Willen er denn rückwärts durch die Gegend laufe – so sieht er das: nutzenorientiert. Und weil, was ihm nutzt, auch ein Vergnügen ist, läuft er eben rückwärts und hat Spaß daran – das Dold-Prinzip, wenn man so will.
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Doch vor das Vergnügen hat Gott nun einmal die Arbeit gesetzt, was im Fall von Thomas Dold heißt: die Stufen kommen vor dem Rückwärtsgang. Also steht der Treppen-Profi an diesem sonnigen Donnerstagmorgen startbereit am Eingang des Sky Towers in Auckland – und stapelt erst einmal tief. Denn der Rekord im Turm liegt bei 05:17 – eine Zeit, vor der sogar ein Thomas Dold Respekt hat. „Das wird ganz hart“, murmelt der Badener, während er sich am Treppenanfang aufwärmt, „wenn ich auch nur in die Nähe des Rekords komme, bin ich schon froh.“ Schon da hätte man es wissen können: Wenn er so was sagt, dann klappt’s sicher. Von wegen Jetlag („Du, heute morgen bin ich nicht so fit, ehrlich nicht. Wenn ich kollabiere, lass mich einfach liegen!“). Tiefstapler!
Volle Konzentration jetzt. Dold schließt die Augen, die Muskeln spannen sich – „three, two, one…“ – beim „Go!“ des Sky-Tower-Mitarbeiters, den man für diesen halboffiziellen Wettkampf kurzerhand als „Schiedsrichter“ engagiert hat, ist Dold schon vier Stufen höher. Immer zwei auf einmal jetzt, hoch bis zum Absatz, dann mit der Hand am Geländer herum und den Schwung mitnehmen, und nicht aus dem Tritt kommen dabei. Doch die Stufen hier in Auckland sind gut, das hat sich schon bei der „Streckenbegehung“ gezeigt; vergleichsweise tief und flach, viel flacher als etwa in Taipeh, das erleichtert die Sache. Auch wenn auf Dreiviertelhöhe das Treppenhaus gewechselt werden muss, durch mehrere Türen hindurch – erhöhter Schwierigkeitsgrad. „Come on, Thomas“, brüllt einer noch ins Treppenhaus hinterher, „you’ll get it.“ Doch das hört der im zweiten, dritten, sechsten Stock längst nicht mehr.
Für den mitreisenden Rekordjäger-Journalisten (und eine gute Handvoll Sky-Tower-Personal, das den ganzen Turm vorsichtshalber für eine Stunde gesperrt hat und aufgeregt mit Funkgeräten herumwuselt) heißt es nun schnell sein: Unten am Treppenanfang schnell den Start fotografieren, mit dem ganzen Tross rüber zum Fahrstuhl hetzen, rauf in den 53. Stock, herum um die Ecke und bis ans Treppenende – und dabei hoffen, dass Thomas Dold einen dort nicht schon erwartet, so schnell, wie der ist. Und richtig: Kaum ist der Lift oben und die versammelte Mannschaft endlich am Treppenabsatz, hört man schon die Schritte – und das Keuchen.
Bei 04:53:91 bleibt die Uhr stehen; spontaner Jubel bricht aus: Er hat es tatsächlich geschafft und die Zeit von 05:17 um über 20 Sekunden unterboten. Aus dem Stand und unter schwierigen Umständen in einem unbekannten Turm – was war noch gleich ein Jetlag? Das Sky Tower-Personal ist in heller Aufregung – und Auckland um einen Rekord reicher. Thomas Dold, längst wieder bei Puste, sieht’s gelassen. „Ha ja, lief ja doch ganz gut“, sagt er danach mit einem Grinsen, als sei nichts gewesen. Und nur wenig später – um sich kurz darauf schon wieder zu verabschieden. Noch eine leichte Trainingseinheit durch Auckland steht an – crazy guy. Alle anderen lassen heute den Lift Lift sein – und nehmen die Treppe hoch ins Hotelzimmer.