Der Neuseeländer an sich blickt gerne zurück, das hat er mit professionellen Rückwärtsläufern gemeinsam. Jedes „alte“ Haus, das in diesem jungen Land schon 100 Jahre nach dem Bau als solches bezeichnet wird, ist damit automatisch eine Attraktion. Und wann immer man Neuseeländer fragt, wie das denn damals eigentlich war mit den Siedlern und den Briten – oder auch mit der letzten Pleite im Nationalsport, dem Rugby, wird bereitwillig und ausführlich Antwort erhalten. Auch auf ihre Fauna respektive das, was von ihr in den letzten Jahrhunderten auf der Strecke geblieben ist, schauen die Kiwis jederzeit ausgiebig zurück. Wichtig für das tierische Selbstverständnis der Nation sind eigentlich nur zwei Tiere, und beide sind Vögel: der Kiwi, fast ausgestorben, seit die Possums aus Australien eingeschleppt wurden und sich über die Maße an den flugunfähigen Tieren labten. Deshalb ist der Kiwi Sympathieträger Nummer 1 und wird kollektiv gepäppelt. Und der Moa, dem derlei Hilfe leider nicht zuteil wurde. Bis zu zwei Dutzend Arten existierten einst von den bis zu 4,50 Metern großen Vögeln, deren Knochen an vielen Stellen der beiden Inseln gefunden wurden. Bis zu fünf Zentner sollen sie schwer gewesen sein – damit waren sie ziemlich sicher die größten gefiederten Tiere, die es je gab. Bis die polynesischen Siedler kamen und wegen ihres Fleisches und der langen, hübschen Federn Jagd auf sie machten. Noch bevor die Weißen neuseeländischen Boden betraten, waren die Moas ausgerottet.
Auch deshalb mag es wie die vielen Neuseeländern eigene Art der Ironie wirken, dass ein Unternehmer vor einigen Jahren kurzerhand beschloss, die Jagd auf die Moas wieder einzuführen: Der Besitzer der „Moa-Brewery“, einer Bierbrauerei aus der Gegend von Blenheim im Norden der Südinsel, hatte die Idee, alljährlich einen „Moa Hunt“ zu veranstalten, einen anspruchsvollen Mountainbike- und Laufwettbewerb durch die malerischen Hügel der Kaikoura-Küste am Pazifik. Die Einheimischen waren gleich Feuer und Flamme. Symbolisch auf Moa-Jagd zu gehen, und dabei sich noch sportlich zu betätigen, das ist ganz nach dem Sinn der eventorientierten Kiwis.
Auch ein Thomas Dold lässt sich so etwas selbstredend nicht entgehen, wenn er schon mal im Land ist. Auch wenn das Wetter an diesem äußerst trüben Morgen so gar nicht nach seinem Läufergeschmack ist: um die 10 Grad kalt, heftiger Nieselregen, tiefer Matsch auf dem Track. Die Einheimischen, die mit Sack und Pack angereist sind und sich die Wartezeit bis zum Start im Restaurant nebenan mit einem Kaffee vertreiben, kann das indes nicht erschüttern: Sie kennen ihre Inseln – und das Wetter. Verlassen kann man sich auf nichts, sagen sie – wie recht sie haben. Über 21 Kilometer geht der Lauf, Stock und Stein und unwegsames Hügelland – eine Herausforderung nicht nur für Dold, sondern auch für die zahlreichen Mountainbiker, die als erste an den Start gehen. Um die 200 sind an diesem Morgen nach Kekerengu gekommen, Läufer nur etwa 40. Ihr Renn-Paket haben sie alle schon bekommen, auch Thomas Dold: Startnummer, Chip für die Zeitmessung, Karten – und eine Trillerpfeife. Falls einer im dichten Nebel verloren geht. Davor haben sie Angst beim Moa Hunt, seit im Jahr zuvor ein Teilnehmer in einen Abgrund stürzte und tragisch umkam. In diesem Jahr allerdings wird zum Glück keine der Trillerpfeifen benötigt, alle Mountainbiker und Läufer kommen heil im Ziel an – bis auf diejenigen, die vorher aufgeben, heißt das. Thomas Dold, obwohl ein bisschen „unfit“, wie er vor dem Start noch gesagt hat, startet als erster Läufer etliche Minuten nach den Mountainbikern – und hat die ersten schon nach den ersten Kurven eingeholt. Und als er 1:22 Stunde später wieder aus dem Nebel auftaucht und ins Ziel einläuft, wen kann es da noch überraschen, dass da längst noch nicht alle Biker die Ziellinie gesehen haben? Natürlich gewinnt Dold dieses Rennen, und natürlich deklassiert er die Konkurrenz: Elf Minuten Vorsprung vor dem zweiten, das ist mehr als eine Welt. Die Kiwis stört’s trotzdem kaum: Der Weg ist das Ziel.
Vielleicht aber sind die Neuseeländer aus Kekerengu und Umgebung auch deshalb noch entspannter als viele ihrer sowieso schon entspannten Landsleute, weil ihre Heimat neben der Moa-Jagd noch so viele andere Möglichkeiten der Entspannung bietet: zum Beispiel den Wein. Vor allem die Gegend um das kleine Städtchen Blenheim mit ihrer weiten, von zwei hohen Gebirgszügen umschlossenen Ebene ist ideal für den Traubenanbau- und ist Neuseelands größte und am schnellsten wachsende Weinregion. Innerhalb weniger Kilometer gedeihen hier völlig verschiedene Trauben, und selbst eine einzige Rebsorte kann hier eine völlig andere Charakteristik erhalten, je nachdem ob sie auf der See- oder der Landseite der Kaikoura Range wächst, die das Tal vom oft rauen Pazifik an der neuseeländischen Ostküste schützt. Auch wenn die Weinregion für das europäische Zeitempfinden gerade erst gegründet wurde – die ältesten Weingüter um Blenheim herum haben höchstens 70 Jahre hinter sich, die meisten eher um die 30 -, haben sich die Winzer in Marlborough längst einen Namen besonders für ihre fruchtigen Weißweine gemacht, die ohne weiteres international konkurrenzfähig sind. Als Spezialität gilt der Sauvignon Blanc, aber auch Chardonnay oder Riesling werden in der Region angebaut – und sind teils mehrfach preisgekrönt. Wer den Moa trotz langen Suchens nicht gefunden hat, wird’s deshalb verschmerzen können – und längst bei einer ausgedehnten Weinprobe in einem der Vineries sitzen.