Der erste fällt nach drei Schritten um, sein Kollege nebenan hält länger durch. Er schafft stolze fünf, bevor er stolpert und sich mit dem Hosenboden auf dem weichen Gras wiederfindet. „That is fun“, er gluckst zufrieden. 200 Meter weiter dagegen, hinten am „Zieleinlauf“, fließen dicke Tränen: Thomas war schneller, das kann doch alles nicht wahr sein. Weinend flüchtet der fünfjährige Matt zu seiner Mama, die rasch die tröstenden Worte findet: Der Thomas ist doch auch viel älter als Du, überleg mal, 25! Kein Wunder, dass der schneller ist! Das scheint Matt einzusehen, schon sind die Tränen versiegt. Einen Moment später steht er wieder am Start, der Rücken in Richtung Ziel, und wartet auf das Zeichen: Three, two, go! Dann läuft der kleine Matt zum zweiten Mal in seinem Leben rückwärts.
So einen Freitagmorgen wie diesen haben die Grundschüler der Kokatahi-School in Hokitika, einem kleinen Dörfchen an der neuseeländischen Westküste, wohl noch nicht erlebt: Ein Rückwärtsläufer ist zu Besuch, und einer aus dem fernen Deutschland noch dazu, der ihnen das Rückwärtslaufen beibringen will. Das ist Thomas Dolds Mission an diesem letzten Tag seiner Reise, weshalb er sich in ein winziges Flugzeug gesetzt hat und von Christchurch hinüber an die Westküste geflogen ist – sehr zur Freude der beiden Lehrer aus Hokitika, die eine Stunde Pause gut und gern gebrauchen können. Doch zum einen spricht Dold gern über das Rückwärtslaufen, und zum anderen ist die Kulisse so fantastisch, dass auch der letzte Gedanke, die Trainingsstunde könne ernsthaft in Arbeit ausarten, schnell verfliegt: Auf der einen Seite rauscht der Pazifik, auf der anderen Seite ragen die schneebedeckten Gipfel der Southern Alps in den wolkenlosen Himmel. Und genau dazwischen, auf der grünen Wiese, steht Thomas Dold nun also vor 37 neuseeländischen Grundschülern, um ihnen zu zeigen, wie man sich richtig auf Wettkämpfe vorbereitet. Erst leichtes Einlaufen, vorerst noch in der richtigen Richtung, dann ein paar Treppenübungen auf den Stufen der kleinen Tribüne, und bei alledem immer locker bleiben. Zwischendurch löchern die Schüler den Gast aus Deutschland mit ihren Fragen. „Wie schnell läufst Du rückwärts?“, will ein kleiner Knirps wissen, „wie viele Stufen hat das Empire State Building, wo Du gewonnen hast?“, ein anderer, schon etwas Älterer. Dold antwortet seelenruhig, erklärt die Vorzüge des Rückwärtslaufens („damit verletzt Ihr Euch weniger“), gibt Tipps vom Profi („Schaut Euch manchmal kurz um, dann wisst Ihr, wohin Ihr lauft!“ und hat bei alldem genauso einen Riesenspaß wie die Kinder und ihre Lehrer. Völkerverständigung rückwärts, wenn man so will.
Drei, vier Mal laufen die Kinder schließlich gemeinsam mit Dold rückwärts, und während die Kleinsten danach erschöpft, aber sichtlich glücklich auf ihren Bus zurück in die Schule warten, erörtert der deutsche Aushilfslehrer mit seinen neuseeländischen „Kollegen“ noch ausführlich die medizinischen Vorzüge des Rückwärtslaufens und dessen Bedeutung für die motorische Entwicklung in jungen Jahren. In ein paar Jahren werde er wiederkommen, sagt Dold zum Abschied scherzhaft, um sich anzuschauen, wie sich das mit dem Rückwärtslaufen gemacht habe in Neuseeland. Vielleicht erinnern sich die Kinder von Hokitika dann noch an diesen Deutschen, der ihnen einmal an einem sonnigen Tag das Rückwärtslaufen beibrachte. Und vielleicht gehört das Rückwärtslaufen dann längst zum ganz normalen Sportunterricht zwischen Auckland und Dunedin, wer weiß.
„Ein tolles Land“, sagt Thomas Dold später beim Essen, als die Kinder von Hokitika längst zu Hause sind, „einfach ein tolles Land“. Wie Recht er hat: Wer einmal das andere Ende der Welt bereist hat, will schon im Moment des Abschieds wiederkommen – in kaum einem anderen Land fühlt sich das Wort „bezaubernd“ so richtig an wie hier. Auf Wiedersehen, Neuseeland, Ka kite ano, unsere Rückkehr ist Dir gewiss. Auch wenn es beim nächsten Mal dann ausschließlich vorwärts vorangeht.