Als Kind glaubte ich, die Klappentexte der Bücher verkündeten die reine Wahrheit. Man müsste einmal errechnen, wie viele tausend junge, begeisterungsfähige Menschen durch die Prosa der Suhrkamp-Werbeabteilung ins Reich der modernen Literatur gelockt wurden, manchmal auch zu abseitigen Autoren, die nur im Suhrkamp-Universum einen Namen trugen.
Hin und wieder klangen die Sätze auf dem Buchrücken so verheißungsvoll, dass ich nach der Lektüre eines Romans, der mir nicht gefallen hatte, darüber nachgrübelte, wie die Enttäuschung zu erklären sei. Hatten die Marketingexperten etwas begriffen, was mir entgangen war? Offenbar musste ich noch einiges lernen, bevor sich mir die Geheimnisse der modernen Literatur, wie Suhrkamp sie verstand, erschließen würden.
Ein paar Jahre darauf begann ich ein dreizehnbändiges Wek zu lesen, auf dessen olivfarbenen Umschlagklappen gar nichts stand. Auch die Rückseite war leer. Die selbstbewusste Geste der Suhrkamp-Gestalter beeindruckte mich tief. Der Name des Schriftstellers musste von so weltliterarischer Selbstverständlichkeit sein, dass sich außer den Minimalangaben zu Autor und Titel (sie waren ohne Bild oder Gattungsbezeichnung nüchtern auf das Cover gesetzt) jedes Wort erübrigte. Es handelte sich um Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.
Jahrzehnte später. Ich habe vieles dazugelernt, aber auch vieles wieder vergessen. An den Verstand des Kindes kann ich mich noch erinnern, damit denken kann ich nicht mehr. Also habe ich mir auch fast abgewöhnt, mir das Nachleben eines Romans in den Köpfen seiner Leser vorzustellen, in den Phantasien jedes einzelnen. Als Teil des inneren Mobiliars. Dabei müsste es das Eigentliche sein. Aber kaum jemand spricht davon. Wovon die Leute sprechen (und wir immer häufiger schreiben), sind Zahlen. Vorschüsse, Auflagen, bezifferbarer Ruhm.
Zweitausend verkaufte Exemplare etwa, das ist heutzutage beschämend. Zweitausend, das reicht nicht annähernd für die Bestsellerliste, eine Fotogeschichte in den Magazinen oder sonst etwas. Ein Flop. Ein Amazon-Verkaufsrang irgendwo in den Niederungen der Anonymität. Der einzige, der sich um die Zahlen nicht zu scheren braucht, ist der echte Leser.
Gerade habe ich im Internet entdeckt, dass der Roman „Die Augen von San Lorenzo“ des Mexikaners Juan Villoro schon für 30 Cents zu haben ist. Das Buch, wahrscheinlich sein bestes, ist ein grandioser Roman mit unvergesslicher Atmosphäre über den Moloch Mexiko-Stadt. Ich schaue auf das Angebot, „4 gebraucht ab EUR 0,30″, und fühle meine Erinnerung degradiert. So billig soll das Erlebnis, Villoro zu lesen, heute schon zu haben sein? 30 Cents plus Porto? Und dann reiße ich mich zusammen und frage mich, wem ich damit eine Freude machen könnte.
Wikipedia: Null
Mein...
Wikipedia: Null
Mein schönstes Erlebnis im Hinblick auf die Suhrkamp-Klappentext-Verführungsstrategie heißt „Null“ (neben „Tres tristes tigres“ – die dürfen hier nicht vergessen werden). Jedenfalls wird „Null“, dieser Klassiker der brasilianischen Großstadtliteratur, der das Chaos von São Paulo nicht nur sprachlich, sondern auch typographisch auf unvergleichliche Weise darstellt, heute für 29 Cent feilgeboten. Ja, das ist wirklich schön, das kann sich jeder leisten. Aber was ich zu meinem Erschrecken feststelle: zum Autor, dem brasilianischen Schriftsteller und Journalisten Ignácio de Loyola Brandão, fehlt – ebenso wie zu Juan Villoro (!) – ein Eintrag in der deutschsprachigen Wikipedia! Wie ist das möglich? Offenbar hat von den „vielen tausenden junger, begeisterungsfähiger Menschen“, welche „durch die Prosa der Suhrkamp-Werbeabteilung ins Reich der modernen Literatur gelockt wurden, manchmal auch zu abseitigen Autoren“, noch niemand die Zeit gefunden, dies in Angriff zu nehmen. Und das heißt, ich sollte vermutlich an anderer Stelle weiterschreiben…