Vor mehr als zehn Jahren sagte mir ein Mann von der Deutschen Botschaft in Madrid (ich weiß nicht mehr, wie er hieß, dort ist ein Kommen und Gehen, dass man den Überblick verliert), ich müsste unbedingt etwas über das Husten des Publikums im Konzertsaal schreiben. Gemeint war natürlich das spanische Husten in spanischen Konzertsälen bei gelegentlich deutscher Musik, was aus einem ärgerlichen einen schwerwiegenden Fall zu machen schien.
„Ich bin nicht sicher“, sagte ich, „ob das Thema so viel hergibt.“
„O doch“, sagte der Mann, „das Thema gibt sehr viel her! Warten Sie nur ab!“
„Das will ich tun“, sagte ich.
Und ich wartete ab. In den ersten Jahren passierte noch nichts oder kaum etwas. Offenbar gibt es im Konzertsaal oder in der Oper eine spezifische Hustenwahrnehmungsschwelle, die erst überschritten werden muss, einen Sättigungspunkt, eine individuelle Leidensgrenze, die in, sagen wir, den ersten beiden Jahren noch nicht in Sichtweite war. Doch im dritten oder vierten Jahr fing es an. Ein Publikum, das vorher nicht gehustet hatten, wie mir schien, zerbellte plötzlich das schönste Pianissimo. Nicht nur in Madrid, sondern auch in Barcelona, Salamanca oder La Coruña. Dann attackierten die Hustenden auch das Forte. Ein Klavierabend in San Sebastián: zerhustet und vernichtet. Auftritte von Marc Minkowski, Barbara Bonney oder Rinaldo Alessandrini: zerschnüffelt, verräuspert, zerstört. Ich rede jetzt nicht von jener beleibten Dame im Palau de les Arts von Valencia, die vor einigen Jahren, während einer besonders sublimen Opernarie, ungerührt den Anruf von Nacho entgegennahm und neun bis elf laut herausgezischte Sätze brauchte, um dem penetranten Nacho zu erklären, dass sie jetzt nicht mit ihm telefonieren könne, sie sei in der Oper. Ich spreche von unkontrolliertem Abhusten, de profundis, ohne Rücksicht auf Verluste.
Seit ich die Hustenwahrnehmungsschwelle erreicht und überschritten habe, kann ich eigentlich nur noch Sitze in den ersten fünf Reihen nehmen. Am Samstagabend, beim War Requiem mit Paul McCreesh und Dietrich Henschel, saß ich in Reihe vier. Das war in Ordnung, wenn ich von der Dame drei Sitze weiter absehe, die bei Henschels innigem „One by one“ (gemeint waren die jungen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg gefällt wurden wie Bäume) plötzlich ekstatisch aufschnüffelte, als hätte sie eine Vision gehabt, in den unterirdischen Zonen ihrer Handtasche nach dem Taschentuch kramte und jedes weitere „One by one“ mit desto tieferem Schnaufen, Schniefen und endlich auch einem erlösenden finalen Schneuzen beantwortete.
Nach dem Konzert, das mich dennoch sehr aufgewühlt hatte, rief ich eine musikbegeisterte Freundin an und sagte ihr, sie müsse unbedingt Brittens War Requiem hören, es gebe am Sonntag eine Matinee.
„Wir haben schon Tickets“, sagte die Freundin.
„Gut“, sagte ich, „ihr werdet begeistert sein.“
Aber sie und ihr musikalischer Freund waren nicht begeistert. Sie saßen im zweiten Rang und konnten vor lauter Husten kaum ein Wort verstehen.
„Hattest Du bei Henschels ‚One by one‘ denn keine Gänsehaut?“ fragte ich.
„Welchem ‚One by one'“? fragte meine Freundin.
Ich konnte keinen weiteren Trost spenden, also konsultierte ich mein unerschöpfliches Land und Leute in Spanien von 1912, um mir auf die spanische Husterei einen Reim zu machen. Und dort fand ich sie, gewissermaßen die kulturhistorische Totalerklärung. „In Spanien raucht alles“, hieß es dort: „der Bettler auf der Straße, der Meßner in der Sakristei, der Straßenbahnschaffner im Tramwagen, der Polizist im Dienst. Ein richtiger Spanier läßt seine Zigarette den ganzen Tag nicht ausgehen; selbst an der Table d’hôte raucht er zwischen den einzelnen Gängen zum Entsetzen der Engländerinnen ruhig weiter.“
Dann kam, was ich gesucht hatte: „In den Wandelgängen der Theater wird während der Pausen – trotz des Verbotes – so stark geraucht, daß oft der ganze Zuschauerraum von dem eingedrungenen Rauch angefüllt ist. Doch empfinden die Damen dies in der Regel als keine Belästigung, nicht etwa, weil sie selbst rauchen – dies tun gewöhnlich nur Halbweltlerinnen und hier und da Feldarbeiterinnen in Aragonien und Asturien – sondern weil sie daran gewöhnt sind.“
Der Mann aus der Deutschen Botschaft damals, er hatte natürlich recht, das Thema Husten gibt wirklich eine Menge her. Schade, dass ich seinen Namen vergessen habe; ich wüsste zu gern, auf welchem Kontinent er heute seinen Opern- und Konzerthusten hört.
Ich schlage vor, diesen...
Ich schlage vor, diesen Blogeintrag in die kommende Neuauflage der Gebrauchsanweisung für Spanien aufzunehmen. Wollen Sie uns denn einmal den Verfasser dieser Land-und-Leute-Bibel von 1912 bekannt geben, verehrter Herr Paul? Ich muß es mir unbedingt beschaffen, es stehen so große Wahrheiten darin! Ist es Francisco Fronner?
<p>Es ist, Dulcinea, es ist....
Es ist, Dulcinea, es ist. Ich arbeite mit der zweiten verbesserten Auflage – meines Wissens erschien die erste Auflage 1909. Fronner stützt sich seinerseits unter anderem auf Baedekers „Spanien und Portugal“, dessen Auflage von 1899 vor mir liegt – kommt bald auch einmal dran. Ich könnte dieses Blog allein mit Zitaten bestreiten, aber das wäre nicht fein, oder? Übrigens bittet Francisco Fronner darum, „durch Mitteilung von Wünschen und Notizen an die Verlagsbuchhandlung zur Vervollkommnung des Werkes beitragen zu wollen“. Alle Ratschläge, schreibt er, „sollen sorgfältig geprüft und nach Tunlichkeit berücksichtigt werden“.
Und wie ist es heute mit dem...
Und wie ist es heute mit dem Rauchen in Spanien lieber Herr Paul?
Spanien ist doch auch in der EU und weist jeden Zigarettenkäufer qua Packungsaufdruck auf die Suizidalität seines Unterfangens hin? Oder hat sich hier hartnäckig ein Nikotin-freundliches Volk seine kulturelle Eigenständigkeit bewahrt?
Nein, Don Martín, ich habe...
Nein, Don Martín, ich habe nur die halbe Wahrheit gesagt, meine Quelle ist wirklich etwas alt und eher von historischem Interesse. Die andere Hälfte der Wahrheit (also auch der Wahrheit über den bellenden Husten im Konzertsaal) besteht in der Liebe der Spanier zum LÄRM. Wenn die Tagesfron erledigt, der Hund gefüttert und das Holz gesägt ist, will ich darüber ausführlicher nachdenken und etwas dazu schreiben.
Spanien ist in der EU? Ach,...
Spanien ist in der EU? Ach, ich sollte doch öfter Zeitung lesen…
Lieber Herr Paul,
gerade lese...
Lieber Herr Paul,
gerade lese ich die dpa-Meldung, dass Frankos Reiter-Standbild in Madrid nicht mehr aufgestellt wird. Was werden die denn jetzt damit machen? Einschmelzen? In diesem gruseligen Tal mit dem großen Kreuz aufstellen? Oder gibt es ein Franko-Memorabilien Museum in Galizien? Und wenn ich Dich schon so mit Fragen quäle: Gibt es in Spanien noch weitere sozusagen in Benutzung befindliche Standbilder des kleinen Mannes?
Ich will Herrn Paul nicht...
Ich will Herrn Paul nicht vorgreifen, habe aber die Zeit, in der ich gerade auf Pökellieferung warte, genutzt und kann mitteilen, Herr Martin, daß der (vor-)letzte Franco am 18. Dezember 2008 in Santander abgebaut wurde, mit Video und allem hier in El País: https://www.elpais.com/articulo/espana/Santander/retira/estatua/Franco/elpepuesp/20081218elpepunac_2/Tes
Jetzt gibt es offiziell „nur“ noch einen Franco, und zwar ohne Pferd, in Melilla. Ich weiß aber nicht, ob man noch von einer Dunkelziffer ausgehen muss. Es existieren ohnedies noch zahlreiche Straßennamen, z.B. bei mir um die Ecke – relativ mitten in Madrid – die Plaza de Arriba Espana, ein kleiner, unbedeutender Platz, aber dennoch.
Übrigens, was zum Thema Hüsteln im Konzertsaal zurückführt, war ich vier Tage vor Demontage des Santander-Franco im Madrider Auditorio (Joaquín Rodrigo – mein schlimmstes Hustenkonzert bislang), und im Beifallbegeisterungswahn für die Sopranistin (Ainhoa Arteta) ließ sich ein älterer Mann unten im Parkett zu einem ähnlich gelagerten nationalistischen Ausruf hinreißen. Jetzt denke ich, vielleicht hatte das sogar mit der bevorstehenden Entthronung des Generalissimo zu tun. Da scheint noch viel drin zu stecken in der älteren Generation.
Die Geschichte der...
Die Geschichte der Franco-Denkmäler ist lang und schwer überschaubar. Ich weiß nicht, von welchem Denkmal Herr Martin da gelesen hat. Sollte es dasselbe sein wie jenes große Reiterdenkmal, das vor vier Jahren vor dem Umweltministerium in Madrid abgebaut wurde? Nachts, ohne Wissen der Polizei, so klammheimlich, dass man wirklich glauben musste, da tue die Regierung etwas schwer Verbotenes? Jedenfalls sagt das Gesetz zur „Historischen Erinnerung“ von 2007 eindeutig, dass alle derartigen Zeichen und Symbole im öffentlichen Raum entfernt werden müssen. Da dort aber viele langgehegte Franco-Mythologien sowie die Empfindlichkeit der PP-Opposition berührt werden, wird das seine Zeit dauern. Dulcinea hat recht, es gibt in Spanien noch viele Franco-verherrlichende Straßen und Plätze. Das einzige, was sich mit Sicherheit sagen lässt: Es werden weniger. Die größte Aufgabe bleibt das „Tal der Gefallenen“.
Nachtrag: Ja, es war dieses...
Nachtrag: Ja, es war dieses Reiterstandbild, dessen Abtransport vor vier Jahren angeblich nicht rechtens war, dessen Wiederaufbau aber auch nichts bringen würde, weil es inzwischen ein Gesetz gibt, welches das untersagt. Da kenne sich einer aus! Schon damals habe ich mir gesagt, dass sich aus der eingeschmolzenen Statue doch hübsche Devotionalien fertigen ließen.