Es ist immer wieder erstaunlich, wie verbissen Menschen über Fragen der Höflichkeit debattieren können. Offenbar sind wir (ich sage jetzt „wir“, wie Proust gern „wir“ schreibt, als Beobachter der menschlichen Spezies) schnell geneigt, eigene Erfahrungen zu verallgemeinern.
Hier also eine weitere, von vielen Erfahrungen gesättigte Verallgemeinerung: Buchhändler gehören zu den höflichsten Menschen der Welt. Das mag mit den geräuscharmen, zu Stille und Sammlung einladenden Gegenständen zu tun haben, mit denen sie sich umgeben, ich weiß es nicht. Oder mit höherer Bildung (Herzensbildung, Verstandesbildung). Besonders gilt meine pauschale Höflichkeitsvermutung für Antiquare, egal, ob sie in Spanien, Deutschland, England oder Amerika leben.
Meine letzte Erfahrung betraf einige alte deutsche Bücher über spanische Landes- und Sittengeschichte. Mehrere Antiquare ließen mich wissen, dass sie bei Versand ins Ausland leider auf Vorauskasse bestehen müssten. Ich schrieb zurück, klar, das geht, nahm dann die Überweisung vor, und nach wenigen Tagen waren die Bücher in Madrid. Einer hatte jedoch auf meine Bestätigungs-Mail noch einmal geschrieben und gesagt, er danke für mein Vertrauen. Also mein Vertrauen darauf, dass er, wenn das Geld eingegangen wäre, die Ware auch wirklich schicken würde. Ich wollte zurückschreiben: Antiquaren vertraue ich doch immer! Aber dann ließ ich es bleiben.
Denselben Willen zur korrekten Form entdecke ich, wenn ich die Bücherpäckchen öffne. Niemand verpackt Bücher so schön wie deutsche Antiquare. Sauber gefaltetes Zeitungspapier, genau die richtige Menge, um das Buch zu polstern, ohne es zu verhätscheln. Ein sorgsam bemessenes Quantum Tesafilm. Und das Zeitungspapier selbst besteht meistens aus vollständigen Seiten des Heimatblatts, im Fall meines letzten Antiquars war es die Landeszeitung für die Lüneburger Heide, in die ich mich sofort versenkte, wer könnte dieser Versuchung widerstehen? Ich erfuhr, dass Neuntklässler der Lüneburger Hauptschule Stadtmitte demnächst nach Indien fliegen und dort Theater spielen. Und dass der Circus Voyage auf den Sülzwiesen sein Quartier aufgeschlagen hat und viel Publikum herbeiströmt, um die Zirkuselefanten zu füttern. Bisher hatte ich von der Existenz dieser Sülzwiesen noch nichts gewusst. Irgendwann werde ich einen Lüneburger Antiquar fragen, warum sie so heißen.
Dass Höflichkeit in der Old Economy weiter verbreitet ist als in der New Economy, hat aber wohl nicht mit nur dem Lebensalter, sondern auch mit den Dehumanisierungstendenzen und der Ruppigkeit des Internets zu tun. (Nicht alle sind so form- und stilsicher wie Dulcinea.) Neulich benötigte ich etwas von der Firma, die den Server meiner Homepage betreibt, und sandte eine E-Mail. Kurz darauf kam eine automatische Antwort, man werde die Anfrage nach Möglichkeit „gleich am darauffolgenden Werktag“ bearbeiten. Zwei Minuten später kam noch eine Mail mit meiner Bearbeitungsnummer. (Im Rumschicken nichtssagender automatisierter Mails sind unsere jungen Unternehmen groß.) Und dann kam zwei Tage lang gar nichts.
Ich dachte, da wird denen etwas entgangen sein, und schickte eine Zeile hinterher. Nichts Böses, nur: Ich hätte es etwas eilig. „Etwas“.
Diesmal lässt die Antwort nicht lange auf sich warten. „Hat es heute nicht jeder eilig?“ schreibt ein Mann vom sogenannten Support-Team. „Wir bearbeiten alle Anfragen so schnell wie nur möglich. Unglücklicherweise sind Sie nicht der einzige Kunde, der den Support kontaktiert, so daß wir meist nicht sofort antworten können.“
Hoppla, denke ich, da ist aber jemand sensibel. Und schreibe dem Herrn vom Support-Team, ich verbäte mir seine Belehrungen.
Kurz darauf kommt schon wieder Antwort: „Und wir verbitten uns das Ich-habs-aber-besonders-eilig-Gedrängel. Sorry, aber bei weniger als zwei Tagen für die Antwort muß das wirklich nicht sein. Und schneller geht es nun mal auch nicht immer, so leid es uns tut. Vor allem macht es Drängeln nicht schneller.“
Ja, er hat Witz, der Mann vom Support-Team, das muss ich ihm lassen, und seine Sprache hat einen schönen Schwung. Und wenn man ihn piekst, hat er sogar Zeit, da benötigt er für die Antwort nicht zwei Tage, sondern kaum zwei Stunden. Aber er unterliegt einem fundamentalen Missverständnis. Nicht nur, dass er vergessen hat, was seine Firma versprochen hat – Anfragen möglichst „gleich am darauffolgenden Werktag“ zu bearbeiten. Er hat auch vergessen, dass der Kunde drängeln darf, solange er höflich bleibt. Es gehört gewissermaßen zur Stellenbeschreibung des Kunden, dass er es eilig hat. Ebenso, wie es zur Natur der Firma gehört, um Geduld zu bitten, nach Ausreden zu suchen, zu vertrösten – und dann die Sache in exakt dem Tempo abzuwickeln, wie es ihr passt. Was bisher nicht zur Natur der Firmen gehörte, war, ihre Kunden zu erziehen, sie zu belehren und ihnen Vorträge über ihre Terminerwartungen zu halten.
Sollte die Wirtschaftskrise eines Tages auch das Support-Team erreichen und ein paar Arbeitsplätze vernichten, wüsste ich, was ich täte. Ich würde den Mann vom Support-Team bei einem deutschen Antiquar in die Lehre schicken, oben bei den Sülzwiesen.
<p>Ihr schmolzet...
Ihr schmolzet gewissermaßen dahin, Don Paul! Mir ging es ganz ähnlich beim Auspacken meines kürzlich eingetroffenen Fronner-Pakets. Der besorgte Antiquar hatte ein Exemplar des Morgenblatts für gebildete… o nein, Momentchen, es hieß gar nicht Morgenblatt… es hieß… Tagesspiegel! Das wars. Ich erhielt die Rubriken Reise, Sport und Stadtleben. Die Bücher waren natürlich tadellos. Allerdings, ich weiß nicht, Don Paul, aber Francisco Fronner schreibt ja, daß man bei spanischen Antiquariatsbuchhandlungen vorsichtig sein sollte. „Bevor man kauft, überzeuge man sich, daß keine Seiten fehlen“, heißt es beispielsweise. Ich bin also nicht sicher, ob der spanische Antiquariats- und Versandhandel auch so gut funktioniert. Vielleicht können Sie den deutschen Lesern hier noch eine ergänzende Betrachtung aus Ihrem Erfahrungsschatz geben?
Gern, Dulcinea. Meine...
Gern, Dulcinea. Meine Erfahrungen beziehen sich, wie ich oben schrieb, auf Spanien, Deutschland, England und Amerika. Ich darf aber auch Irland und Portugal nicht vergessen. Es mag sein, dass Fronner vor hundert Jahren, als er nach Hause kam, in einem von ihm gekauften Buch das Fehlen einiger Seiten bemerkte. Naturgemäß betrübte ihn das. Und führte ihn dazu (siehe ebenfalls oben), seine Erfahrung zu verallgemeinern. Ganz so schlimm kann es aber damals nicht gewesen sein. Wir sprechen von einer Gesellschaft mit mehr als siebzig Prozent Analphabeten, von der nicht bekannt ist, dass sie Buchseiten zum Abendessen verzehrte. Die meisten Leute hatten für dieses sinnlos bedruckte Papier gar keine Verwendung. Überhaupt hätte ich Lust, Fronner noch etwas Tröstendes dorthin hinüberzurufen, wo er jetzt ist, etwas in der Art von: „Kopf hoch, Don Francisco! Seien Sie froh, dass Sie nicht mehr erleben mussten, welche E-Mails man von seinem deutschen Support-Team erhält!“
Estimado Don Paolo,
gestatten...
Estimado Don Paolo,
gestatten Sie mir einige Anmerkungen, die ursächlich mit dem Nachlass von Franz Fronherr zusammenhängen, einem kürzlich von zwei antiken Foliantendeckeln erschlagenen deutschen Reiseschriftsteller, dessen Lebenswerk dem Aufdecken spanischer Primärgeheimnisse galt. Auch er warnte ausdrücklich vor den fehlenden Seiten in antiquarischen Büchern aus Spanien, und gab als Grund die Paella an. Speziell hier an der Ostküste ist es auch heute noch ein unsäglicher Brauch, einer frisch zubereiteten Paella die Feuchtigkeit durch das Abdecken mit Buchseiten zu entziehen. Allerdings konnte er zu Lebzeiten keine befriedigende und abschließende Antwort darauf finden, welche Art von Büchern diesem Brauch zum Opfer fielen. Er mutmaßte, dass es sich mehrheitlich um Schelmen – und Internatsromane aller Art handelte, aber auch die Klassiker nicht davor verschont blieben (In manchen Landesteilen werden leider immer noch Biografien von Franco verwendet, aber es gibt auch Banausen, die spanische Tageszeitungen verwenden, und schlimmer noch, die deutsche Bild-Zeitung). Aber Don Fronherr hatte nur teilweise recht. Wir Spanier sind praktischer veranlagt, als es der gemeine Ausländer so gern unterstellt und glauben mag. Deswegen ist die dunkle Wahrheit eher die, dass wir nur die wichtigen Seiten aus diesen Büchern herausreißen und sie zu Hause lesen, um uns den Kauf von kompletten Büchern zu ersparen, die hier meist überteuert und von schlechter Qualität sind (sie fallen nach einiger Zeit auch von allein auseinander und verlieren so Seiten!). Oder wir gehen unseren inquisitorischen Neigungen nach, unnötige, schadhafte und schlecht geschriebene Seiten zu entfernen, um einerseits die Qualität zu fördern und zu stützen, aber auch andererseits dadurch manche Dinge dem gemeinen Volk vorzuenthalten, das nicht alles zu wissen braucht. Deswegen gilt gerade heute besonders, und vor allem im Angesicht der großen Krise: Vorsicht beim Kauf in spanischen Antiquariaten und auch in normalen Buchläden !!!
Aber ist dies alles wichtig, und was sind die wirklich dringlichen Fragen dieser Tage ? Ich merke sie hiermit vorsichtig an, aufgepasst Don Paolo !
Dulcinea ist kein unerfüllbarer Traum, geboren aus den Fantasien Ihres Dienstherren oben auf dem Pferde. Sie mag auch Esel, auch wenn sie Ross und Reiter noch immer nicht nennen mag oder kann. Das ist die ungeklärte Geschichte dieses zarten Geflüsters zwischen Ihnen und der einsamen Dulcinea, Don Paolo.
Erhören Sie sie, lösen Sie Ihre (Schreib ) Blockaden, öffnen Sie (I)ihr Herz, und lesen Sie zwischen den Zeilen, die die Anbetungswürdige Ihnen zufliegen lässt.
Wie geht das weiter ? Werden sie sich jemals treffen ? In einer Bar in Madrid vielleicht ? Könnten sie ein Paar werden ? Werden sie heiraten und Buchkinder haben ? Wird man gemeinsam Seiten aus alten spanischen Folianten reißen ? Werden Sie lernen können, dass Geduld bei uns Spaniern eine aus der Verzweiflung geborene Charaktereigenschaft ist, auf Dinge zu harren, die fast nie so ( und vor allem auch nie zeitig ) eintreffen werden ? Werden Sie von diesen Einsichten profitieren können, das ungetuldig grüntlich teutsche Herz zu bezähmen, und mit spanischer Gelassenheit zu füllen ?
Ich bin sehr gespannt, ob all diese quälenden Fragen je beantwortet werden können. Aber ansonsten fühle ich mit Ihnen, Don Paolo. Egal ob mañana, oder in einem anderen Leben.
„Nadie creas si no lo que veas.“
Saludos,
Ihr Don Federico, der Antiquar der Hoffnung,
vom Support-Team Ostküste
Das Meer vor Ihrer Haustür...
Das Meer vor Ihrer Haustür sieht sehr blau aus, Don Federico. Hüpfen Sie einmal hinein und kühlen Sie sich etwas ab!
<p>Ich tat es, Doña...
Ich tat es, Doña Dulcinea, bevor ich weiter breiweich schmolz und schmilzend mich im warmen Kämmerchen schmulzend verschmelzen würde. Und es hat geholfen, meine Hoffnungen sind direkt abgekühlt. Auch wollt ich nicht der pöpelnde Bauernjunge aus der La Mancha sein, der pökelnden Landfrauen zu nahe tritt. Ein kleines mea culpa dafür. Aber auch auf die eigenen Kühlsysteme achten, sonst droht diesem Blog eines Tages doch noch die intellektuelle Kernschmelze. Hinweise darauf sind in einigen Hinterlassenschaften deutlich vorzufinden.