Im Flugzeug sitzt neben mir eine sehr nette Deutsche, die schon ihren dritten Spanischkurs hinter sich hat und jetzt zum ersten Mal im Leben nach Madrid fliegt. Wir sprechen über die Unterschiede zwischen Spaniern und Deutschen. Ich glaube ja an diese Unterschiede. Ich habe viel darüber nachgedacht.
„Jetzt habe ich’s“, sage ich. „Die Spanier sind nicht prinzipiell. Sie wollen mich nicht belehren. Zum Beispiel würde mir niemand vorwerfen, wenn ich bei Rot über die Ampel gehe.“
„Auch nicht, wenn Kinder dabei sind?“
„Nein, auch dann nicht.“
„Aber das ist schlecht“, sagt die Frau.
„Ja“, sage ich, „einerseits ist das schlecht. Und andererseits gut. Einerseits gibt man den Kindern natürlich kein gutes Vorbild, wenn man bei Rot über die Ampel geht. (Als ob Kinder sich lange davon täuschen ließen, wenn die übrige Welt so wenig vorbildlich ist, wie sie nun einmal ist!) Andererseits mischt man sich nicht in das Leben fremder Leute ein. Inzwischen finde ich den zweiten Aspekt wichtiger.“
„Ich weiß nicht“, sagt die Frau.
„Die Sache hat immer zwei Seiten“, sage ich. „Einerseits lassen sich die Menschen in Spanien mehr Freiraum. Andererseits machen sie auch ziemlichen Blödsinn. Das ist eine direkte Folge des Freiraums.“ Und ich erzähle ihr von unserem Glascontainer, in den ich nachts um ein Uhr mein Altglas werfe, weil es in Spanien keine vorgeschriebenen Stunden für die Müllentsorgung gibt.
„Das ist rücksichtslos“, sagt sie mit mildem Tadel.
„Aber es tut gut“, sage ich. Tatsächlich habe ich dabei immer das Gefühl, ich sei der einzige Deutsche auf der Welt, der nachts um eins ins schweigende Firmament hinaufblickt und dabei sein Altglas wegwirft. „Ich weiß auch nicht, warum mir das gefällt. Aber ich kann nichts dagegen tun.“
Dann bringt die Frau das Gespräch auf Religion, vielleicht musste sie bei dem Gedanken an meine nächtlichen Wegwerfaktionen an Sünde denken. Es stellt sich heraus, dass sie viel Kraft aus dem Gebet zieht, auch aus der Gemeindearbeit. Mir kommt der Begriff ‚menschliche Begegnung‘ in den Sinn, und ich versuche herauszufinden, warum ich bei dem Begriff ‚menschliche Begegnung‘ davonlaufen will. Dann wird mir klar, dass Weglaufen bei zwölftausend Metern Flughöhe keine Option ist. In meinem Inneren ertönt ein alter Song von Elvis Costello, er heißt „(What’s So Funny ‚Bout) Peace, Love & Understanding“. Sofort geht es mir besser.
Die Frau schaut mich immer noch nett, aber auch fragend an. Sie möchte jetzt wirklich wissen, wie ich es mit Gott halte. Uff, das ist eine Frage, die mir schon lange keiner mehr gestellt hat!
„Ich suche ihn nicht“, sage ich, aber es klingt kumpelhaft in meinen Ohren. Suchen kann man ja nur jemanden, der da ist.
„Aber er sucht Sie.“
Darauf fällt mir nichts ein. Ich will nicht auch noch Witze machen über jemanden, der mich sucht, von dem ich aber nicht weiß, ob er überhaupt da ist. Genau genommen, ist das eine ziemlich absurde Situation. Doch gerade das kann ich der Frau nicht so gut erklären. Warum haben Glaubensdinge nur die sonderbare Angewohnheit, einen in die Ecke zu drängen, wenn man nicht zu allem Ja sagt? Mir fällt der erste Satz von Julian Barnes‘ Buch Nothing to be Frightened of ein, ein ziemlich cleverer Satz, mit dem man sich hübsch aus dem Sumpf ziehen könnte: „I don’t believe in God, but I miss him.“ Nicht, dass er richtige Gläubige lange beeindrucken würde.
Dann landen wir. Ich wünsche der Frau einen angenehmen Aufenthalt in Madrid, wünsche ihr gutes Wetter und warne vor Handtaschendieben. Dann denke ich: Wie blöd, kaum hat man mal von tiefen und grundlegenden Dingen gesprochen, kommt einem das Wetter sofort unwichtig vor.
Erst auf dem Weg nach Hause, unten am Boden, freue ich mich an der Frühlingsabenddämmerung und dem Aroma der Blüten in der weichen Madrider Abendluft. Vielleicht hat er mich nicht gesucht, dieser Duft, aber irgendwie hat er mich gefunden, und es ist unmöglich, es nicht zu bemerken.
<p>Zu den Unterschieden...
Zu den Unterschieden zwischen Spaniern und Deutschen: als ich (ein Spanier) in Deutschland lebte (drei Jahre lang), hatte ich den Eindruck, dass die Deutschen die Religion viel ernster nehmen als wir. Wir Spanier sind äusserlich religiöser, aber innerlich indifferent. Wir sind oberflächlicher, und damit basta!
Zum Altglas: in vielen spanischen Städten gibt es DOCH vorgeschriebene Stunden für die Müllentsorgung. Da wir aber DAS GESETZ nicht zu ernst nehmen, üben wir Selbstregulierung. In Spanien ist (oder vielmehr war?) nicht alles geregelt; und was geregelt ist, wird persönlich interpretiert. Als Kompensation für den Mangel an Freiheit haben die Deutschen starke Gefühle: sie kultivieren die Empörung über die Dinge, die in anderen Ländern nicht so gehen, wie die deutschen Vorschriften es wollen.
„I don’t believe in God, but I miss him“: dieser einfache Satz ist besser als 500 Seiten Unamuno.
Don Paul,
Sie sind nicht der...
Don Paul,
Sie sind nicht der einzige Deutsche der freudestrahlend nachts um 12 fleissig das Altglas entsorgt.
Meiner Erfahrung mit Spaniern nach, redet man weder über Religion noch Politik. Man nimmt einfach an dass alle Spanier katholisch getauft wurden und entsprechend Kleidung, Status, Familienstand und Kinderzahl mehr oder weniger religös sind. Man kann davon auch die politische Einstellung ablesen /annehmen. Es erübrigt sich einfach darüber zu reden.
Es ist die Minderheit...
Es ist die Minderheit spanischer Städte, Don Jorge, die eine Uhrzeit für die Müllentsorgung vorschreibt, glauben Sie mir. Ich achte darauf mit großem Interesse. Deshalb habe ich auch die Initiative von Tarragona wahrgenommen. Die Stadt wird demnächst 750 bis 1.500 Euro Geldbuße gegen jene verhängen, die ihren Müll zur Unzeit entsorgen. Dass man in Spanien zu Normen allgemein ein flexibleres Verhältnis hat, wird sich zu meiner Lebenszeit dennoch nicht ändern.
Ja, aber, Don Paul, SCHWEIGT...
Ja, aber, Don Paul, SCHWEIGT das Firmament denn wirklich? In Madrid? Bei dem Geräuschpegel, den Sie ja schon beschrieben haben? Und bei den zahlreichen Autobahnringen, welche die Stadt auch nachts fest im Griff haben? Da sind ein paar entsorgte Weinflaschen doch keine Sünde! Tarragona, ja, da mag die Sache anders liegen. Das weiß ich nicht. Aber in Madrid schiene mir ein nächtliches Einwurf-Verbot einigermaßen lächerlich. Zumal es Sie ja dann um eine anscheinend große Freude bringen würde, denn Sie würden sich zweifelsohne an ein solches Gesetz halten, oder etwa nicht?
Stellen Sie mir nicht so...
Stellen Sie mir nicht so schwierige Fragen, Dulcinea. Gesetzestreue ist relativ, wie ich hin und wieder festgestellt habe.
Wahrscheinlich ist es aber bei uns etwas leiser als bei Ihnen in Toboso. Ich brauche nur zehn Minuten nach Norden zu fahren, dann stoße ich auf meine Schafherde und an guten Tagen sogar auf neun frei grasende Pferde. Zehn! Es gibt ein frisches Fohlen. Vielleicht wird mein Eindruck der Stille durch solche Bilder visuell verstärkt.
Um bei Pferden zu bleiben, Rocinante: Der Mangel an Ordnung in Spanien scheint bei uns Deutschen eine erstaunliche Freude an Anarchie freizusetzen.
Wie sich die Zeiten ändern,...
Wie sich die Zeiten ändern, nicht wahr? Vom „sosegado silencio“ (dem „friedlichen Schweigen“, wie Susanne Lange übersetzt) ist in El Toboso auch nicht mehr so viel übrig geblieben. Nun ja. Interessanter wäre natürlich, über Ihre spanische Gesetzesuntreue zu erfahren, Don Paul, aber… nein, wer weiß, wer hier mitliest!
Klasse beobachtet, gerade auch...
Klasse beobachtet, gerade auch das Ampelbeispiel. „Das ist aber verboten!“ rief mir unlängst ein besorgter Deutscher Mitbürger hinterher, als ich in Eile eine rote, deutsche Fußgängerampel überquerte. Es hat mich später noch beschäftigt, weil ich tatsächlich versucht habe, ein Gefühl dafür zu bekommen, auf welcher Ebene der Botschaft dieser Mann wirklich kommuniziert hat, das Faktum als solches dürfte auch er als bekannt vorausgesetzt haben. Ich werde es nie erfahren.
Zum Glauben 1: Wo Glauben und glaubens-ähnliche Systeme anfangen, hören Argumente auf.
Zum Glauben 2: Meine spanischen Nachbarn entwickeln einmal im Jahr eine scheinbar ehrfürchtige religiöse Betriebsamkeit, wenn das Dorffest gefeiert wird und man der Dorfheiligen mit Messe und Prozession huldigt. Doch im persönlichen Gespräch erweisen sich viele als mindestens agnostisch, wenn nicht gar ähnlich atheistisch wie ich, ein köstlicher Widerspruch in sich, seit ich gelernt habe, es einfach zu akzeptieren.
naja, dass sich spanier...
naja, dass sich spanier weniger direkt in die angelegenheiten des andern einmischen, stimmt. – man bleibt gerne unter sich. mit seinen alten freunden, seiner familie, seinen kreisen.
wer in spanien in einem garten- oder parkcaffee zb fragt, ob man sich auf die freien stuehle an einem tisch dazusetzen kann, wird oft erstaunte, in der regel missmutige blicke ernten. – auch findet selten konversation ueber baenke und tische hinweg statt, wie man das aus deutschen kneipen oder biergaerten zwischen fremden kennt, die sich in einer situation gemeinsam finden, und diese gemeinsamkeit leben – sei es der genuss eines kalten bieres oder das faulenzen in der sonne. – wenn zwei das gleiche tun, ist das nicht das selbe. – nicht in spanien. niemals.
dass man sich nun garnicht fuer den – vielleicht aus dem ausland – neu zugezogenen interessieren wuerde, stimmt allerdings wiederum auch nicht. – woher hat er bloss dieses sehr teure auto? – was macht er genau? – warum ist seine frau so oft auf reisen?… das fragt man nicht direkt – man reimt es sich irgendwie zusammen. – vielleicht hat der alte nachbar ein paar indizien, die uns weiterfuehren – oder wir fragen mal den ‚portero‘ (haus- oder grundstueckswart), oder wir fragen mal unser hausmaedchen, die ja auch philipina ist, wie die vom neuen – die philipinas schwaetzen immer untereinander – die wird was wissen.
und dann: auch das mit der...
und dann: auch das mit der obrigkeitshoerigkeit und mit der – vielleicht neuentflammten, vielleicht aus francotagen uebriggebliebenen – vorliebe fuer den ‚dienstweg‘ ist es nicht ganz so, dass die einfache gleichung deutschland=regelwerke – spanien=improvisation zur beschreibung spanischer lebenswelt wirklich tragfaehig waere.
wir haben mehrere jahre auserhalb von madrid in soto moraleja gewohnt. sollten wir oder unsere gaeste aus unwissen einen wagen auf einem parkplatz geparkt haben, der einem unserer nachbarn zugedacht war, dann wurde uns das nicht, wie man es vielleicht erwarten wuerde, in einen nachbarschaftlichen plausch mitgeteilt. – nein. in spanien wird dann der vorsitzende der hausbesitzergemeinschaft beauftragt, einen formelles schreiben zu verfertigen.
ich will hier nicht verallgemeinern, doch haben meine familie und ich aehnliche erfahrungen so haufig gemacht, dass es sich fuer uns doch folgendermassen darstellt: die ‚menschliche Begegnung‘ – wie sie schreiben – ist des spaniers sache nicht. der unausweichlichkeit des anderen wird bei jeder gelegenheit ausgewichen. und wenn es einmal garnicht anders geht, dann schreibt man formalbriefe, droht lautstark mit anzeige oder beschaeftigt rechtsanwaelte. – und das alles, weil man es – aus irgendwelchen unendlich tief sitzenden gruenden – einfach nicht zustande bringt, kurz beim nachbarn anzuklopfen und von angesicht zu angesicht die dinge zu bereden.
woran, lieber verfasser und liebe leser dieses blogs, liegt das?
Vielleicht wiegt das...
Vielleicht wiegt das gesprochene spanische Wort nicht so schwer wie das deutsche? Ich meine, geredet wird ja sehr viel. Es wird sich auch viel wiederholt. Sehr viel. Aber Konsequenzen? Dazu braucht man vielleicht doch Formalbriefe? Weil auf das mündliche Wort eher nicht reagiert wird? Weil es keine Konsequenzen hat? Nicht so ernst genommen wird? Das sind nur Vermutungen.