Sanchos Esel

Küsse auf dem Bahnhof von Valencia

Als ich in Valencia aus dem Zug stieg, sah ich eine kleine Szene, die mir mehr als zehn Minuten lang gute Laune verschaffte. Der Zugführer in seiner blauen Uniform ging über den Bahnsteig, die Fahrt lag hinter ihm, das Wetter war so warm wie meistens in Valencia, da kommt ihm eine Putzfrau entgegen, offenbar ist sie im Begriff, sich jetzt an die Reinigung des Zuges zu machen. Ich sehe, wie die beiden aufeinander zugehen, und als zwischen ihnen noch einige Meter fehlen, hellen sich ihre Gesichter auf, sie lächeln beide, und bevor sie sich ganz erreicht haben, sagt der Zugführer auf diese beiläufige Art, die lange Gewohnheit im Verteilen von Freundlichkeiten verrät: „Qué tal, mi amor?“ Dann gab’s Wangenküsse links und rechts.

Ich bin nicht aus Prinzip ein Verfechter von Wangenküssen. Es kommt noch nicht einmal auf die (den) Küssende(n) an, auch nicht auf die Beschaffenheit der Wangen. Lassen wir es einfach dabei, dass der Wangenkuss in Spanien die übliche Begrüßung zwischen Frau und Mann ist, ganz gleich, ob man sich schon kennt oder nicht. Aber wie gesagt, der Wangenkuss soll mir heute egal sein.

Wichtiger ist mir jetzt diese unübersetzbare Wortfolge „Qué tal, mi amor?“ Wie geht’s? Das ist noch einfach. Aber die Koseformel danach? Alles, was wir im Deutschen mit dem Wort „Liebe“ anstellen könnten, klänge schrecklich und übertrieben. Mi amor! Sobald wir treu übersetzen wollen, müssen wir zugeben, dass diese verbreitete spanische Anrede wenig mit Liebe zu tun hat, so wie wir Deutschen Liebe verstehen. Womit aber dann? Mit Freundschaft? Wahrscheinlich nicht. Ich glaube, dass der Zugführer und die Putzfrau sich zwar beruflich sehen und einander sogar schätzen, dass sie aber nicht miteinander befreundet sind.

Was mich zu der Annahme bringt, dass diese spanische Formel, die viel zu groß für den Anlass erscheint, genau richtig für etwas anderes ist: dem Gegenüber etwas unzweifelhaft Nettes zu sagen, etwas Charmantes, Aufmerksames, Herzliches im Vorbeigehen, und handele es sich um nichts weiter als eine Arbeitsbeziehung, die dergleichen gar nicht braucht, um zu funktionieren.

Soviel Übertreibung! könnte man einwenden. Die lieben sich doch gar nicht, die entwerten nur das Wort „Liebe“!

Vielleicht. Andererseits könnte man fragen, wieso das Wort nicht ein bisschen häufiger zum Einsatz kommen sollte, wo die Sache selbst schon so rar geworden ist. Denn es schadet doch nicht, das Wort zu benutzen, es klingt schön, und wenn man es so anzunehmen versteht, wie die Putzfrau es tat, wirkt es vielleicht auf die, die es benutzen, zurück, auf beide, den Sprechenden und die Hörende, den Geber und die Nehmerin, den Schenker und die Beschenkte. Vom heimlichen Zeugen zu schweigen! Fast dachte ich, der Zugführer und die Putzfrau hätten die kleine Szene auf dem Bahnsteig aufgeführt, um mich in Valencia willkommen zu heißen.

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