Sanchos Esel

Sanchos Esel

Spät essen, laut reden, wenig schlafen, kein Fahrrad haben, die Mülltrennung vergessen, dem berühmtesten Fußballverein der Welt zugucken, bei Rot

Anmerkungen zur Fremde (1): Warum man in Spanien den Reiseführer vergessen sollte

| 29 Lesermeinungen

In seinem Buch "Kunst des Reisens" erzählt der Schriftsteller Alain de Botton von seinem ersten (und bis heute möglicherweise einzigen) Besuch in Madrid. Aus irgendwelchen Gründen, die er nicht näher erläutert, fühlt der Autor sich in diesen Tagen nicht besonders wohl, und nachdem seine Pflicht - Auftritt bei einer Tagung - erfüllt ist, weiß er nichts mehr mit sich anzufangen. Doch da liegt noch ein ganzes Wochenende vor ihm, und seltsamerweise scheint sich alles in Madrid verschworen zu haben, ihn aus der Fassung zu bringen. Die Bauwerke sind alt und ehrwürdig, sagen ihm aber nichts. Der Anblick der großen Schinken, die in den Restaurants von den Balken baumeln, schüchtert ihn so sehr ein, dass er es nicht einmal wagt, einzutreten und vernünftig zu Abend zu essen. Statt dessen bleibt er in seinem Hotel, schaut die Kabelnachrichten, futtert eine Tüte Chips und schläft ein.

In seinem Buch Kunst des Reisens erzählt der Schriftsteller Alain de Botton von seinem ersten (und bis heute möglicherweise einzigen) Besuch in Madrid. Aus irgendwelchen Gründen, die er nicht näher erläutert, fühlt der Autor sich in diesen Tagen nicht besonders wohl, und nachdem seine Pflicht – Auftritt bei einer Tagung – erfüllt ist, weiß er nichts mehr mit sich anzufangen. Doch da liegt noch ein ganzes Wochenende vor ihm, und seltsamerweise scheint sich alles in Madrid verschworen zu haben, ihn aus der Fassung zu bringen. Die Bauwerke sind alt und ehrwürdig, sagen ihm aber nichts. Der Anblick der großen Schinken, die in den Restaurants von den Balken baumeln, schüchtert ihn so sehr ein, dass er es nicht einmal wagt, einzutreten und vernünftig zu Abend zu essen. Statt dessen bleibt er in seinem Hotel, schaut die Kabelnachrichten, futtert eine Tüte Chips und schläft ein.

Ich will nicht behaupten, dieser 1969 geborene Schweizer Schriftsteller, der in London lebt und auf englisch schreibt, sei der ideale Beobachter der spanischen Szene; vermutlich ist er dazu sogar besonders ungeeignet. Doch eines erfasst er mit großer Schärfe: dass sein Reiseführer vor den Madrider Sehenswürdigkeiten in Ehrfurcht erstarrt und er, de Botton, der melancholische Reisende, der sich einfach fehl am Platz fühlt, diesem Buch nicht eine einzige vernünftige Information entlocken kann. Oder sagen wir: eine Information, die irgendetwas mit den Bedürfnissen dieses Reisenden zu tun hätte.

Diese Erfahrung teile ich, sobald ich spanische Reiseführer in der Hand halte. Der Ton, in dem sie geschrieben sind, ist so enthusiastisch und anbetungsbereit, dass die mitgeteilten Informationen darin mir fast wertlos erscheinen; ich kann sie einfach nicht einordnen, sie erlauben keine Differenzierung. Es scheint, als rechne der Reiseführer nie mit einem Wesen, das sich manche Wissensdetails ersparen möchte, das müde wird und einen begrenzten Vorrat an Aufnahmebereitschaft besitzt.  

So nutzlos spanische Reiseführer also für mich sind, so aussagekräftig sind sie andererseits wieder in Bezug auf das Land, das uns hier erklärt beziehungsweise verschwiegen wird. Denn es ist ein Land, in dem Relativierungen und ironischer Abstand keine Heimat haben; in welchem man gern „Ja, ja!“ Oder „Nein, nein!“ sagt, doch selten etwas dazwischen; das seine eigene Bevölkerung, und nicht erst seit dem Bürgerkrieg, gern in scharf getrennte Lager aufteilt, so dass es nur Gut oder Böse, Weiß oder Schwarz, Freund oder Feind gibt.

Dieses Land, das sich selbst offenbar schlecht versteht und das sich dem Fremden kaum erklären kann, ist andererseits seit Jahrhunderten zum Gegenstand einer unüberschaubaren Reiseliteratur aus der Feder von Fremden geworden. Weil es Rätsel aufgibt und fasziniert; weil es einen einzuladen und dann zu vergessen scheint; weil es den Phantasien des Ausländers unendlichen Platz bietet.

Das ist es bis heute geblieben: ein Land, das meinen Phantasien Platz bietet. Und viel genauer kann ich es gar nicht sagen.

Natürlich hat der arme Ausländer Alain de Botton, dem schon die Schinken im Schaufenster bedrohlich erschienen, von all dem in Madrid nichts gesehen. Sein Pech! Er müsste einmal wiederkommen, den Reiseführer im Hotel lassen und ein paar Stunden mit offenen Augen durch die Gegend laufen. Natürlich sollte er auf sein Geld aufpassen und sich zu späterer Stunde nicht über Männer wundern, die in den Straßen ungehemmt Wasser lassen; er dürfte auch nicht lärm- und schmutzempfindlich sein und wäre nicht gut beraten, aus dem derben Benehmen des einen oder anderen Menschen auf das ganze Land zu schließen. Wahrscheinlich aber müsste er vor allem hierherpassen, das ist es. Das aber ist etwas, was man nicht lernt, sondern hat. Oder nicht hat. Und es ist besser, es früher im Leben zu erkennen als später. Zu spät allerdings, glaube ich, ist es nie. Wer hierherpasst, merkt es ganz schnell.


29 Lesermeinungen

  1. abfeldmann sagt:

    sehr schoen. - herzlichen...
    sehr schoen. – herzlichen dank. – mit der vorstellung von de botton und seinen legaendaeren knappen worten zu madrid zu eroeffnen, und mit einem allgememeinen genius loci, den man an orten spuert oder nicht, der der eigenen seelischen temperatur verwandt ist oder weniger, das ist nicht nur elegant, amuesant, sondern auch wahr. – (new york, shanghai, ich gruesse euch aus der distanz, ihr lieben)
    es ist auch schoen, dass sie ihre freudig betriebene analyse an diesen punkt bringen, an dem sie sagen: es biete platz fuer die phantasien und vielmehr gaeb es darueber nicht zu sagen.
    und damit haben sie natuerlich – nicht nur subjektiv – das ist ohnehin klar – sondern beinahe objektiv – weil intersubjektiv geteilt – recht.
    natuerlich klang ihr gestriges „…dem land ist das egal…“ lange nach. und wie das so ist bei aussagen, die einem plastisch erscheinen, es docken dann dort gerne andere beobachtungen und reflektionen an um allgemeine oder spezielle tauglichkeit zu pruefen.
    und so kam ich – als mensch des visuellen und der kunst – auch zu diesem punkt der kontraste, zu dieser komposition aus gegensaetzen – schwarz/weiss, schatten/licht, stahl/erde/stein etc etc – die ich in der selbstgenuegsamkeit ihrer wesensart ja auch hier schon mal formuliert hatte: „aus kontrasten fuegt sich alles zu ganz originaerer kreation, die ganz sie selbst ist und sich jedem vergleich a priori und per definitionem verwehrt.“

    dazu gibt es sicher noch mehr zu sagen. – aber nicht jetzt. – spannend bleibt es, auch weil ich ihr ‚das bietet viel platz fuer meine phantasien‘ natuerlich genau nachvollziehen kann. ganz genauso – mit gleicher offenheit von ausgang oder pointe – ueber ebensolch freies oszilieren zwischen kontrastfeldern – geht es in der kunst ja auch.

  2. Dulcinea sagt:

    Er hat sich vor unseren...
    Er hat sich vor unseren Schinken erschreckt! Der arme Mensch. Was gibt es denn poetischeres als unsere liebevoll gepökelten und luftgetrockneten iberischen Schinken? Ich bin betroffen. Ja, er hätte seinen Reiseführer einfach beiseite legen sollen. Even the finest books deserve to be thrown aside.

  3. <p>Señor Ingendaay, das...
    Señor Ingendaay, das ist eine wunderschöne Liebeserklärung an Spanien! Sie haben vor kurzem über die Verehrung der Deutschen gegenüber Italien geschrieben. Mein Eindruck ist, dass die Verehrung, genauer gesagt, die Idealisierung, dem gesamten Süden gilt, was viele Ihrer Landsleute dazu bringt, nach Süden zu ziehen. Erfahrungsgemäß ist diese Idealisierung zum Teil schnell vorbei, sobald man mit dem Alltag konfrontiert wird. Dass Spanien Ihren Phantasien noch Platz anbietet, nachdem Sie dort so einen langen „Alltag“ erlebt haben, finde ich sehr bemerkenswert. Ich, meinerseits, habe immer diese „Hispanomanie“ mit gemischten Gefühlen betrachtet. Nicht, dass ich mich nicht darüber freue, dass mein Land andere Leute interessiert: angesichts unserer minimalen Neugier uns und anderen gegenüber, scheint diese Reiseliteratur eine wunderbare Möglichkeit, etwas über uns selber zu lernen. Ich kann aber nicht vermeiden, diese Aspekte, die Sie genannt haben, dieses „Unerklärbare“, mit unseren dunklen Seiten in Verbindung zu bringen, Seiten, die wiederum zu den dunkelsten Kapiteln unserer jungen Geschichte geführt haben. Ich hatte naiverweise gedacht, dass die Modernisierung der letzten Jahrzehnte das Land endgültig verändert habe. Aber die Gründe der gegenwärtigen Faszination, die Spanien auf Sie und andere Ausländer ausübt, scheinen sich nicht so viel von denen zu unterscheiden, die die deutschen und britischen Reisenden des 19. und 20. Jahrhunderts nach Spanien zogen. Und das beunruhigt mich.

  4. Madrid sagt:

    Pastora-marcela, man kann...
    Pastora-marcela, man kann nicht alles zugleich sagen. Llevo a mis espaldas once años de crónicas y reportajes. Noch vor kurzem habe ich einen Brief erhalten, in dem mir empfohlen wurde, doch mal die deutsche NS-Vergangenheit zu betrachten, statt ständig vom spanischen Bürgerkrieg und der Diktatur zu schreiben. Nun lebe ich aber hier, also schreibe ich über Spanien. Bin ich zu kritisch? Bin ich zu nachsichtig? Das müssen die Leser(innen) entscheiden. Sämtliche meiner Empfindungen, Gedanken und Schlussfolgerungen existieren nebeneinander. Wir werden auf manche der dunklen Seiten, auf die Sie anspielen, sicher zu sprechen kommen (wir sind es ja auch schon in früheren Einträgen), heute dazu nur soviel: Faszination lässt sich schlecht kritisieren, allenfalls die Dummheiten, die man aufgrund dieser Faszination sagt oder tut. Doch seien Sie gewiss, dass meine Empfindungen sich von denen der Reisenden des 19. Jahrhunderts unterscheiden. Inwiefern, wird sich – hoffentlich – zeigen.

  5. Madrid sagt:

    Dulcinea, vielleicht hätte...
    Dulcinea, vielleicht hätte ich das mit den Schinken nicht schreiben sollen. Ich bin sicher, Alain de Botton hat sich vor dieser opulenten Fülle einfach ein wenig erschreckt. Man müsste ihn animieren, einzutreten und zu probieren.

  6. Sie haben völlig Recht:...
    Sie haben völlig Recht: Faszination lässt sich schlecht kritisieren. Und glauben Sie mir: das war durchaus nicht mein Ziel heute. Ich habe nur versucht „meine“ Wahrnehmung dieser Faszination zu beschreiben, die manchmal andere Assoziationen auslöst: genauso wie bei Ihnen, leben meine Gedanken und Empfindungen nebeneinander. Es tut mir leid, wenn meine Anspielung an die „dunklen Seiten“ vielleicht die Schönheit ihrer Worte getrübt hat, das war ungewollt. Und was mein Kommentar mit Sicherheit nicht war, war ein Appell für die Behandlung dieser „dunklen Seiten“ hier, die schon behandelt worden sind und immer wieder dran kommen. Ich freue mich auf die weiteren „entregas“ zum Thema, das Sie heute angefangen haben.

  7. Madrid sagt:

    Keine Sorge, pastora-marcela,...
    Keine Sorge, pastora-marcela, hier ist niemand empfindlich.

  8. abfeldmann sagt:

    liebe pastora-marcela, sie...
    liebe pastora-marcela, sie sagen, spanier haben eine minimale neugier fuer sich und andere. – das kann ich in gewisser weise durchaus nachvollziehen, draengt dann aber auch zu der frage: wofuer interessiert man sich denn? – fuer wen, was und warum entwickele man denn dann ‚leidenschaft‘?
    antworten dringend erbeten.

  9. Fanila sagt:

    Ich bin zwar nicht...
    Ich bin zwar nicht pastora-marcela, habe aber doch eine Vorstellung davon, wofür man sich in Spanien interessiert: Für die eigene Familie, die Aufrechterhaltung aller möglichen und unmöglichen Traditionen, eben für das, was man schon immer hatte und kannte. Was nicht heißen soll, dass irgendeine Form von Neugier für diese Werte vorhanden wäre – diese werden ganz ohne Gier nach Neuem bzw. nach neuen Aspekten oder Standpunkten mit der größten Selbstverständlichkeit immer weiter tradiert … Eigentlich ein Umstand, der die (gebildete) deutsche Seele mit ihrer Abneigung gegen alles Spießertum typischerweise eher irritiert.
    Weshalb ich trotzdem hierher passe? Neulich war eine alte Schulfreundin zu Besuch, 20 Jahre hatten wir uns nicht gesehen, auf die Feria wollte sie unbedingt – ist ja alles ganz schön schräg hier, meinte sie. Da konnte ich ihr nur beipflichten und hinzufügen, dass das unter anderem genau das ist, was mir an Spanien gefällt. Und an Russland übrigens auch, wobei das Schräge dort auf Grund einer extremeren Ausprägung den Alltag auf reichlich unsanfte Weise durcheinander schüttelt, was der Gemütlichkeit des Daseins eindeutig Abbruch tut – von den langen harschen Wintern mal ganz abgesehen.

  10. Dulcinea sagt:

    Ja, Fanila, ich pflichte bei....
    Ja, Fanila, ich pflichte bei. Und ist es nicht so, daß die spanische Leidenschaft für das Eigene noch so ausgeprägt ist, gerade weil man sich niemals so sehr für das Fremde interessiert hat? Weil man über das Eigene niemals so sehr nachgedacht hat, wie eine deutsche Seele alles schon längst analytisch-kritisch durchdrungen hätte? Das hatten wir neulich schon. Abfeldmann, Spanier und Leidenschaft: Arzneimittel!

Kommentare sind deaktiviert.