In seinem Buch Kunst des Reisens erzählt der Schriftsteller Alain de Botton von seinem ersten (und bis heute möglicherweise einzigen) Besuch in Madrid. Aus irgendwelchen Gründen, die er nicht näher erläutert, fühlt der Autor sich in diesen Tagen nicht besonders wohl, und nachdem seine Pflicht – Auftritt bei einer Tagung – erfüllt ist, weiß er nichts mehr mit sich anzufangen. Doch da liegt noch ein ganzes Wochenende vor ihm, und seltsamerweise scheint sich alles in Madrid verschworen zu haben, ihn aus der Fassung zu bringen. Die Bauwerke sind alt und ehrwürdig, sagen ihm aber nichts. Der Anblick der großen Schinken, die in den Restaurants von den Balken baumeln, schüchtert ihn so sehr ein, dass er es nicht einmal wagt, einzutreten und vernünftig zu Abend zu essen. Statt dessen bleibt er in seinem Hotel, schaut die Kabelnachrichten, futtert eine Tüte Chips und schläft ein.
Ich will nicht behaupten, dieser 1969 geborene Schweizer Schriftsteller, der in London lebt und auf englisch schreibt, sei der ideale Beobachter der spanischen Szene; vermutlich ist er dazu sogar besonders ungeeignet. Doch eines erfasst er mit großer Schärfe: dass sein Reiseführer vor den Madrider Sehenswürdigkeiten in Ehrfurcht erstarrt und er, de Botton, der melancholische Reisende, der sich einfach fehl am Platz fühlt, diesem Buch nicht eine einzige vernünftige Information entlocken kann. Oder sagen wir: eine Information, die irgendetwas mit den Bedürfnissen dieses Reisenden zu tun hätte.
Diese Erfahrung teile ich, sobald ich spanische Reiseführer in der Hand halte. Der Ton, in dem sie geschrieben sind, ist so enthusiastisch und anbetungsbereit, dass die mitgeteilten Informationen darin mir fast wertlos erscheinen; ich kann sie einfach nicht einordnen, sie erlauben keine Differenzierung. Es scheint, als rechne der Reiseführer nie mit einem Wesen, das sich manche Wissensdetails ersparen möchte, das müde wird und einen begrenzten Vorrat an Aufnahmebereitschaft besitzt.
So nutzlos spanische Reiseführer also für mich sind, so aussagekräftig sind sie andererseits wieder in Bezug auf das Land, das uns hier erklärt beziehungsweise verschwiegen wird. Denn es ist ein Land, in dem Relativierungen und ironischer Abstand keine Heimat haben; in welchem man gern „Ja, ja!“ Oder „Nein, nein!“ sagt, doch selten etwas dazwischen; das seine eigene Bevölkerung, und nicht erst seit dem Bürgerkrieg, gern in scharf getrennte Lager aufteilt, so dass es nur Gut oder Böse, Weiß oder Schwarz, Freund oder Feind gibt.
Dieses Land, das sich selbst offenbar schlecht versteht und das sich dem Fremden kaum erklären kann, ist andererseits seit Jahrhunderten zum Gegenstand einer unüberschaubaren Reiseliteratur aus der Feder von Fremden geworden. Weil es Rätsel aufgibt und fasziniert; weil es einen einzuladen und dann zu vergessen scheint; weil es den Phantasien des Ausländers unendlichen Platz bietet.
Das ist es bis heute geblieben: ein Land, das meinen Phantasien Platz bietet. Und viel genauer kann ich es gar nicht sagen.
Natürlich hat der arme Ausländer Alain de Botton, dem schon die Schinken im Schaufenster bedrohlich erschienen, von all dem in Madrid nichts gesehen. Sein Pech! Er müsste einmal wiederkommen, den Reiseführer im Hotel lassen und ein paar Stunden mit offenen Augen durch die Gegend laufen. Natürlich sollte er auf sein Geld aufpassen und sich zu späterer Stunde nicht über Männer wundern, die in den Straßen ungehemmt Wasser lassen; er dürfte auch nicht lärm- und schmutzempfindlich sein und wäre nicht gut beraten, aus dem derben Benehmen des einen oder anderen Menschen auf das ganze Land zu schließen. Wahrscheinlich aber müsste er vor allem hierherpassen, das ist es. Das aber ist etwas, was man nicht lernt, sondern hat. Oder nicht hat. Und es ist besser, es früher im Leben zu erkennen als später. Zu spät allerdings, glaube ich, ist es nie. Wer hierherpasst, merkt es ganz schnell.
<p>btw. 'schinken' - ich...
btw. ’schinken‘ – ich moechte jetzt niemandem den appetit verderben, meines wissens aber ist jamon iberico kulturhistorisch betrachtet richtig saublutiger schweinskram, bei dessen anblick einem schonmal ganz aufrichtig schaudern darf. – ein ‚judenstern‘ sozusagen, nur umgekehrt – nicht ausgrenzungs- und anprangerungssymbol sondern unbedenklichkeitskennzeichnung und instrument perfidester unterdrueckung und kulturellen voelkermordes.
so ich mich recht erinnere, hatte er zum ende des 15. jahrhunderst weithin sichtbar in jeder kueche und jeder schankstube zu haengen, um die dort speisenden unzweifelhaft als christen – nicht als mauren oder juden, derer man sich endgueltig entledigen wollte – zu kennzeichnen. …und in jeder kueche und jeder schankstube haengt er bis heute.
und da ist sie dann wieder, diese dunkle seite spaniens, die es nicht erst seit dem 20. jahrhundert gibt, und fuer die verdraengung und vergessen sicherlich der schlechteste weg zu absolution und echtem selbst-bewusstsein ist.
Abfeldmann, Sie sind sehr...
Abfeldmann, Sie sind sehr gebildet und ein schönes Beispiel dafür, daß sich die deutsche Seele eben doch kritisch-analytisch mit ihrer spanischen Umwelt und Vergangenheit auseinanderzusetzen weiß, während dies andersherum nicht so der Fall ist. Sie haben vollkommen recht, die Schinken wiesen uns in der Tat als Christen aus. Bei uns in El Toboso gab es ziemlich viele Morisken. Wir haben die Schinken zwar hergestellt, aber natürlich nicht selbst davon gegessen, das ist klar. Jetzt muß ich Ihnen aber noch etwas sagen, abfeldmann. Wir haben ja nicht nur Schweine gepökelt. Am Anfang pökelten wir auch Fisch, und das ist so ziemlich das Schlimmste, was es gibt. Nicht wegen des Geruchs, der einen natürlich auch verfolgt. Nein, die Schuppen sind das Problem. Man wird sie nicht mehr los. Sie kleben am Ende überall. Auf dem Fußboden. Auf den Messern. An den Sachen. An der Salztüte. Auf den Armen. Das ist schrecklich. Daher ist das Pökeln von Schweinen viel besser, denn Schweine haben keine Schuppen. Wir jungen Mädchen waren, ehrlich gesagt, ganz froh darüber, denn nun fanden unsere Verehrer bei unseren Stelldichein zumindest keine festgeklebten Fischschuppen mehr in unseren Haaren. Und das hat nun wieder unserem Selbstbewußtsein geholfen.
sehr schoen, dulcinea. sehr...
sehr schoen, dulcinea. sehr schoenes – und sehr lustig poetisch fliessendes – beispiel fuer diesen taueschung-/wahrnehmung-/phantasie-schnack. – gibt es eigentlich einen eigenen ausdruck im spanischen, der diese art zu reden – zu antworten unter voelliger umgehung der antwort – bezeichnet?
…
„…An der Salztüte. Auf den Armen. …“ gratulation. das ist schon sehr gut gemacht.
Ich schreibe jetzt zwar heir...
Ich schreibe jetzt zwar heir zum ersten mal in diesem Blog, lese aber seit einiger Zeit mit und erfreue mich an den Einsichten ueber Spanien und Madrid. Ich erlebe hier dieses schwarz/weiss Denken auch sehr extrem in praktisch allen Lebenslagen. Entweder man ist fuer Zapatero und gegen Rajoy – oder umgekehrt; man ist fuer Real und gegen Atletico – oder umgekehrt. Mir, als Auslaender, wird moeglicherweise eine gewisse Unentschiedenheit bei diesen Themen verziehen, (wenn ich als Wahl-Madrider sowohl zu Real als auch zu Atletico stehe oder sowohl PP als auch PSOE kritische und positive Aspekte abgewinnen kann), aber Zustimmung ernte ich dabei nicht. Immer nur gerade fuer die Aussage, die meinem Gegenueber in die eigene Sicht der Dinge passt. Nur in einem sind sich alle einig: erreicht die Temperatur nach dem Winter die 25 Grad Marke stoehnen alle: ¡que calor! und sinkt sie nach dem Sommer auf 25 Grad erzittern alle bei: ¡oh, que frio! Ein wahrlich faszinierendes Land!
Und wissen Sie, wem ich...
Und wissen Sie, wem ich gratuliere? Walter Kappacher! Erinnern Sie sich an seine schönen Eisfotos? Nun bekommt er den diesjährigen Büchnerpreis. Das ist eine sehr schöne Nachricht an diesem sonnigen, wohltemperierten Morgen!
mir nicht bekannt der herr. -...
mir nicht bekannt der herr. – aber ich freue mich gerne mit ihnen, dulcinea.
Ach, abfeldmann, Sie sind doch...
Ach, abfeldmann, Sie sind doch ein Mensch des Visuellen und der Kunst. Schauen Sie einmal im Blogarchiv nach, unter Februar finden Sie die Einträge Walter Kappachers Bilder vom Eis (1) und (2). Vielleicht bringen Sie diese auf angenehme Gedanken!
praezise beobachtung,...
praezise beobachtung, henrycharms. … ¡que calor!…
wen uebrigens...
wen uebrigens nationalpsychologie interessiert, dem moechte ich sehr das interview mit margarete mitscherlich „ohne angst wuerden wir fett“ in der sz von heute empfehlen. https://www.sueddeutsche.de/politik/122/467693/text/
mitscherlichs buch ‚die unfaehigkeit zu trauern‘, das 1967 die unzureichende bewaeltigung deutscher drittreichs-vergangenheit thematisiert, ist sicherlich auch fuer viele von interesse, der sich mit spanien auseinandersetzen.
frau mitscherlich war, sehr zu meinem grossen vergnuegen und als ausloeser regelmaessiger seelischer inspiration, nachbarin im frankfurter westend. die treffen zum mittagessen bei ’naturgourmet ida metzler‘ sind mir – auch zehn jahre spaeter – in aller bester und frischester erinnerung. begegnungen reich an menschenliebe und an kulturoptimismus wie man sie selten findet.
‚ohne angst wuerden wir fett‘ – mit ein paar gedanken von ihr zu deutschland und der krise. – und auch in spanien kann man sich des gefuehls nicht ganz erwaehren, dass die krise das beste ist, was unserem lustigen madrid haette passieren koennen. – spaet, aber sie kommt. – die besten jahre haben gerade begonnen.