Ich wollte unbedingt noch die Sache mit dem Kölner Dom erzählen. Also. Vor ein paar Jahren kündigte mir ein spanischer Bekannter an, er fahre zum erstenmal in seinem Leben nach Köln und freue sich sehr darauf. Besonders der Kölner Dom, der interessiere ihn. Er habe viel von ihm gehört. Auch, dass er sehr schön sei. Ich nickte dazu. Der Kölner Dom ist sehr schön. Ich kann es nicht anders sagen.
Als mein spanischer Bekannter dann von seiner Köln-Reise zurückkam, war das erste, was er mir machte, ein Vorwurf. Warum wir Kölner diese Kathedrale nicht sauber hielten?! Der ganze Dom sei schmutzig, geradezu schwarz. Das Äußere.
„Hast du mal die Kathedrale von Burgos gesehen?“ fragte mein Bekannter. Er heißt Julio.
Ich sagte: „Ja, Julio. Ich kenne die Kathedrale von Burgos.“
„Und?“
„Wie, und?“
„Ist dir nicht aufgefallen, wie hell sie ist?“
„Doch“, sagte ich. „Die Kathedrale von Burgos ist hell.“
„Siehst du“, sagte Julio. „Sie ist sauber. Wenn sie schmutzig ist, diese Kathedrale, wird sie gereinigt. Das macht man so mit berühmten Bauwerken.“
Julios Einschätzung kam mir absurd vor, aber dann dachte ich länger darüber nach und fragte mich, wieso eigentlich. In Spanien werden die Sachen ständig gereinigt. Gerüstebauer verdienen sich dumm und dusselig. Unentwegt Fassadenarbeiten, reformas, obras. Wäre es wirklich unmöglich, den Kölner Dom, sagen wir, so zu reinigen, dass er wieder sandsteinfarben wird? So sah er doch einmal aus, nehme ich an. Er ist doch aus Sandstein. Aber dann wurde ich unsicher. Konnte es sein, dass der Kölner Dom wirklich einmal hell gewesen war? Schon Heinrich Heine besingt ihn doch als irgendwie finsteren Gesellen. Meint er das metaphorisch? Ich müsste es nachlesen.
„Es werden die Abgase sein“, sagte ich zu Julio. „Die Abgase und die Tauben. Köln ist größer als Burgos. Es gibt mehr Autos. Und der Dom ist größer als die Kathedrale.“
Aber eigentlich weiß ich nicht, warum ich das sagte. Ich hätte Julio entgegnen sollen, was ich jetzt hier hinschreibe: dass das Verhältnis zwischen den Bewohnern verschiedener Länder von einem dichten Netz vorgefasster Meinungen, grundloser Annahmen, zahlreicher Ahnungslosigkeiten und blinder Flecken gekennzeichnet ist. Diese lagunas, wie sie im Spanischen so schön heißen, sind sozusagen urteilskonstitutiv. Mit anderen Worten: Gerade das, was ein Deutscher über den Flamenco nicht weiß, formt seine Meinung. Gerade die Dinge, die er über den Stierkampf nicht gelernt hat, bildet das Rückgrat seiner Überzeugung. Umgekehrt: Wenn man Spanien nicht kennt, kommt einem der Wunsch, den Kölner Dom sauber zu schrubben, einigermaßen absurd vor. In Kenntnis der Spanier allerdings müsste man ihn gut verstehen können. Ich könnte lange darüber nachdenken. Die unmittelbare Folge von Julios Klage war allerdings, dass ich jedesmal, wenn ich vor dem Kölner Dom stehe, darüber nachgrübele, wie man ihm schonend eine Ganzkörperwäsche verpassen könnte.
Neulich in Frankfurt, vor der Spanischen Handelskammer in Deutschland, habe ich dann noch ein wenig von historischen Spanienbildern gesprochen. Man kann viel lernen, wenn man zum Beispiel den Baedeker von 1899 zu Spanien und Portugal aufschlägt. Manche Vorurteile sind sehr alt, andere jung. Manche scheinen einer fast genetisch erklärbaren deutschen Persönlichkeitsstruktur zu gehorchen, andere wiederum… schwirren frei herum.
Vielleicht habe ich schon einmal erwähnt, dass ich nicht daran glaube, Vorurteile und Stereotypen abzubauen, wie es immer so menschenfreundlich heißt. Ich halte viel mehr davon, unsere Klischees zu humanisieren, sie gewissermaßen einzuarbeiten in unser Selbst- und Fremdbild. In beide. Ich verstehe die Spanier besser, wenn ich weiß, dass sie den Kölner Dom schrubben wollen. Ich ahne etwas von dem, was sie bewegt. Vielleicht habe ich ja als Kind einmal dasselbe gewollt und den Gedanken nur deshalb vergessen, weil die Erziehung einem alle Radikalität austreibt. (Vielleicht fand ich den Kölner Dom aber auch schön, weil er so dreckig war wie ich selbst. Ich weiß es nicht.) Mein Bekannter Julio jedenfalls… wenn man ihn gewähren ließe, würden morgen die Geräte anrollen, und eine zuverlässige Firma für Gebäudereinigung würde den Kölner Dom gründlich saubermachen, und zwar so, dass kein Fleck zurückbleibt.
Für heute nur noch ein zwei Zitate aus dem Baedeker Spanien und Portugal von 1899, die Sie vielleicht so amüsieren wie mich:
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„Die Kaffeehäuser, in welchen in später Nachtstunde sogenannte Flamenco-Gesänge vorgetragen oder Flamenco-Tänze aufgeführt werden, sind von Damen durchaus zu meiden, von Herren höchstens in Begleitung von Einheimischen zu besuchen.“
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„Bekanntlich sind alle Versuche, die Stiergefechte zu unterdrücken, erfolglos geblieben. Weder der Papst noch die Geistlichkeit, weder die Monarchie noch die Republik haben dieser Leidenschaft des spanischen Volkes beikommen können. Ohne eine allgemeine Hebung des Bildungsstandes des Volkes ist an eine Beseitigung der blutigen Schauspiele nicht zu denken.“
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Ja, darüber könnte man ins Grübeln kommen. Den Stierkampf nannte man „Stiergefechte“. Und der Flamenco war nicht jugendfrei, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Spanien als wildes, ungezähmtes Land begegnet einem in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts ständig. Eine dunkle, anziehende Welt! Spanien war anders, lange bevor jemand auf die Idee kam, daraus einen Slogan zu machen.
Don Paul, Sie müssen Ihrem...
Don Paul, Sie müssen Ihrem Freund Julio von mir unbedingt einen Gruß bestellen und sagen, daß er Köln vergessen soll. Julio sollte jetzt ganz schnell einmal nach Dresden reisen. Dresden! Dort könnte er die Frauenkirche bewundern, ganz hell und sauber und neu. Die Frauenkirche ist auch schön. Und der Sandstein dort ist noch nicht nachgedunkelt. Sagen Sie Julio, daß die dunklen Steine im Dresdner Mauerwerk keine schmutzigen Steine sind, sondern sogenannte Fundstücke, von früher. Der Sandstein dunkelt ganz natürlich nach, es ist kein Schmutz. Es hat mit den Mineralien im Stein zu tun. Ich habe da nicht so den Überblick. Man nennt es wohl Patina. Patina, wissen Sie? Das sollten Sie Julio einmal erklären.
<p>Zur alten Reiseliteratur...
Zur alten Reiseliteratur fällt mir in diesem Zusammenhang mit dem „dunklen“ Spanien Sands „Ein Winter auf Mallorca“ ein: Die Autorin beklagt sich in ihrem Bericht ja ausgiebig über die Unfreundlichkeit, mit der sie dort behandelt wurden. Besonders beeindruckt hat mich eine Stelle, in der sie beschreibt, wie das Huhn selbst noch nach dem Braten mit Flöhen übersät war… Kaum zu glauben, wenn man sieht, mit welcher Engelsgeduld die Spanier heute die Horden Wilder aus anderen Ländern Europas über sich ergehen lassen. Da macht sich doch eine „helle“ Kathedrale sehr gut vor dem „dunklen“ Hintergrund. Die Kathedrale des Lichts im verregneten, grauen, kalten Burgos – ersonnen von einem Juan aus … Colonia!
Das ist ein interessanter...
Das ist ein interessanter Hinweis, Dulcinea. Vielen Dank. Leider habe ich Julio länger nicht mehr gesehen. Er wurde versetzt, in eine andere Bank. Wir sprachen viel über Bücher und einsame Landschaften. Ich sollte einmal diese andere Bank besuchen, um zu sehen, wie es ihm geht. Und welche Freude wäre es für ihn, von der Dresdner Frauenkirche zu hören und wie sauber sie ist! Oder der Zusammenhang mit der Patina, den sollte ich ihm auch erklären. Dass bestimmter Sandstein natürlich nachdunkelt. Das ist ein schöner Ausdruck: „natürlich nachdunkeln“. Leider verhält es sich mit dem Haar des Menschen ja umgekehrt. Aber das wäre ein ganz anderes Thema.
Ein herrliches Thema für den...
Ein herrliches Thema für den Chemiker. Den Freunden des Kölner Doms sei folgende Seite des Fraunhofer Institutes empfohlen:
https://www.baufachinformation.de/denkmalpflege.jsp?md=1988022000801
Ich stelle mir gerade mit Grauen eine Putzkolonne am Kölner Dom mit Dampfstrahler und Wurzelbürste vor, das würde dem erhabenen Bauwerk ähnlich einer Sandburg den Rest geben.
Ein Dank an Don Thorsten! Das...
Ein Dank an Don Thorsten! Das sind so die Spezialkenntnisse, die uns guttun. Sollte ich Julio einmal besuchen, werde ich ihm diese Informationen weitergeben.
Spanisch-deutsche...
Spanisch-deutsche Missverständnisse gibt es viele, und ich stelle hier die These auf, dass die besten die sind, die man gar nicht merkt. Spanien und Deutschland sind sich nämlich sehr ähnlich, haben eine teilweise geteilte Geschichte, aus dem Hof der gemeinsamen Könige nach Karl V (de Alemania y primero de España, wie man in Spanien in der Schule zu sagen lernt) sind viele Redewendungen und Sprichwörter ausgetauscht worden (Zapatero a tus zapatos – Schuster, bleib bei deinen Leisten, Una golondrina no hace verano – eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, usw.), beide Länder haben auch eine große regionale Vielfalt gemein, die vielen spanischen Gastarbeiter haben auch zum Austausch beigetragen, wenn auch auf einer anderen Ebene, als die Hofgesellschaft vor fünfhundert Jahren. So weit, so gut.
Aber dann haben Wörter eine andere Bedeutung, und man merkt es erst, wenn aus einem „mediodía“ drei Uhr Nachmittags wird, oder wenn einem „mañana sin falta“ eine ganze Woche hinterhertelefoniert werden muss. Klainigkeiten, verglichen mit dem, was einem in Südamerika passieren kann.
Dann kommen die Unterschiede im alltäglichen Verhalten. Wer in Spanien die Schuhe auszieht, wenn er die Wohnung eines Bekannten betritt, bringt den Gastgeber sehr zum Grübeln. Warum macht der Deutsche das? Bleibt nur zu hoffen, dass der wohlmeinende Deutsche wenigstens keine Schweissfüße hat…
Aber die einzigen Mißverständnisse, die sich nicht ausrotten lassen, fürchte ich, sind die, die auf den für jemanden, der in Deutschland aufgewachsen ist, unnachvollziehbaren Unterschied zwischen „ser“ und „estar“ zurückzuführen sind. Das geht den Engländern und den Finnen natürlich genauso, aber der Unterschied zwischen „ser bueno“ und „estar bueno“, oder zwischen „estar enfermo“ und „ser enfermizo“, „la comida está pesada“ und „el invitado está pesado“ (oder gar „es un pesado“) lassen den Spanier, der meistens selber in Sachen Fremdsprachen etwas schwächelt, schmunzeln.
Dafür belehren die Spanier den Gast nicht süffissant mit einem der widerlichsten Sprüche der deutschen Sprache: „Deutsche Sprache schwere Sprache!“, sondern loben gerne seine Sprachversuche, und seien sie noch so rudimentär. Ist ja auch was.
Ansonsten habe ich bei Ihrem Artikel eigentlich keine Missverständnisse entdeckt, was natürlich auf ein Missverständniss meinerseits zurückzuführen sein kann. Ich entdecke nur unterschiedliche kulturelle Einschätzungen, die klar und verständlich artikuliert worden sind und vielleicht nicht geteilt, aber doch verstanden wurden. Vielleicht ist unsere jeweilige Auffassng dessen, was ein Missverständniss ist, ein ebensolches. Aber darüber brauchen wir uns keine grauen Haare wachsen zu lassen. Die kommen tatsächlich, wie Sie selbst gesagt haben, von alleine.
Ihre Worte bringen mich ins...
Ihre Worte bringen mich ins Grübeln, Pardel. Mißverständnisse, die man nicht merkt… woher weiß man aber dann, daß es Mißverständnisse sind? Das verstehe ich nicht. Irgendwann muß man doch darauf kommen, sonst hat man keinen Erkenntnisgewinn, oder? Wenn ein Spanier, zum Beispiel Julio, vor dem schönen Kölner Dom steht und als allererstes denkt: Der müßte einmal geputzt werden, dann finde ich schon, daß ein kulturelles Mißverständnis vorliegt. Der muß nämlich nicht geputzt werden, ganz im Gegenteil! Die Steine möchten ihre Ruhe, wie uns Don Thorsten eindringlich nahelegt. Also gehört dieses Mißverständnis aufgeklärt.
Herr Dr. Wenzel, wissen Sie...
Herr Dr. Wenzel, wissen Sie zufällig, aus welchen Materialien die Kathedrale von Burgos ist? Sollte der kulturelle Unterschied soweit gehen, dass die Spanier die Ästhetik über den Erhalt der Bausubstanz stellen?
<p>Liebe Dulcinea:...
Liebe Dulcinea:
Gerade die Tatsache, dass man die meisten Missverständnisse nicht merkt, macht sie so interessant. Es gibt sogar Menschen, die die Auffassung vertreten, ein Großteil unserer Kommunikation sei entweder redundant (in diesem Falle hat sie eher sozialen Charakter und bestätigt Gemeinsamkeiten, enthält aber keine neue Information) oder münde letztendlich in Missverständnissen. Diese Missverständnisse müssen von den Beteiligten aber nicht als solche bemerkt werden: wenn die Information, die subjektiv ankommt, konsistent mit der jeweils vorgefassten Meinung ist, sind beide zufrieden, und meinen sich verstanden zu haben. Haben sie aber mitunter gar nicht, und das kommt sogar sehr oft selbst unter Menschen derselben Kultur vor, egal welcher. Ich erlaube mir dazu das Buch vom Bremer Professor Gerhard Roth „Das Gehirn und seine Wirklichkeit“ zu empfehlen.
Natürlich gibt es auch Kommunikation, die funktioniert, ich möchte meine Meinung nicht als überzogene Polemik aufgefasst sehen.
Nebenbei fällt mir auf, das hier nur von Missverständnissen geschrieben wird, die Deutschen passieren. Die andere Seite würde mich auch interessieren.
Sanjandro, hier ist das...
Sanjandro, hier ist das Ergebnis meiner Recherche zur Kathedrale in Burgos: Sie ist aus weißem, marmorartigem Kalkstein. Das erklärt sowohl die strahlend helle Fassade, als auch die beachtliche Widerstandsfähigkeit gegen rabiate Reinigungsmassnahmen, ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester in Köln.
Und noch eine letzte Anmerkung: „Begründet durch den Bischof Mauricio, arbeiteten sowohl spanische, als auch flämische und deutsche Architekten, wie Hans von Köln, an diesem herausragenden Monument“. Wenn das keine nette Verbindung zwischen beiden Gotteshäusern ist!