Sanchos Esel

Eine spanisch-deutsche Kulturgeschichte der Missverständnisse (3)

Eigentlich wollte ich mich schon längst wieder gemeldet haben, aber ich war viel unterwegs, und wenn ich nicht unterwegs war, war es in Madrid sehr heiß. Diejenigen aus unserer Runde, die in Deutschland wohnen, finden das bestimmt keine lustige Bemerkung, denn in Deutschland ist es gerade ziemlich kühl. Aber da ich auch in Deutschland war, zwischendurch, darf ich sagen, dass diese Kühle dem Denken sehr förderlich ist.

Unter anderem habe ich die Kühle dafür genutzt, über eine Bemerkung von pastora-marcela aus der vergangenen Woche nachzudenken. Pastora-marcela schrieb, „hinter der bekannten Großzügigkeit, Warmherzigkeit und dem angenehmen Entgegenkommen der Spanier“ stecke auch etwas Anderes, nämlich „ein sehr starkes Bedürfnis, bei den anderen möglichst einen guten Eindruck zu hinterlassen, eine gute Figur zu machen, ‚a quedar bien‘.“

Wenn ich sage, dass ich lange darüber nachgedacht habe, meine ich das genau so. Das heißt, ich verstehe, was pastora-marcela sagen will, und ich verstehe, was diese Aussage bedeutet. Ich glaube sogar, dass sie stimmt. Aber damit weiß ich immer noch nicht, was ich von ihr halten soll.

Meine erste Frage wäre zum Beispiel: Ist es nicht löblich, dass jemand einen guten Eindruck hinterlassen möchte? Denn das heißt doch, er gibt sich Mühe, er denkt darüber nach, was andere Menschen von ihm halten werden, er sorgt sich um sein Bild in der Erinnerung der anderen. Ich kann darin nur Vorteile entdecken.

Ja, könnten andere jedoch einwenden. Dieser Mensch will allerdings gut erscheinen. Ihm kommt es auf den Eindruck an, nicht auf die Substanz. Und vielleicht hat pastora-marcela ihre Sätze als leise Kritik gemeint; als Plädoyer für die Substanz und gegen den schönen Schein.

Nun sind aber die allermeisten Begegnungen, die der Ausländer bei seinen Reisen hat, oberflächlich und außerordentlich kurz. Selten lässt sich bei dieser Gelegenheit das Wesen eines Menschen ausgiebig erforschen. Das heißt, der Reisende fährt meistens ausgesprochen gut damit, wenn sein Gegenüber bei ihm einen positiven Eindruck hinterlassen will und weiter nichts. Steige ich in einem Hotel ab, besuche Sehenswürdigkeiten, gehe essen, trinke auf der Plaza einen Kaffee, dann habe ich es nacheinander mit dem Taxifahrer, der Dame an der Rezeption, dem Concierge, dem Kartenverkäufer und dem Kellner zu tun. Erinnern Sie sich an meinen Kellner aus Cuenca, damals in der Karwoche? Na also. Da haben wir es. Der Mann wollte ganz sicher einen guten Eindruck hinterlassen. Und er tat es. Ich bilde mir deswegen nicht ein, sein Innerstes kennengelernt zu haben. Aber auf der Ebene, die für uns beide in einem solcherart geordneten Universum vorgesehen war, sind wir uns auf geradezu ideale Weise begegnet. Mehr, ich wette, dass ich mich auch noch in dreißig Jahren an ihn erinnern werde, sollten Erinnerung und Empfindungen mir bis dahin erhalten bleiben. Und deshalb weiß ich auch, dass ich über Menschen, die bei mir einen guten Eindruck hinterlassen wollen, kein böses Wort sagen werde.

Ich wollte Ihnen noch einige Weisheiten von Karl Baedeker aus dem Jahr 1899 zukommen lassen, aus der Einleitung zu seinem Reiseführer. Vielleicht machen die beiden Abschnitte Sie auch so nachdenklich wie mich. Es kommt mir nämlich so vor, als könnte man Ansichten über Menschen sammeln, so viel man möchte, man kommt nie an ein Ende. Hier also ist der alte Baedeker vor 110 Jahren mit dem, was er über die Spanier seiner Zeit dachte. Zur Erinnerung sei nur angefügt, dass Spanien ein Jahr zuvor seine letzten Kolonien, Kuba und die Philippinen, an die USA verloren hatte. Daher der „neuerdings so tief verletzte Nationalstolz der Spanier“, den Baedeker anscheinend komisch findet:

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„In den Kreisen der Gebildeten herrscht, namentlich in Südspanien, ein lebhafter, heiterer und gefälliger Ton, welcher im Verein mit der landesüblichen Zwanglosigkeit und der vielfach freilich etwas phrasenhaften Höflichkeit den Fremden zunächst besticht. Man hüte sich aber, das Gespräch auf ernstere Dinge zu lenken, und vermeide vor allem jegliche Erörterung kirchlicher oder politischer Fragen. Der empfindliche, neuerdings so tief verletzte Nationalstolz der Spanier, ihre völlige Unkenntnis fremder Verhältnisse läßt eine ruhige Auseinandersetzung nicht zu. Man beschränke sich bei derartigen Gesprächen durchweg auf die Rolle eines wohlwollenden Gastes.

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Das niedere Volk ist zwar ebenfalls nicht frei von nationaler Eitelkeit, aber es herrscht in ihm auch viel gesunder Menschenverstand. Dem taktvollen Fremden wird es nicht schwer fallen, den Verkehr mit ihm zu erlernen. Zweierlei ist dabei nie außer acht zu lassen: erstens, wo es gilt sein Recht zu wahren, Ruhe und Entschiedenheit, aber ohne Schroffheit, die nur die Leidenschaftlichkeit anregt; zweitens eine gewisse höfliche Rücksicht auch dem Geringsten gegenüber, der immer beansprucht, als ‚Caballero‘ behandelt zu werden. In Spanien herrscht eben im öffentlichen Verkehr ein Grad von Gleichheit und Freiheit, wie wohl in keinem anderen Lande, und hieraus ergibt sich auch jener ausgeprägte Unabhängigkeitssinn, jener vollkommene Mangel an Unterwürfigkeit, der die mittleren und unteren Klassen des spanischen Volkes kennzeichnet und im Handel und Wandel gegen den Käufer bisweilen geradezu in Ungefälligkeit ausartet.“

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Mit diesen interessanten Zeilen Baedekers verabschiede ich mich von Ihnen. Bis bald!

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