Heute habe ich mich in die Internetausgaben spanischer Zeitungen versenkt, besonders in die minütlich anschwellende Rubrik der Leserkommentare. Ich wollte wissen, was die Menschen über den Tod des siebenundzwanzigjährigen Daniel Jimeno Romero aus Alcalá de Henares denken. Jimeno Romero wurde heute morgen beim Stierlauf der „Sanfermines“ von Pamplona tödlich verletzt. Capuchino, der Stier, der am schlimmsten wütete, weil er sich nicht in eine Richtung treiben ließ, sondern gelegentlich umkehrte und die Absperrungen „kämmte“, wie es in der Fachsprache heißt, musste nur kurz den Kopf beugen, um den liegenden Mann zu treffen. Darüber hinaus gab es einige Verletzte und ein paar spektakuläre Stürze.
Ich habe mir vorgenommen, hier nicht über das Für und Wider des Stierkampfs zu sprechen, weil das Thema uferlos ist. Andererseits möchte ich niemanden hindern, seine (oder ihre) Meinung zu sagen. Was mich eher interessiert, ist, jenen Teil des spanischen Denkens zu erforschen, der im Stier ein wichtiges Symbol sieht und deshalb auch den Stierkampf – oder das „Stiergefecht“, wie es bei Baedeker noch hieß – für einen genuinen kulturellen Ausdruck Spaniens hält.
Das Erste, was mir dazu einfällt, ist, dass die Spanier nicht sagen: „Me gusta la corrida“, sondern: „Me gustan los toros.“ Sie mögen nicht den Stierkampf, sondern die Stiere. Auch das große Kompendium von José María de Cossío, dessen erste zwei Bände hier neben mir liegen, nennt sich schlicht Los toros. Und im Untertitel: „Technisch-historische Abhandlung“. Da die (später mehrfach überarbeitete und erweiterte) Originalausgabe in den frühen vierziger Jahren erschien, stellt sie eine besonders interessante Quelle über das ältere Spanien dar. Tatsächlich handelt Los toros kaum vom Torero und allerweitestgehend vom Stier. Wo es vom Menschen handelt, da deswegen, weil er um das von ihm verehrte Tier eine Industrie aus Züchtern, Arenabetreibern, Matadoren, empadronados, Spezialpublikationen und Stierkampfanhängern aufgebaut hat. Doch all das, wie gesagt, interessiert nur mittelbar. Cossío stellt den Kampfstier in den Mittelpunkt seiner Untersuchung.
Was nun das Stiertreiben (encierro) betrifft, so gilt einerseits: Ohne Stierkampf kein Stiertreiben. Andererseits ist nicht jeder Stierläufer ein aficionado der Corrida. In San Sebastián de los Reyes etwa habe ich vor zwei Jahren einen Läufer kennengelernt, für den es nichts Größeres gibt, als ein paar Sekunden lang dicht vor den Hörnern eines Kampfstiers herzulaufen, und der ganz Spanien auf der Suche nach diesen sonderbaren Glücksmomenten durchstreift. Natürlich weiß auch der Stierläufer, dass er nur gegen Kampfstiere laufen kann, nicht gegen Ochsen, so dass seine Leidenschaft unmittelbar an den Fortbestand der fiesta taurina gekettet ist. Doch in seinem Kopf stellt sich das anders dar: Er „bringt den Stier zur Arena“, er begleitet und animiert ihn – doch mit dem Vorgang der Stiertötung will er nichts zu schaffen haben.
Der getötete Daniel Jimeno Romero war den Informationen nach ein erfahrener Stierläufer. Er nahm schon seit sieben Jahren an solchen Veranstaltungen teil und konnte sich nicht vorstellen, zu den Opfern zu gehören. Wieviel Pech er hatte, zeigt ein zwanzigsekündiges Amateurvideo. Erstaunlich – von außen gesehen – ist wohl, wie stoisch der Tod einkalkuliert wird. Die Medien berichten davon mit großer Nüchternheit, auch wenn sie es sich nicht nehmen lassen, das blutüberströmte Gesicht des Schwerverletzten öfter ins Bild zu rücken, als das in deutschen Medien der Fall wäre. Mit „nüchtern“ meine ich eher den Text, der dazu gesprochen wird. Es wird eben berichtet. Informiert. Zur Kenntnis gebracht. Die Welt ist nun einmal so, dass siebenundzwanzigjährige Stierläufer ein Horn in den Körper bekommen und daran sterben können. Der Tod ist die Möglichkeit, die dabei eingerechnet werden muss.
In den persönlichen Leserkommentaren geht es dagegen ziemlich zur Sache. Die Stierkampfgegner sind klar in der Mehrheit. Hin und wieder besteht ein Kommentator darauf, es handele sich um ein freiwillig eingegangenes Risiko. Ein anderer verteidigt die kulturelle Bedeutung des Stiertreibens und trennt es vom Stierkampf. Ein dritter schreibt, die Stierläufer zeigten doch Mut und Selbstüberwindung, Tugenden, die in der spanischen Gesellschaft allenthalben fehlten. Und doch: Empörung, Abscheu und Konsternation überwiegen. Man lese die Kommentare in La Vanguardia oder selbst im konservativeren ABC, einer Zeitung, die normalerweise zu den strammen Verteidigern des Stierkampfs zählt. Vertieft man sich wirklich in die Lektüre – ich habe es gemacht -, erhält man ein komplexes Bild einer streitlustigen Gesellschaft, die nicht so recht weiß, was ihr kulturelles Erbe mit den modernen Zeiten zu schaffen hat.