Als mir noch einmal die Zeitung vom letzten Freitag in die Hände fiel, sah ich wieder das Foto: Der Enkel von Ernest Hemingway posiert fünfzig Jahre nach dem letzten Besuch seines Großvaters in Pamplona vor der steinernen Dichterbüste, um deren Hals ein rotes Halstuch liegt. Daneben steht ein Mann, der den Hemingway-Ähnlichkeitswettbewerb gewonnen hat. Hübsch. Ein nostalgisches Blatt aus dem Leben des Mannes, den sie „Papa“ nannten. Wer den interessanten Film The Sun Also Rises von Henry King kennt, wird sich an die wunderbar atmosphärischen Bilder des Pamplonas der fünfziger Jahre erinnern.
Heute möchte ich etwas tun, was die Ausnahme bleiben soll: eine Reportage hierhersetzen, die ich vor zwei Jahren über die encierros von San Sebastián de los Reyes geschrieben habe. Immerhin ist es nach Pamplona das berühmteste Stiertreiben Spaniens, und wir haben uns jetzt doch ziemlich intensiv darüber ausgetauscht. Worauf es mir damals ankam, war, beides zu zeigen: dass die Sache gefährlich ist, und dass die besten der dreitausend Läufer ein paar Sekunden des Glücks erleben. Die Reportage erschien am 9. September 2007 in der F.A.Z., und soweit ich weiß, hat sich an der Veranstaltung nichts Wesentliches geändert. Am kommenden 26. August 2009 geht es wieder los.
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Seit Ernest Hemingway 1924 in seinem Roman „Fiesta“ das Stiertreiben von Pamplona beschrieb, haben sich die Sanfermines der nordspanischen Stadt zum touristischen Jahrestermin entwickelt. Man schätzt, dass heute ein Viertel der tollkühnen Läufer aus Nordamerika kommt und auch ein Gutteil der Alkoholisierten eher englisch als spanisch spricht – weshalb bei den zahlreichen Hornverletzungen auch englisch gestöhnt wird.
Als Nummer zwei hinter diesem Juli-Spektakel hat sich das nördlich von Madrid gelegene San Sebastián de los Reyes etabliert, auch „Klein-Pamplona“ genannt. Acht Spätsommertage lang halten die encierros, die morgendlichen Stierläufe, das Dorf in Atem, ein Volksfest mit jahrhundertealter Tradition. Ein Verein mit dem schlichten Namen „El encierro“ bringt sogar eine tägliche Zeitung heraus und stellt die Videos des Stiertreibens ins Internet.
Morgens, lange vor Bürobeginn, ist die Bevölkerung von San Sebastián de los Reyes auf den Beinen und sucht sich die besten Plätze an der Straße. Massive Barrikaden schützen das Publikum auf den Gehsteigen vor dem, was auf dem siebenhundert Meter langen Parcours zwischen Stiergehege und Arena geschieht. Von Sonntag bis Sonntag, jeweils um 8.15 Uhr, jagen hier zwölf Stiere und rund dreitausend Läufer hindurch. Es müssen zwölf sein – die sechs Kampfstiere, die am selben Abend in der Arena stehen, sowie sechs Ochsen, die sie auf ihrem Weg dorthin begleiten. Es sind die Kampfstiere, die Feuer in die Veranstaltung bringen, denn sie sind aggressiver als ihr Begleittrupp.
Für die Läufer leiten sich daraus eiserne Regeln ab. Wer stürzt, sollte reglos liegenbleiben und mit den Armen den Kopf schützen. Wenn alles gutgeht, springen die Stiere über den Menschen hinweg, schlimmstenfalls bekommt er einen Huf ab, aber im allgemeinen kein Horn. Bergauf sind die Stiere übrigens gefährlicher als bergab, weil sie bergauf beschleunigen. Verletzungen entstehen, wenn Läufer im seitlichen Gesichtsfeld des Stiers als Bewegungsreiz wahrnehmbar sind und dem Tier zu nahe kommen, oder wenn Läufer, die in Sekundenbruchteilen die Richtung wechseln, sich gegenseitig umrennen. Dann kann der Stier kaum anders, als in das Menschenknäuel hineinzustürmen. Die typische Geste der Teilnehmer könnte man deshalb den frenetischen Blickwechsel nennen: nach vorn sehen, um Hindernissen auszuweichen, nach hinten schauen, um den Abstand zu den mächtigen Hörnern zu kalkulieren und dicht, aber nicht selbstmörderisch nah vor dem Stier herzulaufen.
Im Gewühl allerdings, mit jagendem Puls und Stieratem im Nacken, passiert alles so schnell, dass die guten Vorsätze oft über Bord gehen. Beim ersten encierro der Festwoche wurde ein Mann so unglücklich erwischt, dass der Stier ihn zwanzig Meter über die Straße zog wie einen Wischlappen. Ein anderer erlitt eine tiefe Stichwunde im Bein, als die Stiere in die Arena stürmten. Es ist unüblich, darum großes Aufhebens zu machen. Jeder weiß, worauf er sich einlässt. Und wer es braucht, wird wieder zusammengeflickt.
Stiertreiben ist in Spanien seit dem späten fünfzehnten Jahrhundert belegt und gehört in zahlreichen Dörfern zum Brauchtum. Die Männer von „Sanse“, wie die Stadt mit Spitznamen heißt, laufen mit den Stieren, seit sie Jugendliche sind. Am frühen Morgen spürt man eine gespannte Stimmung wie vor einem Sportwettbewerb. Viele sind gut trainiert, tragen vernünftige Sportschuhe und kennen sowohl die Regeln wie auch das Risiko. Konzentriert machen sie Dehnübungen und versuchen, die Nervosität im Zaum zu halten. Anders als in Pamplona sieht man kaum Alkohol. Dann wird der Böller gezündet, dreihundert Meter zurück geht das Tor auf, und die Stiere rennen los. Zwei Treiber mit Stöcken kontrollieren, dass die Tiere nicht kehrtmachen.
Der Parcours hat zwei Neunziggrad-Kurven, bei denen es schnelle Stiere nach außen an die Bande trägt, während die Läufer alles daran setzen müssen, sich innen zu halten. Da es in den Kurven leicht zu Karambolagen kommen kann, sammelt sich an diesen Punkten hinter oder auf den Barrikaden das meiste Publikum. Die Bilanz dieses Tages: ein im vollen Lauf gestürzter Stier, der sich schnell wieder aufrappelt, dazu ein halbes Dutzend Läufer am Boden, mit den üblichen Prellungen und Schürfwunden. Ein friedlicher Tag. Die sieben Unfallwagen an der Arena rühren sich nicht, und auch Jesús Gálves Domínguez, der auf Hornwunden spezialisierte Chirurg, der seit mehr als vierzig Jahren dabei ist, braucht nicht einzugreifen.
Um etwas von der Euphorie des Stiertreibens zu verstehen, muss man auf redegewandte Läufer treffen, die drei Minuten danach schon wieder bei Puste sind. Dem fünfunddreißigjährigen José Miguel, weiße Hose, rotes Hemd, sieht man das Erlebnis dieses Morgens sofort an. Es war ein „sauberer und schneller“ Lauf, was bedeutet: Die Herde blieb zusammen und lief ohne Verzögerungen. Mit leuchtenden Augen erzählt José Miguel von den zwölf, dreizehn Sekunden, die er vor einem Stier hergerannt ist, so schnell er konnte, was bei dem athletischen Mann schon etwas heißt. Er hat wochenlang dafür trainiert. Am Ende ist der Stier immer etwas schneller, und die Läufer müssen sich im richtigen Augenblick seitlich wegfallen lassen, um den nächsten Stier zu erwarten. Da das einige hundert andere auch wollen, sind Selbsteinschätzung und Rücksichtnahme die obersten Tugenden.
Wer sich fragt, was das Ganze soll, hört die simpelste aller Erklärungen: „Weil ich Stiere mag.“ Das schließt im Fall des encierro nicht unbedingt die abendliche Corrida ein, sondern bedeutet nur Verehrung für den iberischen Kampfstier. „Es sind diese wenigen Sekunden, in denen du das Tier ganz dicht hinter dir spürst“, erzählt der Läufer aus der Mittelmeerprovinz Castellón. „Es ist unvergleichlich.“ So sehr, dass José Miguel schon seit zehn Jahren durchs Land fährt, um in ganz Spanien an den traditionellen Stiertreiben teilzunehmen, wo er dann andere trifft, die denselben Stiertourismus betreiben. Die erste Pflicht nach den aufregenden Minuten des Morgens ist der Griff zum Telefon, um der Ehefrau zu erzählen, dass nichts Schlimmes passiert ist. „Aber es sind insgesamt acht Läufe. Und achtmal fragt sich meine Frau, ob ich da wieder heil herauskomme.“
Um 9.30 Uhr trifft sich der Verein „El encierro“ im Café zur Gesprächsrunde. Letztes Jahr hat er ein Buch herausgegeben, um die Geschichte dieses Festes, das zu Ehren einer Christusfigur stattfindet, zu dokumentieren. Seit 1529, das ist urkundlich belegt, besitzt der Ort die königliche Genehmigung, Stiertreiben zu veranstalten. Manuel Durán, der Vereinsvorsitzende, hat als Dokumentarist am „Cossío“ mitgearbeitet, dem dreißigbändigen Standardwerk der Tauromachie, er muss es also wissen. Stiere sind der Sozialkitt, mit dem hier alles geregelt wird, das Zusammenkommen, Reden und Feiern, die Freundschaften, das Vereinsleben. Pedro Mari Rivera, der den Startböller gezündet hat, greift zur Gitarre und singt eine Copla über den schönen Morgen des encierro. Danach analysieren Fachleute das Video jener knapp zwei Minuten Drama, die wir eine Stunde zuvor erlebt haben.
Auf dem Podium sitzen zwei Läufer, beide mit frischen Handverletzungen. David Polos läuft seit zwanzig Jahren in San Sebastián de los Reyes und seit neun Jahren in Pamplona. „Ich will nur dreißig Sekunden“, erzählt er uns später, „dann war es ein guter Lauf. Und zwar vorn, zwischen den Hörnern.“ Natürlich ist es ein Kitzel, doch nicht ganz der, den man sich denken würde. Denn der eine Meter vor den Hörnern ist beim Stier der blinde Fleck, dort sieht er nichts, so dass Läufer, die sich in diesem Bereich halten können, theoretisch sicher sind. Dorthinzufinden ist die Kunst. Und wieder wegzukommen. David übrigens ist gegen den Stierkampf, er will nur laufen, nicht töten. Was es ihm denn gebe, diese Nähe zum Stier? Er schüttelt den Kopf. „Es ist mit Worten nicht zu beschreiben.“