Sanchos Esel

Carlos Ruiz Zafón und die Arbeiter der Literatur (1)

Manche nehmen sich in den Sommerferien vor, wichtige Bücher zu lesen, etwas, wozu sie das ganze Jahr über nicht kommen, wie sie sagen, und manchmal frage ich mich, ob dieser Selbstanspruch – sich zu fordern, sich zu bilden, eine neue ästhetische Erfahrung zu machen, die möglicherweise mit einer gwissen Anstrengung verbunden ist – im Lauf der nächsten Jahre aussterben wird. Dann wieder sage ich mir: Nein, es wird immer Menschen geben, die höher greifen, als ihre Armlänge gestattet. Es wird immer Menschen geben, die etwas lernen wollen, ohne vorher genau zu wissen, was.

Der spanische Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón hat soeben beim Festival von Edinburgh seine These wiederholt, die Unterscheidung zwischen „hoher“ und „populärer“ Literatur sei Unfug, dahinter steckten Marktinteressen und Gier nach Meinungsführerschaft. Weil ich das Vergnügen hatte, mich mit ihm vergangenes Jahr in Barcelona länger zu unterhalten, setze ich einen Passus seiner damaligen Ausführungen hierher, so, wie ich sie vom Band transkribiert habe. Seine Sätze entsprechen ziemlich genau der auch in Edinburgh vorgetragenen These. Carlos Ruiz Zafón also sagt:

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„Ich betrachte Literatur ohne Vorurteile, sagen wir ruhig: ohne Rassismus. Darunter verstehe ich, ohne Vorbehalte gegenüber den verschiedenen literarischen Formen und Gattungen, zum Beispiel ohne Einteilung in ‚ernste‘ und ‚unterhaltende‘ Literatur. Es gibt Seelenromane, Kriminalromane, Gesellschaftsromane und anderes, doch jeder Roman für sich ist zunächst ein Stück Handwerk, das beherrscht sein will. Duke Ellington sagte, es gebe nur zwei Arten von Musik, gute und schlechte. Der Rest sind Dummheiten und Vorurteile, die ja meistens nicht ohne Hintergedanken verteidigt werden. Der Erfolglose kann dann leicht sagen: Ich habe so wenig Leser, weil ich so hohe Literatur schreibe. Nein, finde ich. Die Leser geben ihr Votum ab. Sie entscheiden. Und während Der Schatten des Windes ein Buch über Leser war, wurde Das Spiel des Engels zu einem Roman über Autoren, eine Hommage an die großen Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts, die täglich um ihre Leserschaft kämpfen mussten.

Der Fortsetzungsroman war die prägende Publikationsform jener Zeit. Fast alle großen Autoren veröffentlichten ihre Werke zuerst in Zeitungen und Zeitschriften, Balzac, Victor Hugo, Dickens, Tolstoi, Dostojewskij, alle schrieben Fortsetzungsromane. Diese Schreibexistenzen interessierten mich. Menschen wie Dumas oder Balzac, die sich für ihre Kunst kaputtmachten. Sie alle schrieben für Geld. Sie waren Arbeiter der Literatur. Wenn wir heute vor unseren Studienausgaben mit Fußnoten und Anmerkungen stehen, sollten wir uns daran erinnern, dass unsere Klassiker eigentlich etwas anderes waren: kein Bildungsstoff, sondern volkstümliche, vielgelesene Schriftsteller. So war es immer, von Shakespeare bis Dickens. Die Leute dagegen, die sich heute ‚Elite‘ nennen, können nichts dergleichen für sich in Anspruch nehmen. Es geht weniger um ideologische als um wirtschaftliche Interessen. Doch da könnte eine Wachablösung bevorstehen. Die Institutionen, die bereit wären, für diese selbsternannten Kulturhüter zu bezahlen, werden immer weniger, für Leute, die ‚dem Volk‘ kraft höherer Autorität erklären wollen, wo es langgeht. Dieses ‚Volk‘ macht sich gerade aus dem Staub, und zwar in rasendem Tempo!“

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Soweit der Verfasser des nach dem Don Quijote bestverkauften Buchs der spanischen Literatur. Ich finde seine Sätze interessant und anregend. Sie werden auch nicht falsch dadurch, dass Ruiz Zafóns eigene Literatur an Tolstoi, Dickens oder Dostojewskij nicht annähernd heranreicht. Sie erhalten allerdings eine andere Färbung. Im Kontext des brutalen Verdrängungswettbewerbs, der auf dem Buchmarkt im Gange ist, wirken Ruiz Zafóns Thesen wie eine Aufforderung an die Leser, sich mit anspruchsvoller Prosa auf keinen Fall abzumühen, weil es sich nicht lohne. Die gute Literatur, so der Schriftsteller, ist jene, die in fetten Stapeln in der Bahnhofsbuchhandlung liegt. Abseitiges? Skurriles? Exotisches? Bleibt mir damit weg! Wir sind das Volk!

Was am Ende natürlich stimmt, weil die Zahlen immer recht haben. Nur eben, dass literarische Entdeckungen nicht von den Werbeabteilungen der Großverlage gemacht werden, sondern immer noch von eigensinnigen, unberechenbaren Einzellesern, die bereit sind, überall zu suchen und sich ihren Geschmack nicht diktieren zu lassen. Durchmustern wir die Literaturgeschichte der letzten hundert Jahre, finden wir jede Menge grandioser Bücher, die nicht als Bestseller auf die Welt kamen, sondern sich ihren Status unter oft sonderbaren Umständen erkämpfen mussten. Und das heißt: erstmal den Platz in den Buchhandlungen. Dann ihren Platz in den Köpfen der Leser.

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