Gestern morgen um kurz nach neun kam ich an ein großes Rondell im Nordwesten Madrids. Ich sah einen Menschenauflauf, hier angespannte, dort einfach nur gaffende Gesichter. Polizeiautos standen wild geparkt. Eine Polizistin hieß mich erst anhalten und winkte mich dann weiter. In der nächsten Sekunde sah ich den umgekippten Lastwagen. Er lag auf der rechten Seite. Ich fragte mich, welche Kraft das große Ding umgeworfen haben konnte. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich an der nächsten Ecke halten solle, um auch ein wenig zu gaffen, man macht so etwas viel zu wenig, und da die Gelegenheiten sich selten ergeben, sollte man sie vielleicht nutzen. Dann war ich vorbei und fuhr weiter, damit der Hund noch vor der Tageshitze im campo rennen konnte. Erst heute morgen las ich den Hergang der Geschichte in der Zeitung, und da sie ungewöhnlich ist – nicht mehr, aber auch nicht weniger -, teile ich sie hier mit. Bei uns im Viertel wird darüber geredet, was sonst.
Der Lastwagen gehört einer Firma, die Zigaretten an Tabakläden liefert, in diesem Fall Waren im Wert von rund 300.000 Euro. Zwei Männer von 34 und 48 Jahren fuhren am Morgen los, um die Ladung von zweihundert Kisten (zehntausend Stangen von je zehn Päckchen) auf die verschiedenen Madrider Verkaufspunkte zu verteilen. An der Straße Ventisquero de la Condesa blockiert ihnen plötzlich ein BMW den Weg, vier Maskierte springen heraus, greifen die beiden Männer im Lastwagen an und zerren sie unter brutalen Schlägen nach draußen. Während die einen die beiden Angestellten in den Laderaum ihres Autos werfen, steigt ein anderer in den Lastwagen und fährt mit der Beute los. Kurz darauf werden die beiden benommenen Männer bei voller Fahrt nach draußen auf die Straße geworfen. Ein dahinter fahrendes Auto kann rechtzeitig bremsen; der Fahrer leistet den beiden Schwerverletzten Erste Hilfe, ruft Notdienst und Polizei. Der Räuber im Lastwagen fährt unterdessen viel zu schnell in das Rondell ein, das ihn zur Stadtautobahn M-40 bringen soll; nach wenigen Metern verliert er die Kontrolle, der camión kippt, und ein guter Teil der Ladung ergießt sich nach draußen. Die Flüche des Fahrers und seiner Komplizen sind nicht überliefert. Der Mann ist aber in der Lage, durch die Fahrertür ins Freie zu klettern, so dass die Täter in ihrem Auto fliehen können. Von der Beute haben sie keine einzige Zigarettenstange mitgenommen.
Offenbar sind Überfälle auf Tabaktransporte in Madrid keine Seltenheit mehr; von mehreren wurde in den letzten beiden Jahren berichtet. Als ich die Geschichte las, dachte ich aber vor allem daran, wie oft ich dieses Rondell schon benutzt hatte. Ein großes Rondell, etwas angeberisch, wie ich finde, mit inhumanen Proportionen, wie geschaffen für den eiligen Autofahrer, für den man in Madrid ja alles tut, während Fußgänger und Fahrradfahrer sehen können, wo sie bleiben. Dann blätterte ich in der Zeitung die Seite um und las die Zwanzigzeilenmeldung über den Mann, der gestern um acht Uhr morgens im Süden der Stadt eine Sparkasse überfiel und sich plötzlich allein vor den Angestellten fand, vermutlich mit einer Spielzeugpistole in der Hand.
Halten wir hier einen Moment inne. Welche erregenden dramaturgischen Möglichkeiten ergäben sich jetzt! Eine schöne junge Frau etwa könnte den Mann furchtlos anlächeln, sein Herz schmilzt, er lässt die Plastikwaffe sinken und bricht seine verbrecherische Unternehmung ab. Oder eine resolute Angestellte marschiert direkt auf den Sparkassenräuber zu und greift ihn unter lauten Schlachtrufen an, so dass ihre Kollegen dazustoßen und alle gemeinsam den Mann überwältigen. Oder… nun ja, es gäbe noch viele andere attraktive Wendungen.
Wollen Sie die Wahrheit hören? Der Sparkassenräuber war offenbar ein sehr unerfahrener Sparkassenräuber. Kaum stand er in der Sparkasse – die Angestellten hatten ihn noch nicht einmal alle bemerkt -, da wurde er so nervös, dass er sich zehn Euro in Münzen krallte und davonrannte, weit weg. Ob er einen Fluchtwagen benutzt hat, ist nicht bekannt, aber es darf angenommen werden. Jedenfalls ist in der Nähe der Sparkasse kein Auto umgekippt. Das ist doch schon mal etwas. Und niemand ist zu Schaden gekommen. Und zehn Euro in Zeiten der Bankenkrise… darüber lachen wir doch. Die Polizei setzt die Ermittlungen fort.