Sanchos Esel

Rafael Chirbes und die Arbeiter der Literatur (2)

Es gibt solche Fälle. Etwa den des spanischen Schriftstellers Rafael Chirbes, der im deutschsprachigen Raum bekannter sein dürfte als in Spanien. Seit seinem Roman La larga marcha (1996, deutsch unter dem Titel Der lange Marsch) behandeln ihn die Kulturteile der Zeitungen mit größter Achtung, und das gilt auch für Bücher wie Viejos amigos (2003, deutsch als Alte Freunde) oder Crematorio (2007, Krematorium), die am Anfang ein bisschen Geduld erfordern. Was allein daran liegt, dass Chirbes seine Romane gern aus den Perspektiven von einem halben Dutzend Figuren erzählen lässt, ohne dass wir zu Beginn des Kapitels gleich wüssten, wer da spricht. Ob Frau oder Mann. Ob jung oder alt, reich oder arm. Es enthüllt sich natürlich irgendwann. Aber wir Leser hören von Anfang an auch das Betriebsgeräusch dieser Figuren mit, ihren Tonfall, ihre rhetorischen Tics und ihre Besessenheit. Bei Chirbes baut sich die Handlung im Lauf von ein paarhundert Seiten aus unterschiedlichen Versionen ein und desselben Geschehens zusammen.

Das ist kein ganz neues Verfahren. Doch es bleibt modern, weil es sowohl an den Autor wie auch an den Leser gewisse Anforderungen stellt. Das Ordnungsprinzip dieser Romane, könnte man sagen, ist ein daherredender Mensch. Und danach noch einer. Und noch einer. Monologkünstler allesamt. Der Autor tritt unparteiisch zurück und überlässt seinen Figuren das Wort. Er mischt sich nicht ein, sondern betätigt sich als Arrangeur von Stimmen. Was natürlich eine weitere Fiktion ist, denn niemand anders als der Autor plant jedes Wort, das da gesprochen wird.

Die Leser könnten nach der Lektüre des ganzen Romans tatsächlich das Gefühl haben, allen Figuren nahegekommen zu sein und wider Willen selbst die zu verstehen, die sie im wirklichen Leben nicht so besonders mögen würden. Das ist keine geringe Leistung. Was ist Kunst, hat der junge Friedrich Hebbel einmal in sein Tagebuch geschrieben, als „die Teilnahme an fremden Existenzen?“ Und im selben Zusammenhang schreibt er ungefähr, ich zitiere nach dem Gedächtnis: „Nicht was er soll, sondern wer oder was der Mensch sei, zeige die Kunst.“ Für Chirbes ist das schon das Eigentliche: dass wir Leser nicht vorschnell moralisch urteilen, sondern seinen Figuren erst einmal folgen, sie als Variationen unserer selbst begreifen und sie vielleicht sogar interessant und vielschichtig finden. Der Schriftsteller scheint uns zu sagen: Unsere Fragen sind allemal wichtiger als seine Antworten.

Bei jedem Künstler, jeder Künstlerin existiert ein Gefälle zwischen dem selbstgesetzten Ziel und der Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit. Und da wird es wirklich interessant. Chirbes zum Beispiel vertraut darauf, dass seine komplexen Romane im Leser einen Erkenntnisprozess auslösen. Von diesem Anspruch lässt er nicht ab. Wer den Weg nicht mitgehen will, muss zu Hause bleiben. An seinem Ende aber wird keine gelernte Lektion stehen, sondern möglicherweise die Fähigkeit, anhand einer zusammenhängenden Geschichte über die eigene Existenz hinauszudenken und die Grenzen des eigenen Bewusstseins zu verschieben. Ja, anhand einer erfundenen Geschichte. Einem Hirngespinst. Das Fiktive tritt doch immer wieder gleichrangig neben die Welt der Tatsachen. Und schon oft haben wir erfundene Geschichten für wirklicher, echter, bedeutender und aussagekräftiger gehalten als die banale Oberfläche der Zeitungsmeldung. Oder würde irgend jemand die Existenz von Sancho Panza bestreiten? Oder die Existenz von Sanchos Esel?

Die Frage ist also nicht so sehr, ob man Bücher in hoch und niedrig, ernst und unterhaltend, wertvoll und billig einteilen sollte. Sondern, wie sie es schaffen, in unseren Phantasien weiterzuwirken. Und warum. Durch welche Methoden, Techniken oder Kunstgriffe. Ich selbst erinnere mich an einige vermeintliche literarische Leichtgewichte auch nach vielen Jahren mit großer Intensität. Sie werden für mich also etwas Besonderes gehabt haben. Andere, vermeintlich seriösere Werke sind als blutleere Erinnerungshülle zurückgeblieben. Diese Bücher mögen in der Literaturgeschichte genannt oder in Seminarräumen durchgekaut werden, doch bei mir wecken sie keine Assoziationen mehr. Und was keine Bilder mehr wachruft, ist tot. Wir Leser sind wirklich nur uns selbst verpflichtet, wir müssen niemandem Rechenschaft ablegen. Auch nicht jener elitären Hochkulturlobby, deren Wirken Carlos Ruiz Zafón noch allerorten wittert.

Die eigentlichen Lobbyisten sind übrigens jene, die überhaupt etwas dekretieren wollen, das eine oder das andere. Früher hieß die Forderung, Bücher hätten „wichtig“, gebildet und vielleicht sogar manierlich zu sein. Heute heißt es von der gegenüberliegenden Straßenseite, sie sollten gefälligst unterhaltsam, zugänglich, wirklichkeitsnah und nicht elitär sein. Leser, die auf sich halten, werden sowohl die eine Vorschrift wie die andere freundlich zurückweisen und sich auf ihre eigenen Instinkte verlassen.

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