Sanchos Esel

Sanchos Esel

Spät essen, laut reden, wenig schlafen, kein Fahrrad haben, die Mülltrennung vergessen, dem berühmtesten Fußballverein der Welt zugucken, bei Rot

Rafael Chirbes und die Arbeiter der Literatur (2)

| 33 Lesermeinungen

Es gibt solche Fälle. Etwa den des spanischen Schriftstellers Rafael Chirbes, der im deutschsprachigen Raum bekannter sein dürfte als in Spanien. Seit seinem Roman La larga marcha (1996, deutsch unter dem Titel Der lange Marsch) behandeln ihn die Kulturteile der Zeitungen mit größter Achtung, und das gilt auch für Bücher wie Viejos amigos (2003, deutsch als Alte Freunde) oder Crematorio (2007, Krematorium), die am Anfang ein bisschen Geduld erfordern.

Es gibt solche Fälle. Etwa den des spanischen Schriftstellers Rafael Chirbes, der im deutschsprachigen Raum bekannter sein dürfte als in Spanien. Seit seinem Roman La larga marcha (1996, deutsch unter dem Titel Der lange Marsch) behandeln ihn die Kulturteile der Zeitungen mit größter Achtung, und das gilt auch für Bücher wie Viejos amigos (2003, deutsch als Alte Freunde) oder Crematorio (2007, Krematorium), die am Anfang ein bisschen Geduld erfordern. Was allein daran liegt, dass Chirbes seine Romane gern aus den Perspektiven von einem halben Dutzend Figuren erzählen lässt, ohne dass wir zu Beginn des Kapitels gleich wüssten, wer da spricht. Ob Frau oder Mann. Ob jung oder alt, reich oder arm. Es enthüllt sich natürlich irgendwann. Aber wir Leser hören von Anfang an auch das Betriebsgeräusch dieser Figuren mit, ihren Tonfall, ihre rhetorischen Tics und ihre Besessenheit. Bei Chirbes baut sich die Handlung im Lauf von ein paarhundert Seiten aus unterschiedlichen Versionen ein und desselben Geschehens zusammen.

Das ist kein ganz neues Verfahren. Doch es bleibt modern, weil es sowohl an den Autor wie auch an den Leser gewisse Anforderungen stellt. Das Ordnungsprinzip dieser Romane, könnte man sagen, ist ein daherredender Mensch. Und danach noch einer. Und noch einer. Monologkünstler allesamt. Der Autor tritt unparteiisch zurück und überlässt seinen Figuren das Wort. Er mischt sich nicht ein, sondern betätigt sich als Arrangeur von Stimmen. Was natürlich eine weitere Fiktion ist, denn niemand anders als der Autor plant jedes Wort, das da gesprochen wird.

Die Leser könnten nach der Lektüre des ganzen Romans tatsächlich das Gefühl haben, allen Figuren nahegekommen zu sein und wider Willen selbst die zu verstehen, die sie im wirklichen Leben nicht so besonders mögen würden. Das ist keine geringe Leistung. Was ist Kunst, hat der junge Friedrich Hebbel einmal in sein Tagebuch geschrieben, als „die Teilnahme an fremden Existenzen?“ Und im selben Zusammenhang schreibt er ungefähr, ich zitiere nach dem Gedächtnis: „Nicht was er soll, sondern wer oder was der Mensch sei, zeige die Kunst.“ Für Chirbes ist das schon das Eigentliche: dass wir Leser nicht vorschnell moralisch urteilen, sondern seinen Figuren erst einmal folgen, sie als Variationen unserer selbst begreifen und sie vielleicht sogar interessant und vielschichtig finden. Der Schriftsteller scheint uns zu sagen: Unsere Fragen sind allemal wichtiger als seine Antworten.

Bei jedem Künstler, jeder Künstlerin existiert ein Gefälle zwischen dem selbstgesetzten Ziel und der Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit. Und da wird es wirklich interessant. Chirbes zum Beispiel vertraut darauf, dass seine komplexen Romane im Leser einen Erkenntnisprozess auslösen. Von diesem Anspruch lässt er nicht ab. Wer den Weg nicht mitgehen will, muss zu Hause bleiben. An seinem Ende aber wird keine gelernte Lektion stehen, sondern möglicherweise die Fähigkeit, anhand einer zusammenhängenden Geschichte über die eigene Existenz hinauszudenken und die Grenzen des eigenen Bewusstseins zu verschieben. Ja, anhand einer erfundenen Geschichte. Einem Hirngespinst. Das Fiktive tritt doch immer wieder gleichrangig neben die Welt der Tatsachen. Und schon oft haben wir erfundene Geschichten für wirklicher, echter, bedeutender und aussagekräftiger gehalten als die banale Oberfläche der Zeitungsmeldung. Oder würde irgend jemand die Existenz von Sancho Panza bestreiten? Oder die Existenz von Sanchos Esel?

Die Frage ist also nicht so sehr, ob man Bücher in hoch und niedrig, ernst und unterhaltend, wertvoll und billig einteilen sollte. Sondern, wie sie es schaffen, in unseren Phantasien weiterzuwirken. Und warum. Durch welche Methoden, Techniken oder Kunstgriffe. Ich selbst erinnere mich an einige vermeintliche literarische Leichtgewichte auch nach vielen Jahren mit großer Intensität. Sie werden für mich also etwas Besonderes gehabt haben. Andere, vermeintlich seriösere Werke sind als blutleere Erinnerungshülle zurückgeblieben. Diese Bücher mögen in der Literaturgeschichte genannt oder in Seminarräumen durchgekaut werden, doch bei mir wecken sie keine Assoziationen mehr. Und was keine Bilder mehr wachruft, ist tot. Wir Leser sind wirklich nur uns selbst verpflichtet, wir müssen niemandem Rechenschaft ablegen. Auch nicht jener elitären Hochkulturlobby, deren Wirken Carlos Ruiz Zafón noch allerorten wittert.

Die eigentlichen Lobbyisten sind übrigens jene, die überhaupt etwas dekretieren wollen, das eine oder das andere. Früher hieß die Forderung, Bücher hätten „wichtig“, gebildet und vielleicht sogar manierlich zu sein. Heute heißt es von der gegenüberliegenden Straßenseite, sie sollten gefälligst unterhaltsam, zugänglich, wirklichkeitsnah und nicht elitär sein. Leser, die auf sich halten, werden sowohl die eine Vorschrift wie die andere freundlich zurückweisen und sich auf ihre eigenen Instinkte verlassen.


33 Lesermeinungen

  1. Madrid sagt:

    Vielen Dank, elbutre. Der Blog...
    Vielen Dank, elbutre. Der Blog lebt von allen, die dort schreiben. Das weiß man vorher. Aber es so zu erfahren wie hier ist schön und unerwartet.

  2. abfeldmann sagt:

    "Leser (...) werden (...) sich...
    „Leser (…) werden (…) sich auf ihre eigenen Instinkte verlassen.“

    wie sehen sie, paul ingendaay, das training-camp ‚blog‘ – oder ganz allgemein internet-interaction – in diesem zusammenhang?
    und: wie ‚veraendert‘ – oder ‚fordert heraus‘ – die vielstimmigkeit des internets das zeitgenoessische in der kunst?
    oder gaebe es hier eine grenze zu ziehen, die man vernuenftigerweise ziehen sollte?

  3. abfeldmann sagt:

    oder, um meine fragen etwas...
    oder, um meine fragen etwas beantwortbarer zu machen, hat sie die blog-erfahrung veraendert? – wenn ja, in welcher art?

  4. Gatamad sagt:

    Hallo elbutre. Erlauben sie...
    Hallo elbutre. Erlauben sie mir eine Frage? Werden sie bei der Liga die merengues dieses Blogs unterstützen? Sie klingen danach und da es ja wieder losgeht…. Scheinbar gibt es eine klare Übermacht, obwohl Dulcinea ihre Jungs immer schön verteidigt hat. Wie steht denn das Kräfteverhältnis allgemein? Ist es ganz polarisiert und kommen auch andere Farben zu Wort?

  5. Madrid sagt:

    Ja, abfeldmann, die...
    Ja, abfeldmann, die Blogerfahrung hat sich ausgewirkt, natürlich. Wollen Sie mir etwas Zeit geben, um das zu beantworten? Ich bin gerade nach Hause gekommen und muss darüber nachdenken. Zum Beispiel solche Entschuldigungen. Die musste man bei Briefen nie vorbringen. Übrigens war ich heute in Medinaceli und war ein paar Stunden nicht am Computer, so dass ich die Kommentare nicht freischalten konnte. Auch darum musste man sich früher nicht kümmern. Aber Sie meinen etwas anderes. Ich weiß.

  6. Madrid sagt:

    Gatamad, das ist lustig....
    Gatamad, das ist lustig. Gerade haben Sie sich an den literarischen Blog gewöhnt, da droht er schon wieder zum Fußballblog zu werden, nicht wahr? Also, ich gestehe es, am Samstag sitze ich im Bernabéu-Stadion. Aber vielleicht will ich danach ja über Barocklyrik sprechen? Oder Barockmusik? Oder andere barocke Dinge? Es hängt von Kaká und Benzema ab.

  7. pardel sagt:

    <p>Falls es noch keiner...
    Falls es noch keiner gemerkt haben sollte: ich gestehe, ich bin culé. Mein erstes Trickot war granatrot und dunkelblau und trug die Nummer sieben, das war damals Rexachs Nummer, und ich bin selbst unter Gaspart culé geblieben. Das war hart, aber dafür ist es letztes Jahr umso schöner gewesen. Obwohl es von Berlin aus nicht leicht ist, die LFP detailliert zu verfolgen. Es ist aber schon viel besser als noch vor drei Jahren.
    Herr Ingendaay: Sie erwähnen Kaká und Benzema. Mir scheint, das teuerste Spielzeug fehlt noch. Oder haben Sie den schon abgeschrieben? Barockmusik? Churrigueresco-Fußball? Wir werden viel schmunzeln, dieses Jahr.
    @abfeldmann: Gute Frage!Auf die Antwort freue ich mich schon.

  8. Dulcinea sagt:

    Guten Morgen, Gatamad. Sie...
    Guten Morgen, Gatamad. Sie erinnern mich an schöne Zeiten! Zeiten, als selbst eingefleischte Anhänger von Real Madrid über meine Jungs schrieben: „Der schönste Fußball der Welt war auch der beste. Als hätte mir jemand beweisen wollen, dass die Welt, allem Anschein zum Trotz, sinnvoll geordnet ist.“ Sie sehen, ich hatte nicht viel zu verteidigen. Wir waren einfach großartig. pardel ist übrigens auch culé, wenn ich mich recht erinnere. Und JorgeValencia lehnte den Fußballsport vollkommen ab, er fand, er sei ein Sport für Mädchen. Das ist lustig. Aber JorgeValencia scheint überhaupt noch zu urlauben.

  9. Madrid sagt:

    Ich sehe, Sie alle wärmen...
    Ich sehe, Sie alle wärmen sich schon wieder auf! So werden wir von JorgeValencia nie wieder etwas hören… Trotz des Ligabeginns in zwei Tagen sollen hier gelegentlich auch noch Themen literarischer Natur zur Sprache kommen.
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    Der Kauf des teuersten Spielzeugs, pardel, fand ohne meine Billigung statt. Dennoch muss man objektiv bleiben und abwarten, was daraus wird. Dass CR9 besser spielen wird, als er es in den letzten Wochen gezeigt hat, steht wohl außer Frage. Bei Kaká allerdings war ich mir sofort sicher, dass er der Richtige ist. Mir gefällt sein Spiel, seine Einstellung, sein Auftreten. Ich halte viel davon, diese Art „señorío“ bei Real Madrid zu stärken, statt gigantische Mediencoups namens Beckham oder Ronaldo zu inszenieren.
    *
    Dulcinea, auch in diesem Jahr sieht es für Sie doch gut aus! Ich bin allerdings nicht so wild darauf, die Sätze vom letzten Mai zu wiederholen. Das muss ich noch einmal deutlich sagen.

  10. Schrecklich! Die spanische...
    Schrecklich! Die spanische Fussball-Liga beginnt in genau zwei Tagen, wie Don Pablo versichert. Und die Fans der beiden imperialen Vereine sind sehr excited: sie zählen die Minuten, die Stunden und die Tage, bis das Volk wieder sein „circenses“ bekommt. Verständlicherweise: denn wir befinden uns inmitten einer schweren Rezession, das Volk bekommt immer weniger „panem“, als Kompensation braucht es immer mehr „circenses“. Ich melde mich wieder, wenn Real Madrid und FC Barcelona zusammen und zugleich absteigen.

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