Am Freitag und Samstag war ich in der Provinz León, in einem Dorf namens Lario. Dort, etwas außerhalb, auf einem Feld, das sehr malerisch vor den Bergen liegt – ganz nah ist der tieftürkisfarbene Stausee von Riaño, es ist eine Gegend für Wanderer, Naturfreunde und Radfahrer – haben sie die Gebeine einer Lehrerin und eines Lehrers ausgegraben, die am 30. September 1936 von Falangisten erschossen wurden. Der heute 91 Jahre alte Sohn der Lehrerin saß mehrere Tage lang dabei und schaute den Grabungen zu. Seit Jahrzehnten hatte er darauf gewartet. Jetzt war er sehr nervös. Was, wenn man nichts fände?
Nun, sie fanden etwas. Zuerst eine Brille, die des Lehrers. Dann Knochen, die 73 Jahre zuvor noch zu lebenden Menschen gehört hatten.
Es soll heute nicht um eine Gruselgeschichte aus dem Spanischen Bürgerkrieg gehen, sondern eher um meine lange Autofahrt nach Lario und wieder nach Madrid. Ganz knapp möchte ich allerdings sagen, dass die Makrogeschichte sich immer verändert, wenn man sich mit den Details der Mikrogeschichte vertraut macht. Das heißt, die vollmundigen historischen Verallgemeinerungen vergehen einem, wenn man von konkreten Fällen erfährt. Denn die Konkretion erschwert das Urteil. Ich hatte Gelegenheit, nicht nur mit dem alten Mann, sondern auch mit seiner Frau, seinen Kindern und Enkeln zu sprechen. Und der Fall dieser Familie erschien mir so erstaunlich und widersprüchlich, dass er allein ausreichen würde, um ein Symbol für die immer noch spürbare Zerrissenheit Spaniens zu liefern. Gut, ich will hier jetzt nichts vorwegnehmen, ich muss noch viel darüber nachdenken und die Bandaufnahmen auswerten, und dann werde ich eine Reportage darüber schreiben, und dann, aber erst dann werde ich wissen, was die Geschichte zu sagen hat.
Auf der Fahrt, die großenteils über Landstraßen führte, hörte ich ein Audiobook von Huckleberry Finn, einem meiner Lieblingsbücher. Beim Hören ging mir nun erstmals auf, wie nahe verwandt Mark Twains größter Roman und der Don Quijote sind. Es ist, als hätte der Amerikaner eine Hommage und eine Parodie in einem geschrieben. Gerade habe ich das mal im Internet überprüft, und es sieht so aus, als hätte alle Welt außer mir das schon seit langem gewusst. Es ist allerdings viel schöner, Erkenntnisse allein zu gewinnen und sie auf einer langen Autofahrt auszuspinnen, ohne sich anderer Wissensquellen zu bedienen.
Cervantes hat, wie allgemein bekannt sein dürfte, eine frühe road novel geschrieben. Don Quijote und Sancho Panza reisen mit ihren Reittieren durch Spanien. Sie treffen viele Menschen. Sie reden, kassieren Prügel, machen ihre Erfahrungen, reden wieder darüber und so weiter… Man könnte das Buch, der Vollständigkeit halber, einen Landstraßen-, Gasthof- und Kneipenroman nennen.
Mark Twain kontert das mit einer river novel. Huckleberry Finn und der entlaufene Negersklave Jim treiben auf dem Mississippi umher. Auch sie treffen viele Menschen und sind mit allerlei Gefahren konfrontiert. Auch sie philosophieren unablässig über das Leben. Es ist der etwas angeberische Tom Sawyer, der früh im Roman auf den Don Quijote anspielt und Huck seine völlige Ahnungslosigkeit vorhält. Vielleicht erinnern Sie sich an Toms besserwisserischen Ton.
Und jetzt kommt das Lustige. Meine Internetquellen sagen, Tom Sawyer als Bücherleser sei die Entsprechung zu Don Quijotes Fixierung auf Ritterromane, während der naive Huck dem naiven Sancho Panza entspräche. Seltsam ist nur (sage ich jetzt), dass Tom Sawyer in dem Roman Huckleberry Finn über weite Strecken überhaupt keine Rolle spielt. Das reisende Paar dieser river novel sind Huck und Jim. Mit anderen Worten, Mark Twain wertet die Geschichte um, er gibt den Unbedarften, die nur ihrer praktischen Erfahrung und ihren Instinkten vertrauen, Priorität vor intellektueller Versponnenheit und Büchergelehrsamkeit. Damit wird Huckleberry Finn zu einem spezifisch amerikanischen Kommentar zum Verhältnis zwischen dem tatkräftigen Amerika und dem vergeistigten Europa. Hätte Mark Twain gewusst, wie viele spanische Gelehrte nicht nur ihre eigene Existenz, sondern ihr ganzes Land, ihre Zeit, die physische Erscheinung Spaniens im Licht eines einzigen Romans betrachteten, er hätte sich kaputtgelacht.
Andererseits führt Twain unmissverständlich vor, dass die junge amerikanische Demokratie keinen Grund hat, sich über die spanische Klassengesellschaft zu erheben. In Huckleberry Finn sitzt der Colt ziemlich locker, und allein in der ersten Hälfte des Romans werden so viele Leute erschossen, dass ich aufgehört habe zu zählen.
Und dann ist da die Sklaverei, die nicht nur den düsteren Hintergrund liefert, sondern geradezu Temperatur und Luftdruck dieses Romans bestimmt. Zu Twains größten Leistungen gehört es, die Menschenschinderei immer wieder mit Humor beschrieben zu haben, besonders dort, wo der Sklave selbst zu Wort kommt. Als Huck und Jim einmal darüber sprechen, mit welchen (geringen) Geldsummen sie in ihrem Leben so hantiert haben, fällt dem entlaufenen Sklaven plötzlich das Kopfgeld ein, das auf ihn ausgesetzt ist. Und er sagt etwa: „Wenn ich das jetzt zähle, dann besitze ich achthundert Dollar.“ Denn soviel ist er wert. Und er bezieht einen gewissen Stolz daraus. Die Gesellschaft, die ihn verkaufen und über ihn verfügen will, spricht dem Sklaven Jim einen monetären Wert zu, der ihm – weil er soviel Geld noch niemals auf einem Haufen gesehen hat – ironischerweise einen Begriff von seiner eigenen Bedeutung vermittelt. In diesem Augenblick, könnte man sagen, unterwandert Jim den Diskurs der Sklaverei und errichtet seinen eigenen. In diesem Augenblick ist er ein freies Subjekt.
Ich höre hier auf. Lesen Sie Huckleberry Finn, wenn Sie es in den letzten zehn Jahren nicht getan haben. Sie werden erfrischt und mit jüngeren Augen den Don Quijote lesen. Und wie lange ist es her, daß Sie den gelesen haben?
Don Paul, wenn mir eine Frage...
Don Paul, wenn mir eine Frage erlaubt ist: waren die „Abenteuer des Huckleberry Finn“ schon immer eines Ihrer Lieblingsbücher? Auch als Kind? Ich frage dies, da ich mich daran erinnere, daß ich als junges Mädchen „Tom Sawyers Abenteuer“ stets viel interessanter fand als den Nachfolgeroman. Spannender. Farbenreicher. Vielleicht erschließt sich einem der Huckleberry Finn eben erst später. Als junger Erwachsener. Was — rein für sich — wiederum sehr lustig wäre, wenn man der Theorie dieser Internet-Interpreten folgt! „Tom Sawyers Abenteuer“ wäre dann ein Buch über die Büchergelehrsamkeit des Don-Quijote-Tom. Ein Kinderbuch! Und der Huckleberry Finn ein Roman über Unbedarfte, die nur ihrer praktischen Erfahrung und ihren Instinkten folgen. Ein philosophischer Roman! Darüber kann man wirklich lange nachdenken. Und Becky? Erinnern Sie sich an Becky? Sie schaut ja auch ein BUCH an, in einer der Schlüsselszenen des Tom-Sawyer-Romans. Diese Literaturinterpreten kommen wirklich auf lustige Dinge!
Ihre erste große Frage,...
Ihre erste große Frage, Dulcinea, scheint zu sein, in welchem Alter man Lieblingsbücher sammelt. Ich nehme an, ein Leben lang. Wie Sie richtig vermuten, kannte ich als Kind den „Tom Sawyer“ besser als „Huckleberry Finn“. Wichtig war auch die Verfilmung, ein Vierteiler, der in den Weihnachtstagen lief. Dort waren die Episoden des ersten Romans – Tante Polly, Becky Thatcher, Indianer-Joe, der Mord, der Prozess gegen den alten Potter und so weiter – sehr schön ausgemalt. Obendrein gab es im Film einen Erzähler, der gemächlich Twains wunderbar ironischen Originaltext sprach, wie ich vor ein oder zwei Jahren überprüft habe. Man kann allerdings nicht sagen, dass Toms Büchergelehrsamkeit für das Buch zentral ist. Meiner Erinnerung nach. Er führt nur das große Wort darüber, wie „man“ die Dinge macht.
*
Das Interessante kommt mit dem zweiten Roman. Die Dorfwelt, in der die Jungen sich zuvor bewegt haben, rückt in den Hintergrund, ja verschwindet wie im Nebel. Huck und Jim werden auf dem Floß in die Welt hinausgespült. Und bei Jim geht es um die Freiheit, im Fall eines Sklaven also um Leben und Tod. Anders als im ersten Roman (doch ähnlich wie im „Don Quijote!) bilden die Unterhaltungen einen wesentlichen Teil des Erzählstroms. Nicht von ungefähr treiben die Hauptfiguren auf dem immensen Mississippi umher. Der Fluss wird zu einer Metapher für all das, was Twains Erzählen so mit sich führt. Jeder, so könnte man sagen, entwirft sich ein Leben und erzählt davon. Jeder wählt Masken, Verkleidungen, wechselt seine Lebensdaten nach Belieben. Nicht nur Cervantes steht hier Pate, auch Shakespeare kommt in einer völlig verballhornten Version zur Aufführung. Huck selbst schafft sich so viele Identitäten und so viele verschiedene Namen, dass er den Überblick verliert. Das ist sehr komisch. Anders als in „Tom Sawyer“ geht es nicht um eine farbige Abenteuergeschichte, sondern – ein wenig feierlich gesagt – um die moralische Selbsterschaffung eines Menschen. Und was Jim im Lauf des Romans von sich erzählt und welche Lektionen er Huck erteilt, das gehört sicherlich zum Schönsten, was sich im 19. Jahrhundert überhaupt finden lässt. Anders als in der deutschsprachigen Tradition (ich stelle Stifter neben Goethe) wird in der amerikanischen Literatur ja nicht einfach nachgedacht und im Rosengarten herumphilosophiert; das Philosophieren, wenn man es so nennen will, erwächst aus der dramatischen Handlung. Soviel für jetzt, Dulcinea. Die Arbeit ruft.
Sie sind wirklich ein großer...
Sie sind wirklich ein großer Literaturverbreiter, Don Paul, wenn ich einmal so sagen darf. Sobald ich zurück bin in meiner Heimat, ich verspreche es, werde ich den Huckleberry Finn hervorholen und wiederlesen. Vor einigen Jahren habe ich mir das englische Original angeschafft, um einmal das… nun, englische Original zu lesen. Ich werde es tun. Warum? „Jeder, so könnte man sagen, entwirft sich ein Leben und erzählt davon. Jeder wählt Masken, Verkleidungen, wechselt seine Lebensdaten nach Belieben. … Huck selbst schafft sich so viele Identitäten und so viele verschiedene Namen, dass er den Überblick verliert“, das — wie soll ich sagen? — das spricht mich an! Und daran erinnere ich mich auch nicht mehr. Haben Sie vielen Dank!
Danke, Dulcinea. Warten Sie...
Danke, Dulcinea. Warten Sie nur, bis Sie Jims Reden im Original lesen dürfen. Sie werden umfallen.
<p>Mark Twain ist genial, aber...
Mark Twain ist genial, aber sehr schwer im Original zu lesen. Man muss sehr gut Englisch verstehen, um das zu geniessen. Die armen Übersetzer sind zu bedauern.
Heute wird man in den USA so etwas nicht mehr schreiben können: zu politisch inkorrekt! Schade…
Auf Ihre Reportage bin ich schon gespannt. Sie betreten vermintes Gebiet, das wissen Sie natürlich, aber wann, wenn nicht jetzt? Bald wird es keine direkten Zeitzeugen mehr geben. Die vielen Widersprüche! Sicher sehr gutes Material. Aber wie werden Sie Wahrheit, Dichtung und Ressentiment auseinanderhalten? Wie Twain selber einst sagte: „The trouble with the world is not that people know too little, but that they know so many things that aren´t so.“ Sein Humor war seine persönliche Flucht, ich fürchte, er wusste schon, warum er den Humor gebraucht hat. Zum Überleben. Galgenhumor ist ein sehr deutscher Begriff, Twains Humor ist anders, nicht so böse. Seine Spitzen sitzen aber, immer wieder. Ich werde beim Lesen leicht neidisch, ich würde ihn, wenn ich mich nicht bewusst bremsen würde, von A bis Z plagiieren.
Zu Plagiaten sagte anderseits Oscar Wilde (glaube ich, ich zitiere aus dem Gedächtnis), sie wären „the most honest form of flattery.“
Tja, arbeiten Sie ruhig weiter, Herr Ingendaay. Ich mache jetzt hingegen Feierabend und begebe mich in meine Stammkneipe. In zwei Stunden zeigen die Barças Ligaauftakt. Ich hoffe, das verdient ein Smiley, aber das erfahre ich nur im Nachhinein. So ist Fussball nun mal, sonst würde es auch kein Spaß machen.
<p>Auch ich habe nichts von...
Auch ich habe nichts von der Verwandtschaft zwischen Twain und Cervantes gewusst, nicht einmal geahnt. Aber schiesslich bin ich nur eine Buchgeniesserin und keine Kennerin. Ich muss ihre Ausführungen erst verdauen. Heute bin ich zu müde.
Pardel, ich stimme voll mit ihnen überein. Im Original zu lesen heisst nicht nur die Sprache halbwegs anständig zu „können“, man braucht einfach eine tiefere Kenntnis und Beziehung zu Land und Sprache. Mein Englisch ist erlernt, ich habe immer das Gefühl, dass mir zuviel fehlt, um die Nuancen und die Spielereien zu erfassen. Deshalb möchte ich hier auch die aussergewöhnliche Leistung der Übersetzer, die immer noch nicht DIE Anerkennung erhalten, die sie verdienen, rühmen.
Humor ist, glaube ich, immer eine Überlebenstaktik, also eine Art Flucht. Wieder haben sie recht, pardel. Ich glaube, es war Brecht, der – weiss jetzt nicht, wo (Dialoge Exil , Asyl….. soweit ich mich jetzt erinnere) – einen sagen liess, er könne nicht in einem Land leben, in dem die Leute keinen Humor hätten, und der Andere antwortete, er könne nicht in einem Land leben, in dem er den Humor zum (Über)Leben brauchte…. Ich bin jetzt zu müde zum Suchen oder schwebe noch zu sehr in sorianischen, mystischen Erlebnissen, aber es war etwas in dieser Richtung.
Auch ich bin sehr gespannt auf ihre Reportage, Herr Ingendaay. Das Thema ist so vielschichtig und so empfindlich. Die Gespenster leben weiter in den nächsten Generationen. Die Kälte und die Angst der Nachkriegszeit sind noch nicht verschwunden. Es ist ein schweres Erbe, das noch viele Menschen belastet.
pardel, vor fast genau drei...
pardel, vor fast genau drei Jahren habe ich eine Reportage über eine Exhumierung in Navalcán (Toledo) veröffentlicht. Die beiden Erschossenen von damals starben fünf Tage nach jenen, um deren Exhumierung es jetzt in Lario (León) ging. Beide Erlebnisse waren aufwühlend und lassen mich nicht los. Mitte letzter Woche fragte ich mich kurz, ob ich mir das noch einmal antun muss. Doch ein Kollege hatte danach gefragt, und man darf sich, wenn man neu nachdenken will, nicht auf alte Eindrücke stützen. Man muß es noch einmal sehen, noch einmal Fragen stellen und das Unbegreifbare zu begreifen versuchen. Es gibt übrigens noch viel mehr Unbegreifbares als die Morde als solche. Für einen Schreibenden aus Deutschland sehe ich da kein vermintes Gelände. Dass die spanische Gesellschaft in dieser Frage immer noch gespalten ist, muss mich nicht beeinflussen. Allerdings trägt der Schreibende eine große Verantwortung. Er muss
– viel wissen;
– viel erfahren;
– scharf nachdenken;
– und sich um Wahrhaftigkeit bemühen.
Oh, er sollte auch gut schreiben. Das versteht sich von selbst. Aber es ist nicht das Wichtigste.
*
Gatamad, Sie haben recht mit dem schweren Erbe. Je mehr man über die Mikrogeschichte erfährt, desto schwerer wird das Erbe. Und die Angst, sie scheint mir manchmal der stärkste Antrieb von allen zu sein.
Zu Cervantes und Mark Twain:...
Zu Cervantes und Mark Twain: Während ich dem Audiobook so zuhörte und durch die wunderbare Landschaft fuhr, kam mir ein Satz meines alten Griechischlehrers in den Sinn. (Er war nicht alt, als er ihn sagte. Und er starb viel zu früh.) „Bei einer Analogie“, sagte er, „ist die Unähnlichkeit größer als die Ähnlichkeit.“ Das trifft hier auch zu. Natürlich ist die Unähnlichkeit zwischen Cervantes und Twain groß. Doch es gibt zwischen ihnen Ähnlichkeiten, von denen zu sprechen sich lohnt. Eigentlich sind doch die nebenbei entdeckten Ähnlichkeiten, inmitten eines uns umgebenden Meeres von Unähnlichkeiten, der wahre Grund, warum wir lesen.
"Bei einer Analogie", sagte...
„Bei einer Analogie“, sagte er, „ist die Unähnlichkeit größer als die Ähnlichkeit.“ – sehr schoen. –
„Eigentlich sind doch die nebenbei entdeckten Ähnlichkeiten, inmitten eines uns umgebenden Meeres von Unähnlichkeiten, der wahre Grund, warum wir…“ … leben und lieben.
–
btw, paul ingendaay, sie stellten uns ihre reflexionen zum blogwesen in aussicht.
Danke für die Erinnerung,...
Danke für die Erinnerung, abfeldmann. Diese Woche wird es sein. Vor der nächsten Reise.