Sanchos Esel

Plastik und Granit oder: In welcher Welt bewegen wir uns eigentlich?

Vor ein paar Tagen wurden wir hier auf ein Phänomen namens „Bolsa caca“ aufmerksam gemacht. Ich weiß nicht, ob alle wissen, worum es sich dabei handelt, aber da ich mich inzwischen umgehört habe, darf ich es sagen: „Bolsa caca“ – soviel wie „Tüte pfui“ – ist eine pseudoökologische Kampagne großer spanischer Kaufhäuser, die vor ihren Kunden rechtfertigen wollen, dass sie von nun für die Plastiktüten, in denen der Kunde seine Waren abtransportiert, Geld fordern werden.

In Deutschland ist das Thema einer der ältesten Hüte des systematischen Dienstleistungsabbaus. Ich glaube, es war zu Zeiten der sogenannten „Ölkrise“ in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als die Läden damit begannen, für Plastiktüten Geld zu nehmen. Seinerzeit hieß es, für die Herstellung der Plastiktüten müsse soviel kostbares Öl aufgewendet werden, dass eine Gebühr unausweichlich sei. Heute heißt es in Spanien, es dauere vierhundert Jahre, bis eine dieser Plastiktüten biologisch abgebaut sei, daher wolle man den Kunden zum Umdenken veranlassen. Ich dagegen glaube, dass es sich hier um eine weitere Maßnahme handelt, aus einer gebeutelten Bevölkerung noch ein paar Euro mehr herauszupressen. Einen unfreundlichen Bericht über die Kampagne, der mir aus dem Herzen spricht, lesen Sie hier.

Um es ganz klar zu machen: Plastiktüten sind schlecht. Die supermarktübliche spanische Plastiktüte ist sehr dünn und verträgt vielleicht zwei- bis dreimalige Verwendung, nicht mehr. Und es wäre gut, wenn weniger Plastiktüten benutzt würden und durch die Landschaft flögen. In dieser Beziehung wird die Kampagne, die gerade angelaufen ist, eine gewisse Wirkung erzielen. Auf diesen Kollateraleffekt sollten sich die Kaufhäuser aber nichts einbilden.

Was mich an der Sache stört, ist zweierlei. Einmal die oben erwähnte Heuchelei. Bisher kenne ich kein einziges spanisches Großunternehmen, das irgendeine als ökologisch ausgegebene Maßnahme wirklich aus ökologischen Motiven durchgeführt hätte. Wer mit wachen Sinnen durch spanische Straßen geht, sieht ständig das Gegenteil: Egoismus und Bequemlichkeit. Unökologisches Denken. Verschwendung von natürlichen Ressourcen.

Mein schönstes Beispiel ist der Konzern Telefónica. Früher verschickte Telefónica die Zweimonatsrechnungen für Festnetztelefon, Fax und Modem – vor langer Zeit hatte ich einmal drei Telefonnummern – in drei separaten Umschlägen. Irgendwann hat die Firma es logistisch in den Griff bekommen, drei Sendungen an denselben Kunden in einen einzigen Umschlag zu stecken. Sie sparte also Porto, was sicherlich schön für sie war. Dem Kunden gegenüber behauptete sie aber, sie wolle Papier sparen. Ah! sagte ich mir. Eine spanische Firma, die Papier sparen will. Das habe ich ja noch nie gesehen!

Ich sah es auch diesmal nicht. Denn Telefónica schickte mir länger als ein Jahr lang mit jeder der drei Telefonrechnungen, die in einem einzigen Umschlag steckten, dasselbe Blatt, auf dem sich die Firma brüstete, zum Schutz unserer Umwelt beizutragen und Papier zu sparen. Macht drei identische Blätter. Man nennt so etwas einen performativen Widerspruch. Jemand kündigt an, leise sprechen zu wollen, und tut es schreiend. Also. Auf den Umweltschutz werden wir in Spanien noch eine Weile warten müssen. Vielleicht täten interessierte Kräfte gut daran, bei der Verschandelung der Küsten anzusetzen? Bei der grassierenden Korruption, die jeden, aber auch jeden ökologischen Gedanken zuschanden gehen lässt?

Jetzt etwas, was mich noch viel mehr ärgert als institutionell verankerte Verlogenheit und Heuchelei. Das ist die Verhunzung der Sprache. Der Versuch, die Kunden abzulenken und dumm zu machen. Es ist die planhafte Infantilisierung der öffentlichen Sphäre. „Caca„, das sagen die Eltern zu ihrem kleinen Kind, das alles mögliche von der Straße aufhebt, weil es neugierig ist – Zigarettenkippen, Kronkorken, Glasscherben und so weiter. Dass es sich in den Augen eines Kindes bei vielen dieser Objekte um faszinierende Dinge handelt, können wir Erwachsenen uns nur noch schlecht vorstellen. „Caca!“ – „Lass das fallen!“ – „Das ist pfui!“ Nicht ganz zu unrecht denken wir an den Dreck und die Keime, die unser Kleinkind zum Mund führt, wenn es zum Beispiel an der alten Zigarettenkippe nuckelt oder auf der Glasscherbe herumlutscht. Hygiene muss sein. Schon verstanden. Wir wollen gute Eltern sein.

Aber ein Konzern, der uns in einer aufwendigen Kampagne „Tüte pfui“ zubrüllt, damit wir für unsere Plastiktüten bezahlen und der Konzern mehr Geld verdient… nein, so ein Konzern behandelt uns genau wie die Schafherde, für die er uns hält. So ein Konzern ist nicht um die Umwelt besorgt, sondern einfach nur dreist, gierig, herablassend und chulesco. Und es wundert mich nicht. Spanien wird erst spät aus der Krise herausfinden. Es sieht so aus, als seien Zeiten angebrochen, in denen alle Tricks erlaubt sind.

Bevor ich es vergesse. Vor drei Tagen war ich auf dem Baugerüst am Pórtico de Gloria der Kathedrale von Santiago de Compostela. Ein britischer Kollege und ich durften uns fast eine ganze Stunde dicht bei den wunderbaren Figuren aufhalten, die Sie auf dieser Seite sehen. Sie sind aus Granit und über achthundert Jahre alt. Natürlich haben sie in dieser langen Zeit eine Menge Staub und Schmutz abbekommen. Deshalb unterzieht die Stiftung Pedro Barrié de la Maza sie gerade einer mehrjährigen Reinigung und Restaurierung. Schwer zu sagen, wie die Figuren in drei Jahren aussehen werden. Die Sache soll sehr behutsam vor sich gehen. Wenn man nicht nur zwei- oder dreimal, sondern viele Male in diese Gesichter blickt, fangen sie an, lebendig zu werden. Sie schauen einen direkt an. Und keines sieht aus wie das andere. Vielleicht gelingt es Ihnen, auf meinen Bildern einen kleinen Abglanz der Lebendigkeit zu entdecken, die ich dort oben auf dem Baugerüst empfand.

 

Die mobile Version verlassen