Sanchos Esel

Erde und Granit oder: Die Saat des Ermittlungsrichters Garzón

Auf dem Gerüst am Pórtico de Gloria in Santiago de Compostela… Sie erinnern sich? Wo ich mich neulich eine Weile unter den atemraubend schönen, neugierigen, freundlichen Granitgesichtern aufhalten durfte, deren achthundert Jahre Alter plötzlich zu nichts schrumpfen, wenn man ihnen nur lange genug in die Augen blickt?

An jenem Tag jedenfalls war auch der galicische Schriftsteller Manuel Rivas dabei. Auf dem Baugerüst. Und auch unten, bei den Präliminarien. Wir hörten dieselben Erklärungen der Expertin, wir sahen dasselbe Video, wir schauten in dieselben steinernen Gesichter, die einem auf Weisen, die sich schlecht vorhersehen lassen, Fragen über Tod und Leben zu stellen scheinen. So empfinde ich es jedenfalls. Ich weiß nicht, wie er es empfand. Wir haben unsere Eindrücke nicht ausgetauscht.

Gerade erhielt ich eine E-Mail mit dem Foto, das Sie unten sehen. Die Mail kam von der „Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica“ (ARMH). Der Herr vor dem Mikrofon ist Manuel Rivas, und den Spruch auf dem Boden, ein paar Schritte entfernt von der Kathedrale von Santiago de Compostela, werden Sie unschwer entziffern: Galicien solidarisiert sich mit dem Ermittlungsrichter Baltasar Garzón, der vorletzte Woche vor Gericht Rede und Antwort stehen mußte.

Ein überaus prozessfreudiger Mensch mit notorischen autoritären Neigungen hat Garzón auf Rechtsbeugung verklagt, nachdem dieser im vergangenen Jahr juristische Untersuchungen über die Verbrechen der Franco-Diktatur begonnen hatte. Dass Garzón auf vielfachen Druck von außen die Untersuchung selbst abbrach, tut jetzt nichts zur Sache. Interessant ist, wie Garzóns Saat aufgeht. Ich meine, furchtlos den Gedanken zu denken, dass die Verbrechen der Nationalisten, besonders die systematischen Liquidierungen in den Zonen, die die Putschisten in ihre Hand gebracht hatten, als Völkermord zu betrachten wären. Nicht nur eine Organisation wie ARMH, die seit neun Jahren im ganzen Land mit der Exhumierung von in Massengräber geworfenen Leichen beschäftigt ist, sieht die Sache so.

„Es war Völkermord“, sagte mir letzten Dienstag der Forensiker und Anthropologe Francisco Etxeberría, der an der Universität von San Sebastián lehrt. Etxeberría hat rund hundert Exhumierungen geleitet. Er hat mir Bilder der Massengräber gezeigt. Gleich am Anfang öffnete er einen Schrank, und da war seine besondere Steinesammlung – von jeder Grabung nimmt er einen der Steine mit, mit denen die Mörder ihre Tat zudeckten. Der Schrank war ziemlich voll. Dann zeigte er mir fünfhundert Seiten lange Berichte über die aus der Erde geborgenen Funde. Jeder Knochen muss fotografiert und beschrieben werden. Dahinter steht der Glauben, dass die Genauigkeit des Forschers alle Ideologien überlebt und am Ende triumphiert, weil sie aufschreibt, was war. Objektiv. Dieser objektive Blick unterscheidet nicht zwischen links und rechts, opportunen Opfern und unpassenden Opfern, zwischen guten Toten und schlechten Toten. Die wissenschaftliche Erfassung fügt dem Grauen durch Verdeutlichung und Konkretisierung zwar einerseits etwas hinzu, so dass das Grauen noch grausiger zu werden scheint. Andererseits bringen Wissen, Klarheit und Aufklärung immer Erleichterung. Die Schatten verschwinden. Die tobende Erinnerung kommt zur Ruhe. Scham über etwas, was offen zutageliegt, wird überflüssig. In vielen Fällen wollen die Hinterbliebenen nur das: Offenlegen. Zeigen. Bekanntmachen. Dejar constancia de personas que no tenían ni cuerpo ni vida en el recuerdo colectivo

 

„Es war Völkermord“, sagte mir gestern in Getxo bei Bilbao der baskische Schriftsteller Ramiro Pinilla, von dem hier schon einmal die Rede war. Sein einziges auf deutsch erschienenes Buch, der Roman La higuera (Der Feigenbaum), erzählt von einem jungen Franquisten, der durch seine sonderbare Form des Totengedenkens seine Kameraden zu einer Verzweiflungstat treibt. Und es ist sonderbar. Ohne dass die spanische Gesellschaft es gewollt hätte, ist das Thema zum beherrschenden Subtext der letzten Jahre geworden. Es ist das Thema, das aus Zapateros heftig umstrittenem Gesetz der „memoria histórica“ weitgehend ausgeschlossen wurde, so dass dieses Gesetz gerade denen nicht nützt, die noch irgendwo in Spaniens Boden verscharrte Angehörige haben. Es ist das Thema, das Filme, Bücher und Debatten hervorbringt, ohne dass sich das linke und das rechte Spanien darüber einigen könnten. Es ist aber auch das Thema, das spanische Soziologen später einmal als das wichtigste des Jahrtausendbeginns erkennen werden. Davon bin ich überzeugt.

Immer noch der Bürgerkrieg? könnte man fragen und sich über die spanische Gesellschaft wundern. Doch ich glaube, es geht um etwas anderes. Jetzt steht das aufbauende, möglicherweise versöhnende Gedenken an, für das nie Zeit war, nicht 1936, nicht 1975, nach Francos Tod, und auch nicht 1978, als Spanien sich eine demokratische Verfassung gab. Furcht und Unsicherheit haben die Menschen an manchen Orten immer noch im Griff, so dass sie um die heiklen Themen der Vergangenheit einen großen Bogen machen. „Alte Wunden aufreißen“, so nennen PP und Gesinnungsfreunde den Versuch, den Ermordeten postum Identität und Grab zu geben. Das Perfide des Vorwurfs wird nur noch von seiner Dummheit übertroffen. Denn offensichtlich hat sich die Wunde nie geschlossen, sie ist weder verheilt noch vernarbt, und es genügt schon ein falsches Wort, ein verknittertes Foto oder eine verwischte Namensliste, um die Gemüter wieder zu erhitzen.

Nein, die „alten Wunden“, die angeblich geschlossen sind, haben Teil an der täuschenden Selbstsuggestion, der auch Helmut Kohl anheimfiel, als er von der „Gnade der späten Geburt“ sprach und damit glaubte, sich aus der komplizierten Zeitgenossenschaft eines Deutschen nach dem Holcaust herauswinden zu können. Wir müssen wohl in Demut anerkennen, dass die Geschichte uns desto weniger verlässt, je panischer wir sie zu verscheuchen versuchen. Irgendwann – vielleicht – geht sie dann, aber sie tut es von selbst. Und dann, wenn es soweit ist.

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