Das Convento del Carmen, wo ich gerade wieder fünf Tage war, liegt auf einer Anhöhe und kehrt dem einen Kilometer entfernten Dorf Pastrana seine weniger pittoreske Seite zu. Der schöne Blick „nach vorne“, wie ich es nennen würde, geht auf ein langes Tal hinaus, das wie geschaffen wäre für einen Fluss. Ortskundige bezweifeln allerdings, dass es hier jemals so etwas gab, denn nicht weit entfernt fließt der breite Tajo, und Hügelfalten wie jene, die man vom Fenster aus sieht, gibt es in diesem Teil der Provinz Guadalajara viele.
Pastrana in diesem Monat war anders als sonst, nicht nur wegen der großen Kälte. Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit haben hart zugeschlagen, und obwohl man Restaurant und Hotel von Madrid aus in weniger als anderthalb Stunden erreichen könnte – genau die Entfernung, die Spanier gern für ihre escapada zum Wochenende nutzen -, nahm dort am vorletzten Samstag keine einzige Menschenseele Platz. Kein einziges Mittagessen! Vom Abend mal zu schweigen. Am Sonntag kam ich.
Einen Tag vor meiner Ankunft hatte ich einen Anruf erhalten, der Heizkessel sei ausgefallen, es gebe im Convento del Carmen kein warmes Wasser. Der Handwerker sei wegen der Feiertage erst am Mittwoch zu erwarten. Ob ich meine Reservierung stornieren wolle.
Ich wollte nicht. Bei großer Kälte wäscht man sich ohnehin nicht so gern. Und da ich keine sportliche Betätigung geplant hatte, dachte ich: Das überstehen wir.
Um durch die schweren Zeiten zu kommen, hat der Hotel- und Restaurantbetrieb in Pastrana seinen Personalbedarf sehr weit nach unten gefahren. Der einzige Mensch mit Anwesenheitspflicht rund um die Uhr ist Miguel, ein neunzehnjähriger Rumäne, der das Telefon bedient, allein durch die kalten, endlos langen Flure läuft und nebenbei auch noch kocht, wenn sich jemand bis in den Speisesaal verirrt. Über den Tag kommt ein zweiter Miguel, Spanier und deutlich älter, sowie Celia an der Rezeption. Damit die Belegschaft mal etwas Nettes hörte, lobte ich die überirdische Ruhe, die im Klostergebäude herrsche. Tatsächlich konnte ich völlig ungestört schreiben, da ich die zweite Etage ganz allein bewohnte, allein beim Frühstück saß und mutterseelenallein auch die beiden anderen Mahlzeiten einnahm. Mein Zimmer, wie Sie wissen, ist immer die Nummer 211, die auch vom ehemaligen spanischen Verteidigungsminister Federico Trillo genutzt wird. Immer, wenn ich komme, wird mir von ihm erzählt. Doch dass ihm immer, wenn er kommt, von mir erzählt würde, wage ich zu bezweifeln.
Miguel der Jüngere stammt aus Transsylvanien und sagte, ihm gefielen Vampirfilme, was ich lustig fand, vermutlich, weil ich nicht mit Vampiren aufgewachsen bin. Am ersten Tag wollte er sehr viel reden, er hatte Nachholbedarf; das legte sich später, und zur besseren Verteidigung führte ich immer ein dickes Buch mit, in dem ich las, während ich seine sopa castellana löffelte. Am Dienstag nachmittag schleppten Miguel und Miguel einen großen Kessel heißen Wassers aus der Küche in mein Badezimmer hinauf, damit ich die Wanne füllen und mit den wesentlichen Teilen des Körpers untertauchen konnte. Das tat gut. Danach fühlte ich mich nicht nur äußerlich gesäubert, sondern auch seelisch erquickt und geradezu geläutert. In diesem Zustand relativer Sauberkeit sah ich am Mittwoch, in eine Wolldecke gehüllt, im bitterkalten großen Versammlungssaal die zweite Hälfte des Spiels des FC Barcelona. Von dieser Art waren meine unschuldigen Freuden.
Im Lauf der Tage gingen die Obstvorräte zur Neige, doch das überraschte mich nicht. Erst die Äpfel, dann die Kiwi. Nur die Melonen hielten bis zum Schluss. Zwischendurch fehlte es auch einmal an Milch. Rindfleisch gab es in den ersten drei Tagen, dann nicht mehr. Ich hatte Verständnis dafür. Es wäre lächerlich gewesen, für eine einzige Person einzukaufen. Man sollte Gäste, meine ich, überhaupt viel stärker in die wirtschaftlichen Erwägungen (und Engpässe) des Hotelbetriebs einbeziehen, damit sie Solidarität entwickeln und Verständnis für die allfälligen Einschränkungen aufbringen; vielleicht könnten sie – die Gäste – ja durch Holzhacken oder das Verrichten leichterer Arbeiten im Haus zur Überwindung punktueller Notsituationen beitragen.
Durch Miguels (des Älteren) Freundin Gisela, die aus der Dominikanischen Republik stammt, erhielt ich Einblick in die Situation der Menschen hier. Gisela lebt seit anderthalb Jahren in Spanien; im ersten Jahr hatte sie in Pastrana Arbeit im Haus einer alten Frau, die sich ganztägig betreuen ließ, Putzen und Einkaufen inbegriffen. Dafür gab sie Gisela fünfhundert Euro im Monat. Vor sechs Monaten wurde das Arbeitsverhältnis beendet. Seitdem ist Gisela arbeitslos und wartet darauf, dass es besser wird.
Bald wird die Arbeitslosenquote in Spanien mehr als zwanzig Prozent betragen. Im Zweitausendseelendorf Pastrana, wo fast nur Alte wohnen, sind natürlich keine Jobs zu finden. Wer kann, verschwindet von hier; der Bus nach Guadalajara fährt einmal am Tag. Wer bleiben muss, duckt sich und trinkt nicht einmal mehr das Glas Wein in der Kneipe, sondern lieber zu Hause. Wieder einmal fiel mir auf, dass sich die Menschen nicht beklagen, obwohl sie bereitwillig von ihrer Not erzählen. Womit ich meine, dass sie nicht maulen, nicht jammern, nicht nörgelig und pessimistisch werden, obwohl sie bei den gegenwärtigen Aussichten allen Grund dazu hätten.
Celia erzählte mir, der unselige Heizkessel habe dem Hotel die letzten paar Gäste genommen, die es an jenem Wochenende hätte haben können; acht, neun Personen wollten nicht ohne heiße Dusche sein und annullierten ihre Reservierung fürs Wochenende.
Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass in diesem Gebäude einmal der Orden der barfüßigen Karmeliter zu Hause war. Einer von ihnen, genannt „der heilige Taube“ (Sie sehen ihn hier auf einem Bild aus dem siebzehnten Jahrhundert), nahm die Gebeine seiner verstorbenen Mitbrüder und fügte sie in den Altar ein (Bild darüber), der in einem kleinen Gewölbe unterhalb des Gemüsegartens steht, von dem ich letzten Winter schon einmal erzählt habe. Wieviel Mörtel die folgenden Generationen hinzugefügt haben, weiß ich nicht; wie alt die verbleibenden Knochen sind, auch nicht. Die Franziskaner, die hier bis vor einigen Jahren ansässig waren, erzählten mir aber, dass Touristen ganze Totenschädel aus dem Stein herausgebrochen und als morbides Souvenir mitgenommen haben.
In dem kleinen Gewölbe soll übrigens auch San Juan de la Cruz (der heilige Johannes vom Kreuz) einige Jahre seines Lebens verbracht haben. Die heilige Theresa von Ávila nannte ihn, seiner geringen Körpergröße wegen, den „halben Mönch“. Ich kann mir nicht denken, dass er ein Heizöfchen dabeihatte.
Ihre kastillianische und...
Ihre kastillianische und asketische Woche hat mich zutiefst beeindruckt. Sie sind ja ein waschechter Stoiker.
Ja, mugabarru, da könnten Sie...
Ja, mugabarru, da könnten Sie recht haben. Ich bin ein Stoiker und zu vielen Opfern bereit. Andererseits lebt man im Convento del Carmen nicht schlecht. Es ist ein Hotel, kein Kloster. Das sollte nicht in Vergessenheit geraten.
Hochachtung, Don Paul. Aber...
Hochachtung, Don Paul. Aber seien Sie froh, dass Sie heute wieder In Madrid sind mit seinen vorsorglich gesalzenen Strassen, anstatt ohne Heizung im Convento. Es gibt noch Helden.
Virtudes, ich wollte mir nicht...
Virtudes, ich wollte mir nicht den Ruf eines Trappers erschleichen. Mein Zimmer war geheizt! Auf den Fluren und im Erdgeschoss war es naturgemäß kalt. Und in den ersten Tagen gab es kein warmes Wasser. Aber es ging mir gut. Und ich hatte eigentlich immer das Gefühl, mich in der zivilisierten Welt aufzuhalten. Danke für die Anteilnahme.
Wie schon gesagt, sie sind ein...
Wie schon gesagt, sie sind ein waschechter Stoiker dieses Jahrhunderts, und kamen als Einzelgast – wie Einzelkinder – in den Genuss/Verdruss der gesamten Aufmerksamkeit der Hotelangestellten. Wie hat sich diese Situation auf ihre Inspiration ausgewirkt? Haben sie das erwünschte Arbeitspensum- und qualität erreicht?
Pensum: ja.
Qualität: Das...
Pensum: ja.
Qualität: Das muss ich dem Urteil anderer überlassen. Später, wenn das Buch fertig ist.
Ja! Und wir werden zu...
Ja! Und wir werden zu gegebener Zeit auch wissen: da, in dieser Szene putzen sich die Figuren die Zähne mit kaltem Wasser! Und da, da gibt es keine Äpfel! Nur Melonen! Bemerkenswert, das kennen wir eher andersherum! Und da! Jemand ißt Suppe! Und in diesem alten Landhaus dort gibt es nur einen einzigen Gast, der obendrein von Vampiren träumt! Und wir werden darüber nachdenken können, auf welch wundersame Weise Literatur entsteht. (Der Autor wird dann natürlich alles abstreiten.)
Vielleicht täten ein paar...
Vielleicht täten ein paar Vampire der Geschichte gut. Ich müsste darüber nachdenken.
Ein altes Kloster, zwei...
Ein altes Kloster, zwei Bedienste, ein einzelner Gast? Vergessen Sie die Vampire, das wäre zu naheliegend, auch wenn Miguel aus Rumänien kommt. Ich fände es besser, wenn Sie interessante Leute dorthin einladen würden, z.B. Laporta und Pérez, Garzón und Correa, Zapatero und Solbes, Aguirre und Gallardón, Ihnen fallen sicher noch weitere Paarungen ein. Dann einfach warten, was passiert. Ich denke, der Literaturnobelpreis ist Ihnen nicht mehr zu nehmen. Und wenn die Geschichte sich in Richtung „Eine Leiche zum Dessert“ entwickelt, ist nebenbei auch noch ganz Spanien geholfen…
Jetzt kommt das Problem,...
Jetzt kommt das Problem, sanjandro. Die Leute, die Sie da nennen, sind literarisch nicht ergiebig. Zumindest nicht für mich. Aguirre noch am ehesten. Ich suche also unter weniger berühmtem Personal.