Sanchos Esel

Übersehene Geschichten und beiläufige Jahresendgedanken

Kennen Sie das? Ihnen fällt ein Brief aus dem letzten Jahr in die Hand, eine zwischen andere Papiere gerutschte Weihnachtskarte, eine Postkarte, eine Visitenkarte, und Ihre Gedanken richten sich nicht so sehr auf den Menschen, der Ihnen da geschrieben (und nie Antwort von Ihnen erhalten) hat, sondern auf den Abgrund an Zeit, in den Sie plötzlich, mit einem Stück Papier in der Hand, zu blicken gezwungen sind? Unbedeutende Gegenstände, die uns vor Augen führen, dass der Wirbel des Lebens alles unterrührt, während manch anderes zu Boden segelt und schlicht vergessen wird, nehmen plötzlich die Kraft von Symbolen an. Berühmt sind Lesezeichen, die aus lange nicht hervorgeholten Büchern fallen. (Bei mir vor allem Operntickets und Fußballtickets; bei beiden, fallen sie mir entgegen, versuche ich mich zu erinnern, ob die Aufführung seinerzeit etwas getaugt hat.) Noch berühmter sind gepresste Blumen, Schulhefte, Fotos mit Widmung im sprichwörtlichen Schuhkarton. Im Grunde genügt es aber, noch einmal die Vinylplatten hervorzuholen, die man aufbewahrt hat, um am herrlichen Format, der opulenten Covergestaltung und der schieren Materialverschwendung der LP den alten Zeiten nachzuträumen. An dieser Stelle darf ich erwähnen, dass ich meinen Plattenspieler von 1976 noch habe und manchmal zum Einsatz bringe. Und als ich bei einem Antiquar an der amerikanischen Nordwestküste vor Jahren Opernplatten der fünfziger Jahre sah, zögerte ich nicht, wunderbare Aufnahmen von Beverly Sills, Anna Moffo und Maria Callas für je $ 1.99 mitzunehmen. Seit gut zwanzig Jahren erst leben wir mit der CD; aber ihre Tage scheinen gezählt. Und weil sie nicht lange genug gelebt hat, um Zeit zu speichern, ist es unwahrscheinlich, dass sie jemals denselben nostalgischen Wert annehmen wird wie die LP.

Im letzten Januar, als Sanchos Esel erstmals die Beine streckte, notierte ich einige Themen, die ich im Lauf der Wochen zu behandeln gedachte, doch die Aktualität, der Fußball, das Leben oder die Unberechenbarkeit der geschätzten Leserkommentare machten vieles davon überflüssig: Die Themen ergaben sich von selbst. Da aber die Krise und mit ihr die Arbeitslosigkeit in Spanien besonders heftig zugeschlagen haben, so dass el paro konkurrenzfrei zum Thema des Jahres 2009 avanciert ist, möchte ich heute an einen dieser Gedanken anknüpfen.

Es war ein Bild, eine Reiseerinnerung, rasch notiert und dann halb vergessen. Barcelona im vergangenen Frühjahr. Den Taxifahrer, der mich zur AVE-Station Sants brachte, fragte ich, was er in den letzten Wochen so erlebt habe. Die Zeitungsnachrichten waren ja voll von Katastrophengeschichten.

„Vor einer halben Stunde“, sagte er. „Da, wo Sie jetzt sitzen, saß eine junge Frau, die soeben ihre Arbeit verloren hatte. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Ihr Mann hatte gerade die seine verloren, und die Frau hatte ihn wohl am Morgen noch getröstet, ihm gesagt, komm, wir haben doch noch meine, so kommen wir durch, wir schaffen das. Tja. Und dann kündigen sie ihr. Ich erfuhr es noch vor ihrem Mann. Die Frau hing völlig verzweifelt auf dem Rücksitz. Da, wo Sie jetzt sitzen. Sie musste es jemandem erzählen.“

Und ich? Was tue ich? Danach? Ich erzähle der Blogleserschaft nicht von dieser Episode, sondern von weichen Fruchtbonbons im AVE. Weil das Schicksal dieser Frau nichts Neues ist. Weil ihr Fall in der Statistik verschwindet. Weil Taxifahrer im Journalismus nicht als Quellen gelten. Und am Ende lässt sich zu weichen Fruchtbonbons wahrscheinlich mehr sagen als dazu.

Am 24. Dezember, am späten Nachmittag, sahen wir draußen beim Pardo eine kleine Pferdeherde beim Grasen. Ich sehe sie öfter und beneide sie immer wieder. Nicht nur, weil ihnen jemand etwas zu fressen gibt oder sie dort grasen lässt, wo sie sich etwas holen können; sondern auch, weil sie mit der Arbeitslosigkeit nichts zu tun haben. Solche Gedanken taugen aber nur für ein paar Sekunden, dann erscheint die selige Gedanken- und Reflexionslosigkeit schon weniger attraktiv. Denn dann denke ich an die Aufnahmen von Beverly Sills und Maria Callas, von denen die Pferde keine Ahnung haben. Oder den Abendhimmel, unter dem sie stehen, ohne ihn zu würdigen. Das Ende des Jahres, von dem sie nicht einmal wissen, dass es näherrückt, sie leben ja ohne Kalender. Und die Spiele von Real Madrid, die sie nicht sehen können. Und dann denke ich: Arme Pferde! Sanchos Esel würde euch gern etwas abgeben, aber das kann er leider nicht. Nur manchmal, in diesen bedeutungsschweren, nach Symbolen schreienden Minuten, die wir gelegentlich haben, kommt er auf die Idee, ein einsam grasendes Pferd unter einsamem Himmel zu beneiden.

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