Sanchos Esel

Sanchos Esel

Spät essen, laut reden, wenig schlafen, kein Fahrrad haben, die Mülltrennung vergessen, dem berühmtesten Fußballverein der Welt zugucken, bei Rot

Übersehene Geschichten und beiläufige Jahresendgedanken

| 32 Lesermeinungen

Kennen Sie das? Ihnen fällt ein Brief aus dem letzten Jahr in die Hand, eine zwischen andere Papiere gerutschte Weihnachtskarte, eine Postkarte, eine Visitenkarte, und Ihre Gedanken richten sich nicht so sehr auf den Menschen, der Ihnen da geschrieben (und nie Antwort von Ihnen erhalten) hat, sondern auf den Abgrund an Zeit, in den Sie plötzlich, mit einem Stück Papier in der Hand, zu blicken gezwungen sind?

Kennen Sie das? Ihnen fällt ein Brief aus dem letzten Jahr in die Hand, eine zwischen andere Papiere gerutschte Weihnachtskarte, eine Postkarte, eine Visitenkarte, und Ihre Gedanken richten sich nicht so sehr auf den Menschen, der Ihnen da geschrieben (und nie Antwort von Ihnen erhalten) hat, sondern auf den Abgrund an Zeit, in den Sie plötzlich, mit einem Stück Papier in der Hand, zu blicken gezwungen sind? Unbedeutende Gegenstände, die uns vor Augen führen, dass der Wirbel des Lebens alles unterrührt, während manch anderes zu Boden segelt und schlicht vergessen wird, nehmen plötzlich die Kraft von Symbolen an. Berühmt sind Lesezeichen, die aus lange nicht hervorgeholten Büchern fallen. (Bei mir vor allem Operntickets und Fußballtickets; bei beiden, fallen sie mir entgegen, versuche ich mich zu erinnern, ob die Aufführung seinerzeit etwas getaugt hat.) Noch berühmter sind gepresste Blumen, Schulhefte, Fotos mit Widmung im sprichwörtlichen Schuhkarton. Im Grunde genügt es aber, noch einmal die Vinylplatten hervorzuholen, die man aufbewahrt hat, um am herrlichen Format, der opulenten Covergestaltung und der schieren Materialverschwendung der LP den alten Zeiten nachzuträumen. An dieser Stelle darf ich erwähnen, dass ich meinen Plattenspieler von 1976 noch habe und manchmal zum Einsatz bringe. Und als ich bei einem Antiquar an der amerikanischen Nordwestküste vor Jahren Opernplatten der fünfziger Jahre sah, zögerte ich nicht, wunderbare Aufnahmen von Beverly Sills, Anna Moffo und Maria Callas für je $ 1.99 mitzunehmen. Seit gut zwanzig Jahren erst leben wir mit der CD; aber ihre Tage scheinen gezählt. Und weil sie nicht lange genug gelebt hat, um Zeit zu speichern, ist es unwahrscheinlich, dass sie jemals denselben nostalgischen Wert annehmen wird wie die LP.

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Im letzten Januar, als Sanchos Esel erstmals die Beine streckte, notierte ich einige Themen, die ich im Lauf der Wochen zu behandeln gedachte, doch die Aktualität, der Fußball, das Leben oder die Unberechenbarkeit der geschätzten Leserkommentare machten vieles davon überflüssig: Die Themen ergaben sich von selbst. Da aber die Krise und mit ihr die Arbeitslosigkeit in Spanien besonders heftig zugeschlagen haben, so dass el paro konkurrenzfrei zum Thema des Jahres 2009 avanciert ist, möchte ich heute an einen dieser Gedanken anknüpfen.

Es war ein Bild, eine Reiseerinnerung, rasch notiert und dann halb vergessen. Barcelona im vergangenen Frühjahr. Den Taxifahrer, der mich zur AVE-Station Sants brachte, fragte ich, was er in den letzten Wochen so erlebt habe. Die Zeitungsnachrichten waren ja voll von Katastrophengeschichten.

„Vor einer halben Stunde“, sagte er. „Da, wo Sie jetzt sitzen, saß eine junge Frau, die soeben ihre Arbeit verloren hatte. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Ihr Mann hatte gerade die seine verloren, und die Frau hatte ihn wohl am Morgen noch getröstet, ihm gesagt, komm, wir haben doch noch meine, so kommen wir durch, wir schaffen das. Tja. Und dann kündigen sie ihr. Ich erfuhr es noch vor ihrem Mann. Die Frau hing völlig verzweifelt auf dem Rücksitz. Da, wo Sie jetzt sitzen. Sie musste es jemandem erzählen.“

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Und ich? Was tue ich? Danach? Ich erzähle der Blogleserschaft nicht von dieser Episode, sondern von weichen Fruchtbonbons im AVE. Weil das Schicksal dieser Frau nichts Neues ist. Weil ihr Fall in der Statistik verschwindet. Weil Taxifahrer im Journalismus nicht als Quellen gelten. Und am Ende lässt sich zu weichen Fruchtbonbons wahrscheinlich mehr sagen als dazu.

Am 24. Dezember, am späten Nachmittag, sahen wir draußen beim Pardo eine kleine Pferdeherde beim Grasen. Ich sehe sie öfter und beneide sie immer wieder. Nicht nur, weil ihnen jemand etwas zu fressen gibt oder sie dort grasen lässt, wo sie sich etwas holen können; sondern auch, weil sie mit der Arbeitslosigkeit nichts zu tun haben. Solche Gedanken taugen aber nur für ein paar Sekunden, dann erscheint die selige Gedanken- und Reflexionslosigkeit schon weniger attraktiv. Denn dann denke ich an die Aufnahmen von Beverly Sills und Maria Callas, von denen die Pferde keine Ahnung haben. Oder den Abendhimmel, unter dem sie stehen, ohne ihn zu würdigen. Das Ende des Jahres, von dem sie nicht einmal wissen, dass es näherrückt, sie leben ja ohne Kalender. Und die Spiele von Real Madrid, die sie nicht sehen können. Und dann denke ich: Arme Pferde! Sanchos Esel würde euch gern etwas abgeben, aber das kann er leider nicht. Nur manchmal, in diesen bedeutungsschweren, nach Symbolen schreienden Minuten, die wir gelegentlich haben, kommt er auf die Idee, ein einsam grasendes Pferd unter einsamem Himmel zu beneiden.

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32 Lesermeinungen

  1. mugabarru sagt:

    Ihre Landaufnahmen lieber...
    Ihre Landaufnahmen lieber Gastgeber beschäftigen mich sehr. Das baskische Volk ist, wie bekannt, reiselustig. Ich kenne auch Madrid und Umgebung ziemlich gut. Doch so sehr die letzten Fotos mit der kaschierten Bucht als auch diese mit der dehesa und den Pferden machen mir zu schaffen. Ich kann sie Madrid nicht zuordnen. Etwa 100 km nach Madrid gibt es Madrid nicht mehr. Das weiss ich. Doch wohnen sie sooo ausserhalb? Oder spazieren sie öfters so weit weg von der Puerta del Sol?

  2. Dulcinea sagt:

    Nun ja, ich wollte wohl sagen,...
    Nun ja, ich wollte wohl sagen, was nostalgisch macht, ist eher subjektiver Art. Eine Generation, die mit CDs heranwächst, wird CDs auch nostalgisch machen, gibt es sie einmal nicht mehr. Recording history hin oder her! Es geht ja um die Personal history. Nicht? Wenn man mit der ersten Jugendliebe CDs gehört hat, dann gibt es nichts Schöneres, das ist ja wohl klar. Mich machen Tonbänder auch nostalgisch, wissen Sie? Und die hatten keine Cover.
    *
    Zur Feier des übernächsten Tages möchte ich unseren lieben Francisco Fronner nicht vergessen. Lesen Sie alle, bitte, und nehmen sich zu Herzen, was er zum Thema „Anstoßen der Gläser“ schreibt: „Beim Zutrinken erhebt man sein Glas und neigt sich der betreffenden Person zu mit den Worten: Bebo á la salud del Sr. F. Die Herren leeren ihr Glas (mugabarru, das schrieb FF nicht), die Damen nippen gewöhnlich nur daran. Man unterläßt nie, der Hausfrau die Gesundheit auszubringen, die sich zum Dank verneigt und es ihrem Gemahl, Sohn oder Vater überläßt, in ihrem Namen zu erwidern.“ (1920)
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    Vielen Dank an alle, ganz besonders an Sanchos Esel. Das ist ein schönes Foto da oben, das erste. Mit dem Pferd. Ihre Fotos sind immer lustiger geworden, Don Paul! Es war ja auch ein schönes Blogjahr. Mein erstes. Was nicht heißen soll, mein letztes. Nur, daß das einmal klar ist!

  3. Madrid sagt:

    Vielen Dank, Dulcinea. Jedem...
    Vielen Dank, Dulcinea. Jedem seine eigene Nostalgie. Natürlich. Und Tonbänder, die großen Revox-Spulen, das war auch etwas. So ähnlich hat Wilhelm Müller wohl auf Mühlräder geschaut.
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    mugabarru, so weit außerhalb wohne ich auch wieder nicht. Einige WG-Bewohner kennen die Gegend doch. Wir haben schon früher davon gesprochen. Es sind 15 Autominuten bis ins Zentrum, bei halbwegs normalen Bedingungen. Schauen Sie auf Google Maps nach. Die Landschaft, die ich fotografiere, liegt nördlich der Carretera de El Pardo, also nördlich eines eher unschönen Viertels namens Montecarmelo, an dem das Schönste der Name ist.

  4. Dulcinea sagt:

    Mein lieber mugabarru,...
    Mein lieber mugabarru, schicken Sie mir doch ein paar CDs. Die kann man immer gut gebrauchen. Und solange es sie noch gibt, die guten alten Scheiben. Sie sind wirklich der allerbeste Luftfächler und Badeofenanheizer. Danke. — Ihrem Patenkind könnten Sie ein weißes Hemd schenken, nein? Es hat keines, könnte Nekane und der Krawatte wegen aber gut eines gebrauchen. Ich bleiche es gern. Das ist, wenn es hier in Madrid einmal wieder aufhören sollte zu regnen. Aber bis Reyes ist ja noch.

  5. HenryCharms sagt:

    Vielen Dank, Don Paul, fuer...
    Vielen Dank, Don Paul, fuer diese schoene Geschichte – und die Bilder- zum Jahresabschluss. Sie passt wunderbar zu dem, was mir bei meinem weihnachtlichen Heimatbesuch passiert ist. Beim Aufraeumen des Dachbodens in meinem Elternhaus fiel mir eine Kiste mit alten, an mich gerichteten Briefen in die Hand. Die ältesten aus Mitte der 70er Jahre, also der Zeit noch lange vor der CD, als Telefone noch Kabel hatten und noch nicht mal jeder Haushalt (!) ein solches besass. Als man sich eben solche Briefe, statt e-mails und SMS hin und her schickte. Erinnert sich noch jemand daran?
    Allein der erste Ueberblick brachte schon viele Erinnerungen hervor, die Luftpostumschlaege aus der Zeit des Schueleraustauschs in Frankreich oder die gräulichen Umschlaege aus Recycling-Papier aus den 80er Jahren. Ich werde mich jetzt also an den freien Tagen vielleicht vor meinen alten Plattenspieler setzen (ich habe nämlich auch noch einen aus dieser Zeit, Don Paul) und werde wie ein Historiker oder ein Archäologe in den naechsten Tagen Schicht fuer Schicht freilegen und in nostalgischen Erinnerungen schwelgen.
    Ich wuensche allen einen guten Rutsch y un prospero Año Nuevo! Moege uns die WG und der Blog weiter soviel Freude bereiten und neue Erkenntnisse liefern wie bisher!

  6. Madrid sagt:

    Vielen Dank, HenryCharms....
    Vielen Dank, HenryCharms. Vielleicht grabe ich zu Neujahr auch ein paar alte Sachen um und höre Langspielplatten. Da wir eine Kultur sind, die offenbar alles verkleinern muss, damit es zum Mitnehmen ist, Musik, Literatur, Filme, Nahrungsmittel (im Nachbarblog war sehr Erhellendes über den „Coffee to go“ und den Untergang des Kaffeehauses zu lesen), möchte ich unbedingt auf die graphische Qualität der LP-Hüllen hinweisen, die inzwischen, bei den genannten Minimalisierungstendenzen, wohl als Poster durchgehen können. Wenn also die Platte zerkratzt ist, werfen sie ja die Hülle nicht weg!

  7. mugabarru sagt:

    Mein Gott wahren sie alle mit...
    Mein Gott wahren sie alle mit meiner amatxu in einem Sentimentalismus-Seminar? Entschuldigung. Ich wohne in einer sehr kleinen Wohnung und kann mir das Ansammeln von Objekten, aus Platzgründen, nicht leisten. Wahrscheinlich will ich es auch gar nicht, als Gegenstück zu meiner Mutter die alles aufhebt und sammelt. In ihrer Leseecke hängt hängt das Cover vom LP der Supertramp „Crisis? What crisis?“ eingerahmt als Bild. Und HenryCharms amatxu hat nicht nur Briefe sondern auch Notizen, Postkarten u. Ä gesammelt. Ich gestehe gern, dass es mir Spass macht manche Briefe zu lesen, z.B. die meines Vaters oder anderer Verehrer an sie. Es sind wirklich lustige Sachen dabei: eine „massgeschneidertes“ Titelblatt von El Pais, handgeschrieben, mit Kolumnen usw. mit der Nachricht sie habe ein Date akzeptiert. Dazu Stellungnahme des Weissen Hauses, Kreml, Nato und des Vatikans. Jetzt hätte er wahrscheinlich eine Power Point Präsentation zum Zweck geschaffen, oder einen kleinen Film oder was auch immer. Ich bin halt der Meinung dass sich die Formen ändern, nicht aber das Mitteilungsbedürfnis. Nostalgie ist eher, da stimme ich mit Dulcinea überein, ein Erinnern and verflossene Zeiten. Deshalb lieber keine Zeit verlieren und das Leben intensiv leben. Lassen sie uns das kommende Jahrzehnt leidenschaftlich geniessen. Agua pasada no mueve molino.

  8. mugabarru sagt:

    Amatxu hat auch eine ziemlich...
    Amatxu hat auch eine ziemlich grosse Sammlung alter Postkarten, manche noch nachgemalt. Da schreiben sich unbekannte Leute Sachen… Mir wäre es sehr peinlich wenn meine Albernheiten in die falschen Hände gerieten. HenryCharms würden sie es mögen wenn wildfremde Menschen ihre Briefe lesen und ihr Privatleben kommentieren? Ich kann Kafka nur zu gut verstehen als er seinen gesamten Briefwechsel und sein Werk nach seinem Tod verbrannt wissen wollte. Ich freue mich dass es nicht geschah, doch kann ich seinen Wunsch verstehen. Wenn ich nicht mehr da bin und über mein Werk und mein Leben entscheiden kann, dann soll es lieber nicht ohne mich weiter bestehen.

  9. Madrid sagt:

    Wie gut, mugabarru, dass Ihre...
    Wie gut, mugabarru, dass Ihre Albernheiten bei uns in den richtigen Händen sind! Wussten Sie übrigens, dass die im Internet geschriebenen Worte und Sätze – auch diese – sich als ewiger erweisen könnten als das Packeis? Daten schmelzen nicht.

  10. HenryCharms sagt:

    mugabarru, in diesem Fall sind...
    mugabarru, in diesem Fall sind es keine Briefe von wildfremden Menschen, sondern alle sind von Freunden und Bekannten an mich geschrieben worden. Und so wie ich sie vor Jahren schon mal gelesen habe, werde ich sie jetzt einfach wieder lesen. Aber in einem stimme ich Ihnen zu; ich werde die Inhalte hier nicht oeffentlich kommentieren.

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