Vor einigen Jahren wurden mir Informationen über einen hübschen Kampf zugeschickt, der Valencia seit 1998, nun, „in Atem hält“ ist nicht ganz der richtige Ausdruck, weil man in elf Jahren auch einmal verschnaufen muss, zumal, wenn auf Gerichtsentscheidungen zu warten ist – der aber sichtbar genug ist, um allgemeinere Fragen zu wecken. Die Stadt Valencia (durch ihre gewählten Vertreter) möchte die breite Avenida Blasco Ibáñez bis zum Meer verlängern, also etwa einen Kilometer weiterführen. Damit wäre urbanistisch und verkehrstechnisch eine Verbindungsachse geschaffen, die es auf dieser Höhe zur Zeit nicht gibt. Der Preis allerdings wäre, das alte Fischerviertel El Cabanyal-Canyamelar zu durchschneiden. Oder noch etwas mehr: Das traditionsreiche barrio, ehemals ein eigenständiges Dorf, das seine strandnahe Bebauung im neunzehnten Jahrhundert buchstäblich quer zum Meer gestellt und dadurch eine Art Riegel geschaffen hat, würde als urbanistische Einheit gesprengt und pulverisiert. Um das zu sehen, genügt ein Blick auf die Karte.
Die Informationen, die mich über diesen valencianischen Konflikt damals erreichten, stammten von Vertretern der Bürgerbewegung „Salvem El Cabanyal“ (Retten wir El Cabanyal) und besonders von einem Deutschen namens Peter Schwanewilms, der einige Jahre in Valencia gelebt hat und inzwischen wieder nach Hamburg gezogen ist. Seinerzeit sah ich mir die Skizzen an, las Artikel der Lokalpresse, telefonierte auch mit einigen valencianischen Mitgliedern der Bürgerinitiative, deren Namen und Nummern Peter Schwanewilms mir gegeben hatte. Aber wie es manchmal so geht, der Artikel über El Cabanyal wurde nie geschrieben. Dass man schlecht über alle städtischen Skandale in Spanien schreiben kann, liegt auf der Hand; selbst wenn man sich nur auf jene beschränken wollte, die im weitesten Sinn mit Stadtentwicklung und Immobilieninteressen zu tun haben, stünde man vor einer nicht zu bewältigenden Aufgabe.
Über die Jahre allerdings verfolgte ich die Sache aus der Ferne. Hin und wieder las ich in der Zeitung von neuen Gutachten, neuen Gerichtsurteilen und so weiter, sah mir die beiden Opponenten an – hier die Stadt, die Investoren, die Kräfte der Modernisierung und angeblichen Verschönerung, dort die Bewohner des Viertels, die sich ihre Gegend nicht zerschlagen lassen wollten – und kam irgendwann zu dem Schluss, dass es nicht die Aufgabe der Stadt sein könne, sich auf Kosten so vieler ihrer Bewohner eine kosmetische Operation zu verpassen. Zumal Valencia dadurch zwar neuer und sauberer würde, aber nicht unbedingt schöner, denn das Viertel El Cabanyal mit seiner teils modernistischen Bausubstanz steht auf der Liste schützenswerter Kulturgüter. Genau dieser Umstand hat am Ende dazu geführt, dass das spanische Kulturministerium gehandelt und den Fortgang des Projekts gestoppt hat – meinen knappen Kommentar dazu lesen Sie hier. Da die Madrider Zentralregierung (PSOE) und Valencias Stadtregierung sowie Bürgermeisterin (PP) aus verfeindeten Lagern kommen, ist schon wieder der übliche Zwist angerichtet, der sich nicht nur um die Sache, sondern eben auch um Macht und Imagegewinn dreht.
Nun wäre es ja durchaus vernünftig, die moderne Stadt zum Meer hin zu öffnen, wie es Barcelona vor zwanzig Jahren getan hat. Die Städte werden dadurch einfach schöner, die Lebensqualität erhöht sich unvergleichlich, und für alle gibt es etwas mehr Geld zu verdienen, denn wenn man ans Meer kann, lässt sich dort ausgehen, essen, trinken, Vergnügen suchen.
Die grundsätzlichere Frage aber lautet, ob die Modernisierung in spanischen Stadträumen so grobianistisch vor sich gehen muss, wie sie es meistens tut. Erst am Reißbrett, dann in der Wirklichkeit entstehen gigantische Freiflächen und angeberische Rondelle, drei- oder vierspurige Straßen in jede Richtung, und wem dabei noch nicht klar wäre, dass spanische Stadtplanung zuallererst für Autofahrer gemacht wird, der kapiert es spätestens, wenn er – wie an der neuen Calatrava-Oper in Valencias „Stadt der Künste und Wissenschaften“ – einmal versucht, ein paar Wege zu Fuß zu gehen oder sogar auf die kühne Idee kommt, eines dieser Monsterrondelle nur mit der Energie seiner Beine zu überwinden.
Fußgänger, so der unabweisbare Schluss, sind der Stadtplanung egal. Natürlich bekommen sie heutzutage ihr Maß an betongesäumten Grünflächen, doch selbst deren Grundrisse haben oft etwas Brutales. Sollte ich in einem Satz ausdrücken, was mich an dieser modernen Stadtästhetik stört, würde ich sagen: Sie hat keinen Respekt vor dem Menschenmaß. Sie ignoriert, wie weit ein Mensch laufen, wie hoch ein Mensch schauen will. Sie zwingt ihm andere Dimensionen auf, als er sich freiwillig zumuten würde. Dieser seelenlose Gigantismus des spanischen Bauens erfasst Straßen, Plätze, Flughäfen, Hotels, Parkhäuser und Einkaufszentren. Der laufende, der flanierende oder trödelnde Mensch ist in ihnen nicht vorgesehen.
Wenn aber ein neuer Autobahnzubringer die leere Landschaft durchschneiden soll, ist keine Kurve zu groß und keine Fläche zu weit. Anzumerken, dass an den vielen sinnlos gebauten Straßenkilometern ein paar Wenige sehr gut verdienen, ist in Spanien nicht üblich. Sagen wir es einmal andersherum: Der spanische Wohlstand gründet auf einer völlig überhitzten Bautätigkeit, die auch ohne Finanzkrise längst verdient gehabt hätte, gebremst zu werden. Mit ihren scheußlichen Kastensiedlungen, die zu Tausenden als Spekulationsobjekt aus dem Boden geschossen sind, und der oft korrupten Umwidmung von Landschaft in Bauland kann sie beim besten Willen nicht das Zukunftsmodell für dieses schöne Land sein. Inzwischen wären eher Mäßigung und neues Nachdenken über eine verträgliche Stadtplanung am Platz. Doch solche Ideen stehen nicht besonders hoch im Kurs.
Im Fall El Cabanyal fällt die Beurteilung gar nicht so schwer. Warum den Leuten nicht ihren Willen lassen und Geld in die Reform stecken statt ins Plattwalzen? Warum nicht Gemeinsinn, Bürgerwerte und soziale Aktivität ermutigen – beides ist in Spanien nicht immer hoch entwickelt -, statt den Bewohnern einer Stadt, die genug davon gesehen hat, ein weiteres Prestigeobjekt aufzuzwingen? Das erste Foto auf dieser Seite stammt von Gerd Steinert und ist eine witzige Fotomontage: Valencias Bürgermeisterin Rita Barberá gratuliert strahlend den Bewohnern eines Viertels, in dem bald nichts mehr steht. Alle übrigen Fotos stammen von dem Berliner Künstler Nicolaus Schmidt, der in El Cabanyal an der Kunstaktion „Offene Türen“ teilgenommen und dafür auch ein Absperrband entworfen hat, das nicht Abriss, sondern „Wiederaufbau“ buchstabiert. In diesen Straßen, von denen nach dem Willen der Stadtregierung viele verschwinden sollen, gibt es noch Leben.