Sanchos Esel

Sanchos Esel

Spät essen, laut reden, wenig schlafen, kein Fahrrad haben, die Mülltrennung vergessen, dem berühmtesten Fußballverein der Welt zugucken, bei Rot

Tüten und Eimer: Was Barcelona von Zürich unterscheidet

| 130 Lesermeinungen

Vor vielen Jahren saß ich auf einem Flug nach Zürich neben einem dunkelhaarigen Herrn, der sich im Lauf unserer Plauderei als Geschäftsmann herausstellte und gerade seine Eltern in der Extremadura besucht hatte. Wir sprachen über Spanien, sein Heimatdorf, gutes Essen, die Themen also, auf die man schnell kommt und über die es immer viel zu erzählen gibt. Irgendwann sagte der Mann: „Aber ich könnte dort nicht leben. Die Extremadura besuche ich; in der Schweiz lebe ich." Dann fiel er vom Spanischen in ein Schwyzerdütsch, an dessen Echtheit ich keine Sekunde zweifelte, und behielt die Sprache in der nächsten halben Stunde bei. Genau die Zeit, in welcher wir über Ordnung, Sauberkeit, frühe Bettruhe und die strengen Anstandsregeln einer gutorganisierten Zivilgesellschaft sprachen.

Vor etwa zehn Jahren saß ich auf einem Flug nach Zürich neben einem dunkelhaarigen Herrn, der sich im Lauf unserer Plauderei als Geschäftsmann herausstellte und gerade seine Eltern in der Extremadura besucht hatte. Wir sprachen über Spanien, sein Heimatdorf, gutes Essen, die Themen also, auf die man schnell kommt und über die es immer viel zu erzählen gibt. Irgendwann sagte der Mann: „Aber ich könnte dort nicht leben. Die Extremadura besuche ich; in der Schweiz lebe ich.“ Dann fiel er vom Spanischen in ein Schwyzerdütsch, an dessen Echtheit ich keine Sekunde zweifelte, und behielt die Sprache in der nächsten halben Stunde bei. Genau die Zeit, in der wir über Ordnung, Sauberkeit, frühe Bettruhe und die strengen Anstandsregeln einer gutorganisierten Zivilgesellschaft sprachen.

Mein Sitznachbar, so stellte sich heraus, war als Kind von seinen Eltern mit der spanischen Auswanderungswelle in die Schweiz gebracht worden und hatte seine Heimat nur in den Ferien wiedergesehen. Während seine Eltern in die Extremadura zurückkehrten, sobald ihre finanzielle Situation es ihnen erlaubte, blieb der Mann in Zürich, erwarb eine gute Ausbildung und fand mühelos Arbeit. Für ihn hatte immer festgestanden, dass er sich mehr als Schweizer denn als Spanier empfand. Er war, sagen wir, zum Gemütsschweizer geworden und pries die Errungenschaften der schweizerischen Gesellschaft über alles. „Das spanische Chaos“, sagte er. „Der Lärm. Der Dreck. Das würde ich nicht ertragen. Nicht jeden Tag.“

Gemischte Herkunft, Bikulturalität  und Zwei- oder Dreisprachigkeit bringen immer einen interessanten Cocktail hervor, denn die äußeren Faktoren treffen auf einen unvorhersehbaren Charakter und eine bestimmte innere Disposition. Wo das eine Kind sich weigert, eine bestimmte Sprache zu benutzen, erobert sich ein anderes diese Sprache als persönliches Ausdrucksmedium. Extreme Fälle solcher leidenschaftlichen Aneignung liefert die Literatur: Borges empfand sich – dank der englischen Großmutter – tief drinnen als angelsächsisch empfindender Schriftsteller, und Joseph Conrad und Vladimir Nabokov legten zugunsten des Englischen, das sie zu ihrer Literatursprache erhoben, sogar ihre jeweiligen Muttersprachen – Polnisch und Russisch – beiseite.

Mit der Sprache verwoben ist das Affektive. Was mag einer? Was entspricht ihm am meisten, wo fühlt er (sie) sich zu Hause? Zu dem Sohn spanischer Einwanderer, der zum Schweizer geworden war, kenne ich ein Gegenstück, nämlich den literarischen Übersetzer Peter Schwaar, den ich gerade in Barcelona getroffen habe. Peter Schwaar, der die Romane von Eduardo Mendoza, Carlos Ruiz Zafón und anderen ins Deutsche übertragen hat, verbringt nur wenige Wochen im Jahr in seiner Heimat; in der übrigen Zeit, der eigentlichen, zieht er den Süden vor. Als wir über Bürgerbewusstsein und Ökologie sprachen, sagte er, Barcelona sei ziemlich fortschrittlich, es gebe sogar eine aufwendige Mülltrennung und regelrechte Kampagnen, um die Menschen zum Umdenken zu bewegen.
Ich erzählte ihm von den eher schlappen Madrider Versuchen in dieser Richtung; von bolsa caca und den kleinen Umweltdebatten in unserem Blog.
Nein, sagte er, das sei in Barcelona ganz ernstzunehmen. Und als ich ihm sagte, ich würde das Prinzip dieser Mülltrennung gern kennenlernen, am besten mit Fotos, versprach er, mir dazu etwas zu schicken.

Bild zu: Tüten und Eimer: Was Barcelona von Zürich unterscheidet

Schon am nächsten Tag – Peter Schwaar mag im Süden leben, doch er bleibt Schweizer – bekam ich die erste E-Mail mit Erläuterungen. Im Anhang, so schrieb er, sende er zwei Fotos von Barcelona ecologista.

„Auf dem ersten Bild die drei Entsorgungstüten, die das Ayuntamiento an sämtliche Haushalte verteilte (das Material erscheint mir nicht unbedingt umweltfreundlich, dafür ist es höchst solide, ich benutze die Dinger seit über zwei Jahren). Auf dem zweiten Bild dasselbe wie auf dem ersten – plus der neue kleine cubo für die basura orgánica, der samt einer Rolle abbaubarer Tüten ebenfalls gratis zu beziehen war. Auf Barcelonas Straßen nun also alle paar Meter: die grauen Container für den normalen Müll; die braunen für den organischen; die blauen, grünen und gelben (siehe Tüten) für Papier/Karton, Flaschen und Plastik/Metall. Im Hintergrund, orangefarben, die juteähnliche Einkaufstüte, die auf den Märkten verteilt wurde und auf der aufgedruckt ist: porta’m a comprar! (Nimm mich zum Einkaufen mit) und reutilitza’m! (Verwende mich wieder). Dazu kommt, wie gesagt, dass man in den Caprabo-Filialen an der Kasse seit einiger Zeit gefragt wird, ob man eine Tüte brauche – die muss man dann zwar (noch) nicht bezahlen, aber es liegt nicht mehr einfach wie früher ein Stapel auf. Du siehst, Barcelona hat sich der Umwelt verschrieben, weit mehr als beispielsweise Zürich.“

Bild zu: Tüten und Eimer: Was Barcelona von Zürich unterscheidet

Als ich mir das so betrachtete, schien alles wieder seine Ordnung zu haben. Barcelona ist weiter als viele andere Teile des Landes und bemüht sich, eine saubere Stadt zu werden. Dann erreichte mich die zweite Mail. Wieder hing ein Foto daran, das ich Ihnen nicht vorenthalten will, dazu Peter Schwaars Kommentar: „Hier kommt noch sozusagen die Außenansicht – die heute vormittag erwähnte Containerschwemme. Nicht immer stehen sie so schön in Reih und Glied.“

Natürlich nicht, denke ich. Aber die Sache kommt dem nordeuropäischen Ideal schon ziemlich nahe.

Bild zu: Tüten und Eimer: Was Barcelona von Zürich unterscheidet


130 Lesermeinungen

  1. pardel sagt:

    Eine meiner Lieblingsarten,...
    Eine meiner Lieblingsarten, die Unterschiede zwischen verschiedenen Sprachen zu sondieren, ist Wikipedia. Auf der linken Spalte der Webseite sind links zu verschiedenen Sprachen, mal mehr, mal weniger Zahlreich, je nach Artikel. Eine Mehrheit der Artikel sind Übersetzungen aus dem Englischen, die sind ziemlich uniform. Aber einige Artikel sind originär in verschiedenen Sprachen verfasst, nicht übersetzt. Ich finde es unterhaltsam und lehrreich, diese Fassungen zu vergleichen. Ich finde, die Autoren geben den „Geist“ der Sprache spontan und unbewusst wieder. Auch dafür taugen die neuen Technologien.

  2. abfeldmann sagt:

    einmal vor jahren lernte ich...
    einmal vor jahren lernte ich auf einem fest im niedersaechsischen eine dame kennen, die froehlich in schoenstem wienerisch parlierte. – „…aus der schoenen donau-stadt, gnae frau…?“ – „absolut nicht“ antwortete sie „ich habe dort sechs monate waehrend meiner promotion verbracht. es war die vielleicht schoenste – und sicherlich praegendste – zeit meines lebens.“
    mittlerweile ist sie eine gute freundin. ihr lustiges wienerisch hat sie selbstverstaendlich niemals abgelegt.

  3. abfeldmann sagt:

    eine frage zu ihrer letzten...
    eine frage zu ihrer letzten ueberlegung, paul ingendaay. sie schreiben: „…Oft stehen diese Gedanken in scharfem Kontrast zur Realität. …“ – welche realitaet meinen sie denn? und auf welche differenz beziehen sie sich? auf eine historische? oder auf den unterschied zwischen chaos und ordnung, zwischem deutbaren und gedeutetem material?

  4. Madrid sagt:

    Ich meinte die Realität, die...
    Ich meinte die Realität, die ich um mich herum wahrnehme (was sie natürlich wieder zur subjektiven Wirklichkeit macht, aber lassen wir das). Die Realität der geschehenden Dinge. Beispiel: Es kann mir in einem Land (und in einer Sprache) schlecht gehen, aber ein wunderbares Buch der Literatur dieses Landes (und dieser Sprache) prägt mein Bild davon entscheidend mit. Ihre „Wienerin“ drückt ja offenbar mit ihrer sprachlichen Wahlverwandtschaft auch aus, welche Wirklichkeit sie für die schönste hält: jene sechs Monate in einem Land, das nicht ihres war.

  5. abfeldmann sagt:

    na ja, es ist schon irgendwie...
    na ja, es ist schon irgendwie so. – fuer meine wienerin ist ueberall wien. aus reiner schrulle, aus lebensfreude und unbeugsamkeit.
    ein bischen so, wie bei manchen lateinamerikanischen familien, in denen daheim in chile oder anderswo deutsch gesprochen wird. nicht weil man deutsche ahnen haette, sondern weil die sprache ganz offenkundig das leben in der wahlrealitaet erlaubt, die lebenswert erscheint. – man legt dann ein anderes strukturmuster ueber seine umgebung, sortiert anders, deutet anders, handelt anders, oder bildet sich das wenigstens ein.
    ich habe diese liebe gerade zur deutschen sprache mehrfach bei spanischen muttersprachlern kennengelernt – mit einer gewissen politischen rechtslastigkeit hat das auch in lateinamerika, ganz gegen meine anfaengliche vermutung, nicht unbedingt zu tun.

  6. Melibea sagt:

    Meine Liebe zu Spanien begann...
    Meine Liebe zu Spanien begann zu keimen, als ich mit Anfang zwanzig für ein Jahr nach Frankreich ging und gleich zu Beginn „Wem die Stunde schlägt“ las. Zufall. Nun, ich mochte es, wenn sie auf Spanisch schimpften und wenn sie die Frauen mit „guapa“ anredeten; so banal das auch klingen mag. Meine besten Freunde in Frankreich waren Spanier. Das war kein Zufall, denn unter den Franzosen, Italienern, Engländern, Ungarn ect. habe ich mich nicht so gut aufgehoben gefühlt. Und ich fand die spanische Sprache einfach wunderschön. Deshalb begann ich nach meiner Rückkehr Spanisch zu lernen, später Romanistik zu studieren. Als ich dann zum ersten Mal in Madrid war, verliebte ich mich in diese Stadt. Gefunden, nicht gesucht. Das nächste Auslandsjahr habe ich dann dort verbracht, und mit Ende zwanzig hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, angekommen zu sein. So ein ganz warmes und wohliges Gefühl. Als wäre eine lange Reise endlich zu Ende. Mit anderen Ländern und Sprachen ist mir das jedenfalls noch nicht passiert. Dennoch bin ich deutsch, natürlich. Nichts ist mir in jenen Jahren bewusster geworden. Heimweh habe ich aber nach Madrid.

  7. Dulcinea sagt:

    Ja, abfeldmann und Don Paul...
    Ja, abfeldmann und Don Paul und alle. Man muß, glaube ich, ein wenig unterscheiden. Eines ist es, zur Gemütswienerin, zum Gemütsschweizer, zum Gemütsberliner zu werden. Aus Schrulle, Lebensfreude, Unbeugsamkeit, wie Sie sagen, abfeldmann. Oder weil man eben schon lange dort lebt, wo man lebt. Weil man bestimmte Dinge für sich annimmt. Ich finde, es ist aber etwas ganz anderes, eine andere Sprache zur eigenen Literatursprache zu erheben. Ich meine, darin zu schreiben und all das. Wie in den oben erwähnten Beispielen. Solche Schritte sind doch sehr existentiell, jenseits der Schrulle, jenseits der Lebensfreude. Sind sie nicht? Ja, es ist äußerst interessant, wenn man zwei Muttersprachen hat, zwischen denen man wechseln und die man beide korrekt schreiben kann. Aber ist einem denn nicht eine davon doch immer etwas näher, sentimental gesehen? Identifikatorisch gesehen? Das würde ich gern erfahren.

  8. Madrid sagt:

    <p>Bevor jemand Dulcineas...
    Bevor jemand Dulcineas Frage identifikatorisch beantwortet, möchte ich noch schnell erzählen, dass ich deswegen Spanisch (und nicht etwa die Opernsprache Italienisch) lernte und studierte, weil ich mit neunzehn einer Baskin dabei zugehört hatte, wie sie „Zaragoza“ aussprach. Natürlich war diese Baskin aus Guipúzcoa auch schön, hatte eine schöne Nase, mugabarru, und all das. Aber es war wirklich diese kehlige Stimme, die „Zaragoza“ sagte, welche… nun, Sie alle werden das verstehen. Wir waren dann in einem Rod-Stewart-Konzert, diese Baskin und ich, in Köln, dort wurde auch kehlig gesungen, aber nicht annähernd so schön wie… nun, ich glaube, Sie haben verstanden.

  9. abfeldmann sagt:

    so wie ich mich in...
    so wie ich mich in shanghainese, in tuerkisch und in saechsisch verliebt habe, bei spanisch war mir das nie vergoennt. im gegenteil: spanisch umgibt mich, ist zudem eine einfache, eine sehr commode sprache, dennoch gibt es nichts, was ich auf spanish denken, fuehlen oder sagen will, wenn ich nicht muss.
    ob sich das jemals nach langer zeit bei mir andert, dulcinea, ich glaub nicht.
    englisch hingegen ist auch meine ‚literatursprache‘ und war es schon immer. oft wenn ich meiner gefuehlswelt ausdruck verleihen moechte, wenn ich mich ‚ausdruecken‘ moechte, das tiefste und das echteste rauszuholen, wechsle ich im gespraech ins englische. ich habe das schon als schueler in deutschland immer getan, meine innerste sprache war – obwohl deutscher – immer englisch. und heute meist spreche und schreibe ich in meiner lieblingsprache – in unserer lieblings one world culture – englisch den ganzen tag, wo immer ich bin, und zuhause eh.

  10. abfeldmann sagt:

    interessanterweise, und da bin...
    interessanterweise, und da bin ich ganz bei paul ingendaays ‚zaragoza‘, liegt schon im klang einer sprache – eines wortes mitunter – eine ganze batterie von identitaetsinformationen, zu denen man sich selbst in verhaeltnis setzt. neben der kehlige baskin wollte paul ingendaay mann sein. es spiegelten sich ihm in diesem einen wort ganz andere moeglichkeiten seiner eigenen identitaet im verhaeltnis zu ihrer. signifikant andere und von ihm als reizvoller bewertete, als im restkoeln, das beide umgab. der eigenen identitaet tat sich ein verheissungsvoller kosmos neuer moeglichkeiten auf.
    und wenn so etwas passiert, dann ist das ungeheuer ‚existenziell‘, dulcinea.
    tatsaechlich ist es mir immer so gegangen, dass ich entweder wie im englischen mit seiner doppeldeutigkeit, modularitaet und seinem sprachwitz mich gedanklich beheimatet fuehle, oder mir aber ein rollen- und identitaetsmuster durch eine sprache und kultur angeboten wird, mit facetten, die mir in anderen, mir bekannteren kulturen schmerzlich unterrepresentiert schienen. interessanterweise liegt fuer mich der kern einer solchen faszination dann in der regel in geschlechtsspezifischen rollenmustern respektive handlungsbereichen.
    man muss, um auf das ausgangsbeispiel zurueckzukommen, wenn man ein schoenes maedchen spanisch sprechen hoert, sich dann nicht unbedingt in der zukuenftigen rolle eines klassischen spanischen machos sehen. im gegenteil. vielmehr bietet einem das gegenueber entfaltungsversprechen recht freier und individueller interpretation. diese sind dann immer verheissungsvoll und manchmal tragen sie.

Kommentare sind deaktiviert.