Die Frau weiß nicht, dass ich jetzt über sie schreibe, und ich werde es ihr nicht erzählen. In ein paar Tagen, wenn mein Steuerfreistellungsantrag bearbeitet ist, sehe ich sie wieder, am Schalter der Madrider Steuerbehörde, und sie wird wie immer pampig schauen, schlecht gelaunt die erforderlichen Bewegungen ausführen und am Ende der Operation einen mürrischen finalen Stempel auf das Formular drücken. Womit ich nicht sagen will, die Frau machte diese Sachen nicht gut. Im Gegenteil. Sie erledigt alles mit einer gewissen missgelaunten Effizienz. Ihre miese Stimmung strahlt so stark nach außen, dass sie jeden, der sich ihr nähert, zur Eile treibt, ohne ein Wort zu sagen. Ich muss schon bis in sehr frühe Schultage zurückgehen, um mich an eine ähnlich starke Vibration zu erinnern, die durch die eigenwillige Mischung aus Misanthropie und Amtsmacht entstand.
Dennoch sage ich mir seit Jahren: Vielleicht ist die Frau im Privatleben sehr nett. Sie wird Angehörige haben, auch wenn ich mir ihren Ehemann weder ausmalen kann noch in seinen Schuhen stecken möchte. Vielleicht hat sie ja eine erwachsene Tochter, die immer noch bei ihr wohnt und um die sie sich kümmert, weil ihr Eheman vor vielen Jahren eine besser gelaunte Lebenspartnerin wollte? Das könnte doch sein. Ja, sie wird eine Tochter haben. Und diese Tochter, da bin ich sicher, wird die Frau „Mama“ nennen und ihr gelegentlich einen Kuss auf die Wange geben. Eine abwegige und gerade deshalb sehr schöne Vorstellung.
Ich kenne die Frau seit sechs Jahren, wenn „kennen“ das richtige Wort ist. Steuerfreistellungsaufträge wollen erneuert sein, man muss zum Amt, und da sitzt sie, zuverlässig wie vor drei Jahren. Ihren Namen kenne ich nicht. Sollte ich ihn erfragen? Im Lauf der Zeit hat die Frau ihre Frisur geändert. Das pechschwarz gefärbte Haar ist sorgfältig gefönt, Spanish style, bestimmt gibt es für das Kunstwerk auf ihrem Kopf einen klingenden Namen aus dem Friseurhandwerk. Fast hätte ich sie diesmal für eine andere gehalten, wenn der griesgrämige Blick mich nicht an den Menschen von damals erinnert hätte. In der Zwischenzeit haben sie in der Behörde auch umgebaut, alles schöner und heller gemacht und ein paar Felder im Publikumsbereich mit Mirófarben angemalt, damit die Räume vergessen lassen, wozu die Menschen hierherkommen. Doch was die Frau betrifft, könnte ich mir denken, dass sie sich gegen den Umzug gewehrt hat. Die Frau, da bin ich mir sicher, mag keine Umzüge. Die Frau mag auch keine Veränderungen. Außer an ihrer Frisur. Alle fünf bis sieben Jahre.
Als ich den Antrag eingereicht hatte, tat ich etwas, was ich an mir nicht mag. Ich sagte überflüssigerweise: „Die Angaben müssten vollständig sein.“ Ich wollte verbindlich klingen. Die Frau ignorierte die Bemerkung. Sie traut nur ihren eigenen Augen, und ihre Augen waren dabei, zu prüfen, ob meine Angaben vollständig waren. Als sie mit der Prüfung fertig war (die Angaben waren vollständig), nahm sie einen Stift und schrieb das Abholdatum in ein Feld. Der bezeichnete Tag war sieben Tage später. Nur sieben Tage! dachte ich.
„Das geht ja schnell“, sagte ich unwillkürlich. Und um der Frau eine kleine Freude zu bereiten, wer weiß, vielleicht auch, um sie doch einmal lächeln zu sehen, ein einziges Mal nur, fügte ich an: „Wirklich erstaunlich.“
Die Frau sah nicht einmal auf. „Manchen geht es noch immer nicht schnell genug“, sagte sie.
„Oh“, sagte ich. „Ich finde das sehr schnell.“
„Manchen geht es aber immer noch nicht schnell genug.“
Ich ging.
Ich kam sieben Tage später wieder.
Ich erhielt meine Steuerfreistellung.
Und ich dachte: Drei Jahre. Vielleicht probiere ich es in drei Jahren noch einmal.
Liebe WG-Mitglieder, der Esel...
Liebe WG-Mitglieder, der Esel geht ein paar Tage in den Schnee, wie jedes Jahr, und passiert dabei die Mancha. Natürlich wird er seines Herrn gedenken. Und dessen Herrn. Und des Pferdes des Herrn seines Herrn. Und all der Figuren dieses großen Romans. Des Schnees wegen könnte es manchmal bis zum Abend dauern, bis Kommentare freigeschaltet werden. Das wollte ich Ihnen sagen. Aber vielleicht schreiben Sie ja keine Kommentare, sondern gehen auch in den Schnee. Oder trinken Gin Tonic. Bauen Brücken. Betreiben Ahnenforschung. Bewundern die Nasen der Damen. Es gibt so viele sinnvolle Tätigkeiten.
Szenen aus dem wirklichen...
Szenen aus dem wirklichen Leben: Das Gesicht
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Auf meinem Leben liegt ein Fluch. Ein schrecklicher Fluch. Womit ich ihn verdient habe? Ich weiß es nicht. Als junges Mädchen wollte ich gern in einer Gärtnerei arbeiten oder irgendwas mit Tieren. Aber alle sagten, nein, nein, Concha, Conchita, arbeite lieber mit Menschen, das ist viel netter. Also bin ich bei der Steuerbehörde gelandet. Am Anfang hat es mir auch wirklich Spaß gemacht. Ich erinnerte mich ohne Mühe an die Gesichter der Antragsteller, und wenn sie wiederkamen, konnte ich unverzüglich die richtigen Unterlagen hervorziehen, meinen Stempel daraufdrücken und so fort. Die erste Zeit war gut.
*
Nach etwa zwei Jahren begann mein Leiden. Ich hatte inzwischen wirklich viele Gesichter gesehen. Sehr viele. Und ich… ich konnte sie nicht mehr vergessen. Keines davon. Nicht am Tag. Nicht in der Nacht. Ich kann mich an alle Gesichter erinnern, die je an meinem Schalter hier vorbeigekommen sind. Verstehen Sie? An ALLE Gesichter! Alte und junge. Häßliche und hübsche. Mit geraden und mit schiefen Nasen. Freundliche und unwillige und böse Gesichter. Ich kann keines davon vergessen. Deswegen schaue ich schon gar nicht mehr auf, wenn sie kommen.
*
Ich versuche, mein Äußeres von Zeit zu Zeit zu verändern. Vielleicht, damit mich die anderen nicht gleich wiedererkennen. Vielleicht, daß eine Kopfwäsche, eine Haarfärbung mir innerlich ihre Gesichter vertreibt. Die Gesichter der Antragsteller. Bislang hat das noch nicht geklappt. Manchmal denke ich, wie lange noch. Ich nehme jeden Tag drei Aspirin. Wie viele Gesichter sollen denn noch hinein, in meinen Kopf? Er ist voll! Überfüllt! Aber wenn ich kein Gesicht vergessen kann, dann werden es immer nur noch mehr herinnen. Das macht mir Angst. Heute kam zum Beispiel dieser deutsche Mann, der war natürlich auch schon mal da. Ich erkenne ihn an der Stimme, dem Akzent. Er macht auf freundlich, er will mir wahrscheinlich helfen und mein Behördenleben netter und erträglicher machen. Ja, danke.
*
„Die Angaben müßten vollständig sein“, sagt er. Na bitte, das sollte wohl ich entscheiden, ob seine verdammten Angaben vollständig sind! Ich blicke nicht auf. Ich kenne sein Gesicht. Es ist seit dem letzten Mal vor drei Jahren sicher nicht schöner geworden. Das irritiert den Deutschen. Er möchte, daß ich aufschaue und ihn anlächle. Da kann er lange warten! Es irritiert die Menschen unerhört, wenn ich sie nicht anschaue, während ich sie bearbeite. Das ist schön. Ich freue mich heimlich darüber. Ich möchte die Menschen irritieren! Schließlich irritieren sie mich auch. Sie gehen am Ende nach Hause und vergessen mich für die nächsten drei Jahre einfach. Vielleicht sagen sie noch zu einem Freund: Heute war da wieder diese schreckliche Frau auf dem Amt, dieser Drache! So etwas hast du noch nicht gesehen! Beim Ausrufezeichen haben sie mich dann bereits vergessen.
Und ich?
Ich warte. Ich warte und hoffe, was bei uns dasselbe ist. Ich warte und hoffe auf den einen Menschen, der mich erlöst. Auf den einen Menschen, dessen Gesicht ich gleich wieder vergesse. Dann werde ich aufschauen und lachen.
Dulcinea, ihre drei letzten...
Dulcinea, ihre drei letzten Zeilen haben mir Tränen in die Augen getrieben…
Lieber Gastgeber, ein sehr...
Lieber Gastgeber, ein sehr interessanter und berrührender Beitrag. „Ihre miese Stimmung strahlt so stark nach außen, dass sie jeden, der sich ihr nähert, zur Eile treibt, ohne ein Wort zu sagen. Ich muss schon bis in sehr frühe Schultage zurückgehen, um mich an eine ähnlich starke Vibration zu erinnern, die durch die eigenwillige Mischung aus Misanthropie und Amtsmacht entstand.“ Wer hat dieses fast körperliche Gefühl nicht irgendwann erlebt…?
Und danke auch an Dulcinea und ihr Gegenstück. Beängstigend, bedrückend und befreiend. Die finesse ihrer Beoachtungen habe ich ja schätzen gelernt. Doch diesmal haben sie sich selbst übertroffen. Schreiben sie auch Dulcinea?
Großartig, Don Paul. Und...
Großartig, Don Paul. Und großartig, Dulcinea. Irgendwie gehören Sie zusammen mit Ihrem Blick auf Menschen oder auf die Frau. Zwei Seiten der Medaille. Jede Vorderseite hat auch immer eine Rückseite, die dazu gehört. Und beide Seiten sehen und würdigen zu können: Das ist für mich so eine Art Weisheit. Ein sicherlich unpassendes Wort an dieser Stelle, aber ich kenne kein besseres.
Ja, Dulcinea. Schreiben Sie...
Ja, Dulcinea. Schreiben Sie auch?
Obwohl, Dulcinea: Finden Sie...
Obwohl, Dulcinea: Finden Sie nicht die Bemwerkung über das Gesicht unseres WG-Gastgebers etwas despektierlich? „Es ist seit dem letzten Mal vor drei Jahren sicher nicht schöner geworden“. Gestatten Sie mir die Anmerkung, dass in seinem Alter Gesichter sich so entwickeln können, dass sie attraktiver erscheinen als junge Gesichter. Das weiß die Frau der Finanzbehörde mit Sicherheit auch. So interpretiere ich diesen Satz als kleinen Seitenhieb auf unseren Gastgeber, oder?
Warten und hoffen, wunderbar!...
Warten und hoffen, wunderbar! Das sind also die möglichen Nebenwirkungen, wenn man jeden Tag zehn Nüsse (nicht mehr, nicht weniger!) zu sich nimmt.
Despektierlich, Virtudes,...
Despektierlich, Virtudes, nein. Nichts läge mir ferner, das wissen Sie. Und schreiben, nun, ich schreibe die ganze Zeit. Das sehen Sie ja. Wie mugabarru und pardel und Don Paul und alle anderen. Dankeschön!
Dulce Dulcinea, bitte, umgehen...
Dulce Dulcinea, bitte, umgehen sie meine Frage nicht. HenryCharms macht das auch ganz elegante. Pardel und unser Gastgeber schreiben „wirklich“: es wird gedruckt und gelesen und wird zu diesem Zweck auch geschrieben. Ich nicht. Ich schreibe höchstens post-it. Beide Beiträge sind Geschichten für sich, wir können sie glücklicherweise nacheinenader lesen, aber sie wären auch unabhängig voneinder gute Geschichten. Deshalb, Virtudes, glaube ich auch nicht, dass Dulcinea die Bemerkung über den „alemán“ despektierlich auf unseren Gastgeber gerichtet hat. Das könnte sie, falls sie wollte, viel besser. Ich habe es als einen Wink zur Zeit die vergeht verstanden. Sie hätte auch andere literarische, bildliche Elemente, z.B. einen Kalender oder die Jahreszeiten nutzen können. Aber es geht um die graue Zeit die vergeht, die vielen Jahren bis zu Pensionierung, ohne Hoffnung auf Änderung oder Erlösung. Dulcinea, eigentlich wollte ich heute mit einer anderen Frau träumen, doch fürchte ich, dass die von ihnen bescchriebene Frau sich aufdrängen wird. Seit ich ihren Beitrag gelesen habe, hat sie das schon. Wirklich beeindruckend. Und trotzdem Danke schön.