Sanchos Esel

Sanchos Esel

Spät essen, laut reden, wenig schlafen, kein Fahrrad haben, die Mülltrennung vergessen, dem berühmtesten Fußballverein der Welt zugucken, bei Rot

Verlogen sind wir nicht – aber vielleicht dumm und vergesslich (1)

| 58 Lesermeinungen

In den spanischen Kinos läuft ein Film des österreichischen Regisseurs Günter Schwaiger über den Stierkampf an: Arena. Ich habe mir den Film zweimal angesehen, einzelne Szenen öfter. In einer Beziehung ging es mir wie beim vorherigen Film dieses Regisseurs, einem Porträt des in Madrid lebenden ehemaligen Waffen-SS-Offiziers Paul Hafner (Hafners Paradies, 2007). Schwaiger hat aus dem Thema dank seiner filmästhetischen Behandlung und einer eher fragenden als besserwissenden Haltung etwas herausgeholt, was ich nicht für möglich gehalten hätte.

In den spanischen Kinos läuft ein Film des österreichischen Regisseurs Günter Schwaiger über den Stierkampf an: Arena. Ich habe mir den Film zweimal angesehen, einzelne Szenen öfter. In einer Beziehung ging es mir wie beim vorherigen Film dieses Regisseurs, einem Porträt des in Madrid lebenden ehemaligen Waffen-SS-Offiziers Paul Hafner (Hafners Paradies, 2007). Schwaiger hat aus dem Thema dank seiner filmästhetischen Behandlung und einer eher fragenden als besserwissenden Haltung etwas herausgeholt, was ich nicht für möglich gehalten hätte. 

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Heute möchte ich noch einmal von Hafners Paradies erzählen. Ich erinnere mich, dass die Ankündigung dieses Werks vor gut zwei Jahren eine eigenartige Reaktion in mir auslöste. In Rezensionen schreibt man so etwas nicht hin, deswegen tue ich es hier. Ich dachte nämlich: Schon wieder! Muss ich mir noch einmal anschauen, was ich schon zur Genüge weiß? Was könnte Günter Schwaiger mir erzählen, was ich in den großen autobiographischen oder fiktionalen Büchern von Primo Levi, Imre Kertész, Jorge Semprún, Ruth Klüger, Sebastian Haffner, Victor Klemperer, Louis Begley, Aleksandar Tišma und so vielen anderen nicht schon gelernt hätte? Zu schweigen von Alain Resnais‘ Nacht und Nebel,  Claude Lanzmanns Shoa-Film oder den Geschichtswerken über den Mechanismus des Vernichtungsapparats von Raul Hilberg, Saul Friedländer, Wolfgang Benz und so vielen anderen? Jetzt soll ich mich allen Ernstes mit einem über achtzigjährigen Täter aus dem unteren bis mittleren Geschoss der Nazihierarchie beschäftigen, der dank Francos entgegenkommendem Sympathisantentum in Madrid überwintern durfte? Man sieht, ein gewisser Überdruss hatte eingesetzt, und er hat seinen guten Sinn. Er schützt mich im allgemeinen vor frivolen, überflüssigen Werken über das Holocaust-Thema. Denn auch die gibt es.

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Dann belehrte mich der Film selbst, bekanntlich die einzige Evidenz, die bei Kunst zählt. Nicht „Projekte“, nicht aufklärerische Motive oder die besten moralischen Absichten des Regisseurs haben Gewicht, sondern das fertige Werk. Ich begann mich für diesen alten, verbohrten Mann zu interessieren. Ich fand Paul Hafner, der zum Klang des Deutschlandliedes samt dritter Strophe seine morgendlichen Gymnastikübungen absolvierte und ziemlich unschönes revisionistisches Zeug daherredete, einen intelligenten, ja faszinierenden Menschen. Er sagte manches, aber nicht alles, warb auf subtile Weise um die Gunst der Kamera, zeigte auch eine gewisse Eitelkeit, in der sich Selbstzufriedenheit und der Stolz auf sein viriles Alter mischten, und ließ in der Konfrontation mit einem Opfer des Holocaust sogar Risse in seiner ideologischen Panzerung ahnen. Vor meinen Augen öffnete sich ein Wesen, das Verbrechen begangen hatte und immer noch in seiner Verblendung lebte, aber mit jeder Minute, die der Film dauerte, mehr Schattierungen annahm. Keine Gruppe, sondern ein einzelner. Kein dämonisches Prinzip, sondern ein Mensch. Se questo è un uomo… Primo Levi hatte in mehr als einer Beziehung recht.

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Natürlich war mir meine eigene Reaktion nicht ganz geheuer, denn sie störte die implizite Annahme, in einem Film über das Verbrechen des Jahrhunderts werde es eher klar und in moralischen Schwarzweißfarben zugehen. Zudem ist die Masche, das Faszinosum in Tätern zu entdecken, mit gutem Recht diskreditiert: Jeder von uns weiß, wie oft die Filmindustrie „das Böse“ mit scheinpädagogischem Gestus ausbeutet.

Hier jedoch nicht. Was war geschehen? Der Regisseur ließ sein Objekt agieren und machte aus seinem Porträt ein unausgesprochenes Duell, in dem es nur um eine einzige Frage ging: Wer würde gewinnen? Dieser nicht ganz uncharmante Nazi, der sich selbst darstellen und das Bild prägen durfte, das der Zuschauer von ihm haben würde? Es gab ja keinen korrigierenden Erzähler. Oder der Film, der Paul Hafner durch Nähe und ruhige Beobachtung dazu brachte, sich zu decouvrieren?

Am Ende, glaube ich, gewann der Film. Wenn die Dramaturgie des Geschehens und die intelligente Inszenierung es nicht getan hätten: Hier lag schon die Rechtfertigung für das ganze Unternehmen. Hafners Paradies erzählt uns etwas Neues über das Nachleben der Schuld und zwingt zur Konfrontation mit den eigenen Gewissheiten.

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[Fotos: Juan Lucas]


58 Lesermeinungen

  1. abfeldmann sagt:

    <p>na. sehr schoen. gesehen...
    na. sehr schoen. gesehen hab ich den film nicht, aber den trailer erinnere ich sehr gut. nationalsozialismus – deutscher nationalsozialismus – fuehlt sich doch immer etwas eigentuemlich an, wenn man ihm im ausland begegnet. – vielleicht, weil man ihm nur im ausland begegnen kann. – ich erinnere mich an recht skurile persoenliche begegnungen mit dem – deutschen – hakenkreuz in chile und in marbella beispielsweise. es wurde nicht paradiert, aber es wurde auch nicht versteckt. – denn an so manchem ding haengt doch wie es scheint so manch schoene private erinnerung…
    ich habe leute kennengelernt – schon frueh in meiner jugend – brilliante, amuesante menschen, sie haben den holocaust geleugnet. offensichtlich ein mentaler defekt. und man fragt sich schon als junger mensch: wie kommt es wohl dazu? – die antwort fuer mich ist einfach: diese menschen hatten ‚the time of their lives‘ – die beste zeit ihres lebens unter dem naziregime. – als piloten, als junge abenteurer, als was weiss ich was… – und der groesse und dem hellen schein ihrer jugendtage in der gelebten welt ihrer – subjektiv!!! – unschuldigen traeume wollen und koennen sie nicht mehr abschwoeren… sie wuerden sich um ihr eigenes leben betruegen. … man kann es irgendwie sogar verstehen. ich denke, es ist ganz oft ein fundamentaler schutzmechanismus.

    aber was sage ich. – wir sind in spanien!
    und immer wenn ich in meinem lieblings-hamburger-restaurant – in la gamella in alfonso XII, 4 – sitze und gegenueber auf das restaurant horcher blicke, dann ist sie da, die nazitradition. ungebrochen, kaum zensiert, sanft weitergelebt. – nicht dass im horcher nazistammtische abgehalten wuerden, das nicht. es war unter franco das beste restaurant des landes, und es ist immer noch eines seiner teuersten. – und franco, der hat goerings lieblingskoch otto horcher natuerlich gerne geerbt. – und so lebt er weiter in madrid. in direkter linie ungestoert in familenbesitz in grosser tradition und – wenn ich mich recht erinnere – seit 1943 mit quasi der selben speisekarte.
    …. und alles ist merkwuerdig frei von schuldgefuehl und historie. – so frei, dass man es spueren kann.

  2. Madrid sagt:

    Ein einzigesmal habe ich bei...
    Ein einzigesmal habe ich bei Horcher gegessen. Es war sehr teuer. Und mittelmäßig. Interessant ist, dass die Geschichte eines solchen Restaurants in Spanien tatsächlich nichts Anstößiges hat.

  3. abfeldmann sagt:

    noch kein weiterer...
    noch kein weiterer kommentar… – vielleicht kein ganz leichtest thema. – wenn ich oben sage, dass ich in meiner jugend leugner der nazigreul kennenlernte, dann moechte ich hinzufuegen, dass meine eltern umgehend den kontakt mit ihnen abbrachen, als diese sich entsprechend offenbarten. meine eltern, sie kamen dem schutz ihres nachwuchses vorbildlich nach. – umso erstaunlicher war es allerdings im resultat fuer mich. denn ein mensch, an dessen gesellschaft man sich laengere zeit erfreute, wird auch dann kein vollkommen anderer, wenn man eine schreckliche seite an ihm entdeckt. – hiervon – und von vielen konflikten, die damit einhergehen – handelt auch das zurecht vielbeachtete buch ‚der vorleser‘. – wer mit empathie gesegnet ist, der macht auch nicht vor ‚verbrechern‘ halt. – nicht ohne weiteres und nicht ohne nachzuforschen und nachzufuehlen.

  4. Madrid sagt:

    <p>Da haben Sie recht,...
    Da haben Sie recht, abfeldmann. Vielleicht sind wir bei diesem Thema unter uns. Es hilft natürlich, den Film gesehen zu haben. Aber auch bei der amerikanischen Diskussion über den Vorleser – wie zuvor schon bei Schindlers Liste – konnte man etwas Interessantes beobachten. Viele Menschen fürchten sich vor der Vielfalt des Denkbaren. Die Zielscheibe der sich dann entladenden Aggressivität, die nur die äußere Form der inneren Vorzensur ist, sind oft Künstler und Schriftsteller. In der kulturellen Debatte erkennt man das an der erstaunlichen, aber allen Ernstes gestellten Frage, ob Kunst dies oder jenes „dürfe“.

  5. Dulcinea sagt:

    Nun, abfeldmann, ich glaube,...
    Nun, abfeldmann, ich glaube, das liegt mit daran, daß mugabarru gerade auf Reisen ist und nach meiner Nase Ausschau hält. Nur kann er sie nicht sehen, weil ich daheim am Computer sitze. Und von pardel haben wir seit dem Trappistenbier auch nichts mehr gehört. Aber wissen Sie, worüber ich die ganze Zeit nachdenken muß? Was es mit der seltsamen Überschrift auf sich hat. Dem Blogtitel, meine ich. Das ist natürlich gut, daß man so lange darüber nachdenken kann. Ich komme nicht darauf. Ist das ein Zitat? Aus dem Film? Verlogen sind wir nicht, aber vielleicht dumm. Und vergeßlich. Also vergeßlich sind wir ganz bestimmt. Mit oder ohne Nußtherapie. Aber wer ist wir? Wessen Gedächtnis? Das der Täter? Das der Opfer? Das der Zuschauer? Das ist schon eine sehr geschickte Überschrift! Diese Fotos sind hervorragend.

  6. Madrid sagt:

    Diese Fotos sind hervorragend,...
    Diese Fotos sind hervorragend, weil sie nicht von mir stammen. Und der Titel, Dulcinea, wird sich noch enthüllen. Da bin ich ganz sicher. Es gibt ja noch einen zweiten Teil. Dies war Teil eins. Aber jetzt, wo Sie es bemerken, muss ich sagen, ich finde den Titel auch so… schön rätselhaft. Ein Zitat, nicht wahr? Es könnte ein Zitat sein.

  7. pardel sagt:

    Sind wir uns einig, Don Paul,...
    Sind wir uns einig, Don Paul, in der Auffassung, Kunst darf alles, außer Plagiat und Langeweile? Die Abgrenzung ist nicht immer eindeutig, die Debatte kann interessant geführt werden, was ja auch ein Wert an sich sein kann. Oder mache ich mir die Analyse zu einfach? Ich bin verschnupft, da fällt das Arbeiten und das Denken nicht leicht.
    Welche Konsequenzen könnte das haben, wenn man es zu Ende denkt? Darf die Kunst mehr als das Leben? Darf man über etwas schreiben, oder etwas malen, was man nicht machen darf? Wäre der umgekehrte Fall denkbar? Und wenn Fotografie eine Kunst ist, gibt es etwas, was man nicht fotografieren dürfte? Oder darf man etwas fotografieren, obwohl es das gar nicht geben dürfte? Das Absolute hinkt, wenn man genau nachschaut.

  8. abfeldmann sagt:

    nein, paul ingendaay,...
    nein, paul ingendaay, mehrdeutigkeit wird an amerikanischen schulen nicht gelehrt. und damit auch zaertere seelen in der kontrastreichen welt dann keinen gemuetsschaden nehmen, hat man haustiere, diese putzigen dinger, oder – auch wirklich ganz nett – swarovski und hummel figurines…. – die welt ist schoen.

  9. Madrid sagt:

    Mit der Vermeidung von...
    Mit der Vermeidung von Langeweile und Plagiat sind wir schon dicht dran, pardel. Wobei Langeweile nicht strafbar ist, Plagiat wohl. Ein Drittes muss noch hierher, nämlich die Verletzung von Persönlichkeitsrechten. Siehe dazu die einschlägigen Skandale. Darüber hinaus würde ich sagen: Die Kunst darf insofern mehr als das Leben, weil sie eine Abstraktion ist. Nicht Handlung, sondern Ausdruck und Darstellung. Patricia Highsmith hat in ihren Romanen ausgefallene Morde erfunden. Und auch wenn sie in manchen Figuren, die dort sterben müssen, ehemalige Liebhaberinnen porträtiert hat, wird man sagen können, dass sie damit keine strafbare Handlung beging. Kunst darf das, sofern sie die reale Person hinter der literarischen Figur verschleiert. Natürlich hängt die Toleranz künstlerischer Darstellungen von der Aufgeklärtheit der Gesellschaft ab. Abfeldmanns Kategorie der Mehrdeutigkeit hilft hier weiter. Sucht eine Gesellschaft den einen Sinn, die eine Wahrheit und den verbindlichen Monotheismus, wird sie wenig Mehrdeutigkeit, Ironie und künstlerisches Spiel ertragen.

  10. abfeldmann sagt:

    dass sich kunst natuerlich...
    dass sich kunst natuerlich laengst aus reiner ‚werksqualiaet‘ geloest hat und sich vielfach im bereich mehr diskursiver zusammenhaenge bewegt, ist seit duchamp nichts wirklich neues. ist diese grenze einmal gefallen, dann stehen auch kaum andere mehr, denn alles kann immer als ein situativer beitrag zu einem wie auch immer angelegten zentral- oder seitendiskurs betrachtet und ausgelegt werden. es gibt dann meiner ansicht nach massgeblich noch zwei kriterien, die greifen. – das eine ist ‚zeitgenossenschaft‘ – und das kommt aus der ’spannung‘, auch ‚irritation‘, die deshalb an einem werk wahrgenommen wird, weil hier mit den dominanten streams und konventionen von gesellschaft gebrochen wird. gegebenes wird als nicht mehr gegeben hingenommen. man fuehlt etwas, das man schon lange nicht mehr fuehlte und merkt, welchen preis man zahlte, ganz auf den vorigen paradigmenwechsel eingeschwenkt zu sein, ganz der vorigen oder der vorvorigen irritation gefolgt zu sein. und man schmeckt das aroma von heute ganz neu exakt aus seinem blinden fleck.
    der zweite punkt, neben zeitgenossenschaft, oder als eine funktion und kristalisation davon, ist ‚intersubjektiver konsens‘. wenn also unterschiedliche menschen sagen: „donnerluettchen! – hier passiert was!“ – und um dann nicht auf ewig manch nacktem kaiser nachzurennen, na dafuer muss man sich selbst – oder vielmehr die eigene wahrnehmung – ernstnehmen und so differenziert wie es irgend geht in grenzbereiche und untertoene lauschen. – und – und das ist auch klar, – nicht jedem gefaellt alles. muss es auch nicht, kann es auch kaum. die eigene, subjektive wahrnehmung in den reaktionen anderer gespiegelt zu sehen, ist allerdings dann etwas sehr feines. denn dann ist auch der ‚denkende‘ mensch in einer gottlosen, hochindividualisierten welt nicht mehr alleine.

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