Vor einigen Jahren schrieb Mario Vargas Llosa in seiner regelmäßigen Kolumne für El País eine glühende Verteidigung des Stierkampfs. Ob Picasso, García Lorca, Miró und andere allesamt kulturlose Gesellen gewesen seien, fragte der Schriftsteller, dass sie sich von Ritual der Tauromachie hätten anziehen lassen? Ob es ihre Kunst ohne Stiere überhaupt gäbe? Und was denn mit angeblichen Tierschützern sei, die für die Abschaffung der corrida plädierten, aber nichts gegen Massenschlachtungen, Legebatterien und die Qualen der Gans sagten, die Schreckliches leiden müsse, um die leckere Leber zu produzieren? Vargas Llosa, der Peruaner mit spanischer Staatsangehörigkeit, demonstrierte mit seinem Beitrag abermals das Kulturgefälle zwischen der „lateinischen“ Welt und dem rationaleren Norden. Es gehöre eine gewisse Sensibilität dazu, den Stierkampf als das zu würdigen, was er sei, ein Kult der Empfindsamkeit.
Als in Madrid kürzlich Günter Schwaigers Film Arena uraufgeführt wurde, lernte ich beim Wein danach die Amerikanerin Muriel Feiner kennen, die Autorin von mittlerweile sechs Büchern über das Universum der Stiere. Eines von diesen Büchern habe ich vor Jahren mit Gewinn gelesen. Auch ihren Mann lernte ich kennen, einen ehemaligen Stierkämpfer, der jetzt junge Aspiranten trainiert. Es schien mir das passende Publikum für Günter Schwaigers beeindruckenden Film, der in einem Figurenreigen verschiedene Formen der Stierkampfleidenschaft zeigt – bei einem neunjährigen Jungen, einem kaum achtzehnjährigen Jugendlichen, einem Mittzwanziger, der mit dem Tuch über die Dörfer zieht und von seinem Traum nicht lassen kann, und schließlich bei berühmten Toreros wie Sebastián Castella und José Tomás.
Neben allem Für und Wider, das wir weder heute noch morgen schlichten werden, stach aus Schwaigers Film ein Gedanke besonders hervor, und er führt zum Kern der Debatte, um die es gehen sollte, aber leider nicht geht: dass die corrida de toros die einzige Gelegenheit in der modernen Welt ist, bei der der Tod nach festgesetzten Regeln öffentlich zur Aufführung gebracht wird. „Der“ Tod, sage ich; es genügt nicht zu sagen: der Tod des Stiers. Denn der Tod des Matadors, auch wenn er kaum noch vorkommt, ist nicht nur eine reale und stets präsente Möglichkeit, er wird von den Stierkämpfern als potentieller Teil ihrer Berufung empfunden – nicht als Berufsrisiko, so wie Springreiter vom Pferd fallen können, sondern als Pfand, das jeder einsetzen muss, der sich vor die Hörner des Stiers begibt und das Recht beansprucht, ihn zu töten. Auch deshalb genießt José Tomás unter heutigen Anhängern kultische Verehrung. Er setzt bei der corrida wirklich sein Leben ein, das Publikum spürt und respektiert es, und niemand käme auf die Idee, ihn für verrückt zu halten.
Der öffentlich aufgeführte Tod ist keine leichte Vorstellung. Aber es ist wohl nicht genug, sich vor ihm indigniert abzuwenden. Beim Stierkampf existiert er noch, ist eingebettet in ein Regelwerk, kennt bestimmte Formen der Teilnahme, der Kritik und Zustimmung. Der französische Philosoph Francis Wolff, der 2007 das Buch La philosophie de la corrida veröffentlichte, sieht in der ritualisierten Vorführung in der Arena eine wertvollere Lebenslehre für Kinder und Jugendliche als in unserem Hang zum aseptischen Funktionsdenken und der zwanghaften Vertreibung des Todes aus dem öffentlichen Raum, um die sich unsere Pietätsgebote bemühen. Ja, uns schaudert vor dem Gesicht des Toten, denn es erinnert uns an die eigene Sterblichkeit. Wenn getrauert wird, sprechen wir leise und legen den Finger auf die Lippen. Kinder gruselt es vor dem Leichnam, denn instinktiv begreifen sie, dass Sex und Tod die größten Geheimnisse sind, die die Älteren vor den Jüngern hüten. Ein Blick auf die Erwachsenen macht es ihnen ja begreiflich: Sie tragen Schwarz, bemühen sich um das richtige Gesicht und wollen auf Zehenspitzen anwesend sein, ohne aufzufallen. Sie würden es nicht wagen, dem Toten noch einmal unter das Augenlid zu schauen, seine gelben Hände näher zu untersuchen oder neben dem aufgebahrten toten Körper einen Witz zu machen, all das, was Kindern durchaus in den Sinn kommen könnte. Da ist es kein Zufall, sondern logische Folge, dass in vielen Autobiographien die erste Begegnung mit dem Tod von Familienangehörigen als groteske Enthüllung geschildert wird, in der ein Vorhang weggerissen und erstmals die nackte Wahrheit über das Leben gezeigt wird. Jenes Leben, zu dem der Tod unabänderlich gehört.
Wesentlich beim Stierkampf ist, dass ihn nur erleben sollte, wer es möchte. Dasselbe gilt für aber auch für Jazzmusik und abstrakte Kunst. Ermüdend bei der gegenwärtigen spanischen Debatte um Pro und Contra der corrida ist weniger, dass die beiden Seiten nicht zusammenfinden, sondern dass sie nicht über dasselbe sprechen. Die Gegner wenden sich gegen Tierquälerei, übersehen aber, dass sie diese causa möglicherweise nur deshalb aufnehmen, weil das Töten des Stiers in der Arena die einzige ritualisierte Form des öffentlichen Todes ist, die es in zivilisierten Gesellschaften noch gibt. Warum es sie seit Jahrhunderten gibt, fragt sich kaum jemand von ihnen; was es damit auf sich haben könnte und was andere darin möglicherweise sehen, auch nicht. Das kommt mir wie eine Form kultureller Vergesslichkeit vor. Es ist wohl leichter, nach Verboten zu rufen, als sich dem Verstehen des Unbekannten auszusetzen.
[Die Fotos von Cristina G. Alía entstanden bei den Dreharbeiten zu Günter Schwaigers Film Arena.]