Als die Finanzkrise ihre ersten Keulenschläge ausgeteilt hatte und wahrnehmbare Schockwellen durch einen Mittelstand liefen, der plötzlich auch zur Gruppe derer gehörte, die einen Job verlieren und in die Armut stürzen können, fragte ich in Barcelona einen Taxifahrer, was er an diesem Tag so erlebt hätte. Es war mittags gegen dreizehn Uhr. Der Taxifahrer erzählte also (und vielleicht habe ich diese Geschichte schon einmal erzählt, ich weiß nur nicht, wo und wann), auf seinem Rücksitz habe vorhin noch eine junge Frau gesessen, der gerade gekündigt worden sei. Ihr Mann hatte kurz zuvor auch seine Arbeit verloren. Die Frau habe ihn getröstet und gesagt, wir haben doch noch meine, so kommen wir durch, die Welt geht nicht unter. Da kündigten sie ihr, und der Taxifahrer erfuhr es noch vor dem Ehemann. Die Frau hing völlig verzweifelt auf dem Rücksitz, dreißig Jahre alt und ohne Aussicht auf Arbeit.
Wie gesagt, die Sätze sehen mich so merkwürdig an, als hätte ich sie schon einmal geschrieben, doch vielleicht liegt das nur daran, dass ich mir Notizen mache, um bestimmte Eindrücke nicht zu vergessen. Jedenfalls steht in derselben Notiz aus dem Februar 2009, was der Taxifahrer mir außerdem erzählte: Er habe 22 Millionen Pesetas für seine Taxilizenz bezahlt, also um die 125.000 Euro, doch es habe auch schon Lizenzen für dreißig Millionen gegeben. Die Rechnung des Taxifahrers sah dann so aus: Vorausgesetzt, die Gesundheit macht mit, er landet nicht im Straßengraben, und unter seinem Taxi bricht keine Brücke ein, könnte er im Jahr etwa 6.000 Euro abzahlen, so dass er in gut zwanzig Jahren schuldenfrei wäre. Dafür arbeitet unser Taxifahrer zwölf Stunden täglich. Ich fand diesen Beruf schon immer anstrengend (soviel Phantasie habe ich) und ziemlich schlecht bezahlt.
Andererseits mag es hin und wieder interessante Erlebnisse geben, die für die Mühen und den nervenaufreibenden Verkehr in der Großstadt entschädigen. Da ist zum Beispiel der junge Taxifahrer in Madrid, der mir erzählte, morgens um vier fahre er immer eine Prostituierte von ihrem Club nach Hause, wo er sie zu Beginn des Abends auch abhole. Das Mädchen (la chica, sagte er auf spanische Art, mit dieser Mischung aus Nähe und Gönnerhaftigkeit) sei sehr großzügig, es komme ihr vor allem darauf an, zuverlässig gefahren zu werden und keine dummen Bemerkungen über ihre Arbeit hören zu müssen. Ein früherer Taxifahrer habe die regelmäßige Einnahme verloren, weil er anzüglich geworden sei. Das, so mein Gesprächspartner, brauche la chica am allerwenigsten. Lustig fand ich dann noch, was der Taxifahrer am Ende erzählte, nämlich, dass die Mädchen praktisch kein Trinkgeld gäben, wenn es ausnahmsweise mal mehrere seien, die nach Arbeitsschluss bei ihren Wohnungen abgesetzt würden, dass aber la chica, wenn sie allein fahre, ihn außergewöhnlich gut entlohne.
Der Taxifahrer erzählte dann noch ein bisschen von dem besonderen Verhältnis, das zwischen ihm und la chica entstanden sei, und wenn man dabei an ein paar Filme denkt, ist das auch nicht weiter erstaunlich, es ist doch ein schönes hartes Sujet mit einem Schuss Asphaltromantik. Dann dachte ich darüber nach, was der Taxifahrer mir mit seiner Schilderung wohl „sagen wollte“, wie es heißt, und konnte in seiner Botschaft mehrere Fäden unterscheiden. Mein Taxifahrer wollte mir sagen:
1. Er ist ein anständiger Taxifahrer, der nicht anzüglich wird.
2. Er pflegt lässigen, aufgeschlossenen Umgang mit einer Prostituierten und denkt nicht daran, das irgendwie sonderbar zu finden.
3. Er hat teil an einer Welt des Erotisch-Anzüglichen, ohne sich ihr ausgeliefert zu haben. Er geht hinein und hinaus, benutzt allerdings nur den Lieferanteneingang. Er kennt diese Welt und kennt sie nicht.
4. Er ist stolz auf diese Kundin. Darauf, dass sie ihr Geld mit Sex verdient, dass sie ihn als Taxifahrer schätzt, dass sie durch etwas Besonderes an ihn gebunden ist, das wiederum – obwohl es eine kommerzielle Grundlage hat – meilenweit entfernt ist von der seelenlosen käuflichen Erotik, die ihr Metier ist.
„Wenn es nach mir geht“, sagte der Taxifahrer, als wir am Ziel waren, und meinte die Arbeitsbeziehung mit la chica, „kann das immer so weitergehen.“ Ja. Und wenn es immer so weitergeht, kann unser Taxifahrer schon fast auf die Ehe verzichten.
Oh, wir sprachen von Arbeitslosigkeit. Ich habe die Telefonnummern der beiden Moncloa-Belagerer wiedergefunden, erinnern Sie sich? Morgen ist der Jahrestag meines damaligen Eintrags über José Sánchez und Antonio García, die zu Fuß von Katalonien nach Madrid liefen, um José Luis Rodríguez Zapatero persönlich zu sagen, was sie von seinem Engagement für die Beschäftigungslosen hielten. Dann kampierten sie wochenlang vor dem Moncloa-Palast und richteten an den Regierungschef Briefe und Petitionen. Ohne Ergebnis. Das Imperium schwieg. Als ich heute mittag die Mobilnummern von José und Antonio wählte, war niemand zu erreichen. Antonios Nummer ist für Anrufe von außerhalb gesperrt. Am Nachmittag aber erreichte ich José, das ist der Kleinere und Ältere der beiden. Sie sehen ihn auf dem obenstehenden Bild.
– Wie lange habt ihr denn insgesamt vor dem Regierungspalast ausgeharrt? fragte ich ihn.
– Genau 87 Tage. Was mich betrifft. Antonio ist ungefähr einen Monat früher gegangen. Statt seiner gab es dann aber zwei andere. Für mich waren es fast drei Monate.
– Und habt ihr irgendeine Antwort aus dem Moncloa-Palast bekommen?
– Nein. Keine. Und heute ist die Wirtschaftslage noch viel schlimmer als vor einem Jahr.
– Wie ist es dir danach ergangen?
– Im Juni 2009 bin ich nach Manresa zurückgekehrt und habe mich um Arbeit bemüht. Aber das konnte ich vergessen, ich hatte mir ja einen gewissen Ruf erworben, ich hatte gezeigt, dass ich Menschen mobilisieren kann, und das gefällt dem Arbeitgeber meistens nicht so gut. Ich bekomme jetzt noch ein Jahr lang meine Arbeitslosenunterstützung.
– Keine guten Aussichten, bei zwanzig Prozent Arbeitslosenquote.
– Zwanzig Prozent? Das ist doch geschönt. Sobald man eine Fortbildung macht, fällt man aus der Arbeitslosenstatistik heraus. Zur Zeit mache ich einen Schweißerkurs. Wir sind 23 Leute, von denen nur drei eine feste Arbeit haben, wir zwanzig anderen sind arbeitslos. Aber für Zapateros Statistik existieren wir nicht mehr.
– Was ist nach der Aktion im letzten Jahr deine Bilanz? Hat es sich gelohnt?
– Auf jeden Fall. Ich habe viele Menschen kennengelernt. Es ging ja um die Geste. Ich wollte zeigen, dass wir nicht aufgeben, sondern kämpfen. Auch wenn ich aus dem Moncloa-Palast keine Antwort erhalten habe, der Kampf war nicht sinnlos.
[Fotos: Reuters, AFP, Sanchos Esel]
<p>Lieber Herr Ingendaay, Ihr...
Lieber Herr Ingendaay, Ihr Gedächtnis für Texte scheint besser als Ihr blog-Archiv zu sein: ich erinnere mich auch, die Anekdote mit der arbeitslos gewordenene Frau im Taxi schon bei Ihnen gelesen zu haben…
Aber egal – ich freue mich immer, wenn jemand aus den Kreisen, die materiell orgentlich abgesichert leben (was ich auch für Sie annehme), auch „die im Schatten“ wahr- und ernstnimmt. Mir geht’s ja selbst auch so, dass ich in der glücklichen Lage bin, meinem beruflichen Alltag relativ sorglos mit einer interessanten (wissenschaftlichen) Tätigkeit verbringen zu dürfen – und dabei merke, dass das Leben der Mehrheit der Menschen leicht aus dem Blickfeld geraten kann. Über einige Freunde und Bekannte, die nicht so viel Glück haben, werde ich dann aber immer wieder in die Realität zurückgeholt.
Dazu vielleicht auch eine kleine Geschichte: ein mir gut bekanntes Paar lebte mit ihren drei Kindern jahrelang an (und unter) der Armutsgrenze, hielt sich mit schlecht bezahlten Klein-Jobs über Wasser (keine Akademiker – das gibt es ja auch) und machte sich dann mit einem kleinen Handel mit Textilien selbständig. Als wir sie zu einem Zeitpunkt sprachen, als erstmals – sehr bescheidene – Gewinne flossen, erzählte er mir voller Stolz, dass er jetzt zum ersten Mal in seinem Leben Steuern zahle …
Es dauerte eine Weile, bis ich das verstanden hatte – aber die Sehnsucht danach (und der Stolz darüber), nicht (mehr) am Rande zu stehen und auch etwas zur Gesellschaft beitragen zu könne, ist mehr als legitim.
Erschreckend finde ich, dass diese Perspektive für einen immer größer werdenden Teil der Bevölkerung unerreichbar wird und gleichzeitig ein anderer Teil maßlosen Reichtum anhäuft und das auch noch selbstverständlich findet.
<p>derast, danke für die...
derast, danke für die Bestätigung meines Verdachts. Immerhin plagiiere ich nur mich selbst und sage es auch. Damit werde ich natürlich nicht für einen Literaturpreis nominiert, mache mich aber auch nicht strafbar. Zur Frage von Reichtum und Armut: Noch immer glaube ich, dass Geld in Spanien ungehemmter vorgezeigt wird als in Deutschland und Klassengrenzen deutlicher sichtbar sind.
Die Arbeitsstelle verlieren...
Die Arbeitsstelle verlieren kann sicher ein traumatisches Erlebnis darstellen. Aber ich finde es verwunderlich, dass die junge Frau, die eben erst ihren Arbeitsplatz verloren hat, mit dem Taxi durch die Stadt fährt (wohin?), obgleich jenes nicht eben als das preisgünstigste, öffentliche Verkehrsmittel gilt. Für mich sind Taxen verzichtbare Verkehrsmittel (obwohl ich in Lohn und Brot stehe), jedenfalls wenn ich mich an einem Werktag zwischen 8.00 und 19.00 Uhr in einer Grossstadt befinde. Wahrscheinlich ist es nur eine Sache des Geschmacks und der Tatsache geschuldet, dass ich in Schwaben sozialisiert wurde; aber ich muss zugeben, dass mich das Taxi in diesem Zusammenhang irritiert.
"Die Frau habe ihn getröstet...
„Die Frau habe ihn getröstet und gesagt, wir haben doch noch meine (Arbeit), so kommen wir durch, die Welt geht nicht unter.“ Ja, und zwar hatte sie ihn ja noch am selben Morgen getröstet! Wenn ich mich recht an die Dramatik der Anekdote erinnere.
Danke für das Update, ich...
Danke für das Update, ich wollte schon mehrmals fragen, was aus den beiden geworden ist. Zum Thema selber schweige ich, da läuft so viel schief, aber ich weiß nicht ob ich da Deutschland mit seiner ekligen Hartz 4 Debatte oder die Verhältnisse hier schlimmer finde. OK, ich schweige.
Ja, hempel54321. Sicher. Die...
Ja, hempel54321. Sicher. Die ganze kleine schöne miese Welt um einen herum bricht gerade hoffnungslos zusammen, aber man selbst zeigt lieber keine Regung und wartet auf den Bus? Ja. Das ist sie, unsere Vernunft. Der arbeitslose Ehemann zu Hause hat eh nichts zu erzählen, ist ja auch ein Verlierer.
Stefanus, ich glaube der...
Stefanus, ich glaube der grosse Unterschied zwischen Spanien und anderen (nicht mediterranen Ländern) ist der Rückhalt der Familien. Ansonsten ist es nicht zu erklären, dass in Spanien, bei diser Arbeitslosenrate und dem sehr mickrigen Sozialschutz, nicht schon die Revolution ausgebrochen ist. Denn hier, wenn alles schief läuft, ist immer noch die Familia da.
Hempel 54321, in der beschriebenen Situation wäre ich wahrscheinlich auch mit dem Taxi gefahren, und hätte noch – vor dem nach Hause gehen – einen Gin-Tonic in einer teuren Bar getrunken. So nach dem Motto: de perdidos al rio. Das ist wie mit dem sparen beim einkaufen von Lebensmitteln. Wennich eine 4 oder 5-köpfige Familie habe, kann es sinnvoll sein sein beim Essen kaufen zu sparen. Wenn ich allein lebe, wieviel kann ich sparen wenn ich auf Qualität verzichte? Bestimmt nicht all zu viel.
Acu kann ich das Verhalten von...
Acu kann ich das Verhalten von der „chica“ des Taxifahrer verstehen. Wenn ich in Begleitung von Kolleginnen nach Hause fahre, und über die tägliche „Arbeit“ rede, habe ich keine Lust mein schwer verdientes Geld einfach so auszugeben. Doch wenn ich alleine fahre, und es besteht eine gewisse Familiarität mit einem halbwegs anständigen Typen, dann möchte ich so etwas wie Normalität. Etwa wie die von derast zitierte Familie, die sich über das Steuern zahlen freut. Das Geschäft ist nicht nur negativ, man ist im System, gehört dazu. Warum also nicht.
Auch beim Zusamenbrechen der...
Auch beim Zusamenbrechen der miesen Welt gibt es Unterschiede die Hoffnungslosigkeit betreffend. Und eine Dame, die – ob des akuten Zusammenbruchs ihrer miesen Welt betäubt -, gedankenverloren ein Taxi heranruft tut dies in diesem Moment wahrscheinlich nicht zum ersten Mal, sondern – wegen der Betäubung – mechanisch. Eine gekündigte Putzfrau (womöglich noch ohne Vertrag) oder ein gekündigter „paleta“aus Südamerika mit einem contrato basura hingegen würden wohl in der Tat eher gedankenverloren und mechanisch den Bus nehmen oder zu Fuss gehen. Daraus kann man u.U. ableiten, dass die Dame regelmässig Taxen nutzt. Und das wiederum ist regelmässig mit einem bestimmten sozioökonomischen Status verbunden. Somit verfügte die Dame wohl über eine ordentlich enlohnte Beschäftigung, eine gute Ausbildung und einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Und entsprechend erhält sie jetzt ALG und eine Entschädigung für die Beendigung des Arbeitsvertrages. Freilich sind das nur Annahmen. Aber ich meine, dass diese nicht allzu abwegig sind. Auch ich liebäugele mit dem Bohemien, wenn ich mir meine Reaktion auf den Verlust des Arbeitsplatz vorstelle (ich nehme den Gin Tonic in einer amerikanisch anmutenden Bar ein. Ein Barkeeper, der – hinter der Bar und mir gegenüber stehend – mich mitleidig betrachtet, ab und an leicht den Kopf schüttelt und die Gläser trocknet. Letzteres freilich nur, wenn er mir nicht einen neuen GT bereiten muss. Wenige Gäste. Schummriges Licht usw.). Die krude Realität der allermeisten Menschen in dieser Situation ist wohl aber nicht die beschriebene, da vornehmlich diejenigen die Jobs verloren haben, die keinen unbefristeten AV hatten und ohne gute Ausbildung dastehen. Von den arbeitslosen Einwanderern ganz zu schweigen. Denn diese verfügen zumeist nicht einmal über das von mugabarru angesprochene soziale Netz (Rückhalt der Familie). Und wie gesagt: diesen Menschen käme – glaube ich – nicht in den Sinn ein Taxi zu nehmen.
Allerdings sind Taxis in...
Allerdings sind Taxis in Spanien billiger als in Deutschland, hempel54321. Und ich sehe beim besten Willen nicht, was die Benutzung von Bus oder Metro an dem beschriebenen Fall ändert.