Soledad Gallego-Díaz hat in El País noch einmal in Erinnerung gerufen, was sich in diesen Tagen abspielt. Der Oberste Gerichtshof, schreibt sie, wird sich nicht zu den Verbrechen des Franquismus äußern, nicht zu Massengräbern, nicht zu den Liquidierungen im Bürgerkrieg und in den Jahren darauf, die nach internationaler Rechtsprechung nicht verjähren können, nicht zu Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er wird ausschließlich darüber entscheiden, ob der Ermittlungsrichter Baltasar Garzón das Recht gebeugt – also betrügerisch gehandelt – hat, als er 2008 über die genannten Verbrechen zu ermitteln begann. Wenn man einmal nicht von voreingenommenen Richtern, ideologischen Zerwürfnissen und der Rivalität der Eitelkeiten spricht, bleibt für ausländische Beobachter – sie spielen in der spanischen Wahrnehmung eine gewisse Rolle – genau das übrig: Mehr als hunderttausend Erschossene in den Massengräbern sind in den Augen dieser Justiz kein Grund zum Handeln. Und wer sich des Themas annimmt, kommt auf die Anklagebank.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass der Oberste Gerichtshof die Klage hätte abweisen können, ja müssen. Das Nationale Obergericht (Audiencia Nacional) hatte ja schon Berufung eingelegt und Garzón den Fall entzogen. Garzón selbst hatte sich für nicht zuständig erklärt, als er den Gegenwind spürte. Die Klage der selbsternannten ultrarechten Gewerkschaft „Manos Limpias“, der sich die Falange Española anschloss, war also nicht dazu bestimmt, einem objektiven Missstand abzuhelfen, sondern sie diente der Rache. Sie ist der Versuch, einen missliebigen politischen Gegner mit rechtsstaatlichen Mitteln zum Schweigen zu bringen. Dass dieser Versuch gelingen könnte, ist der unfassbare Kern der Debatte, die Spanien seit einiger Zeit beherrscht.
Von den Vertretern des Obersten Gerichtshofs ist in diesen Tagen nicht viel Gutes in der Zeitung zu lesen, es sei denn, man läse ABC. Dort wird streng legalistisch und etatistisch argumentiert – es gelte, heißt es, die „Würde“ des Obersten Gerichtshofes zu achten, „Achtung“ vor den Entscheidungen der Justiz zu bezeigen und keinen „Druck“ auf die Richter auszuüben. Letzten Donnerstag war auf der Titelseite von ABC eine Mingote-Zeichnung zu sehen – die Dame Justitia in einem Scherbenhaufen, die Waagschalen der Gerechtigkeit tapfer in der Linken -, und auf der ersten Seite begann auch der Leitartikel mit dem Titel „Zur Verteidigung des Obersten Gerichtshofes“. In der Theorie ist das alles richtig. Den Institutionen gebührt Respekt. Ich teile auch nicht den törichten Satz der Schriftstellerin Almudena Grandes, die letzte Woche beim encierro in der Complutense sagte, die Gerechtigkeit stehe über den Gesetzen. Wie, bitte, ist diese hehre „Gerechtigkeit“ denn zu erreichen, wenn nicht durch Gesetze? Also. Die Gesetze und ihre Beachtung sind das Minimum, und auch die größte Empörung sollte niemanden dazu verführen, leichtfertig über die staatlichen Institutionen („Faschisten!“) zu sprechen. Die Demokratie lebt von ihnen.
Es ist aber leider so, dass die spanische Justiz kein Augenmaß und keinen Gerechtigkeitssinn zeigte, als sie die Klage gegen Garzón zuließ. Die Entscheidung ist dem gewöhnlichen Bürger einfach nicht zu vermitteln, es sei denn, er läse El Mundo. Und noch weniger begreift das Ausland, was gerade in Spanien los ist. In den französischen, deutschen und angelsächsischenn Medien herrscht reine Fassungslosigkeit. Ich kann mich nur an einen einzigen Fall in den letzten zehn Jahren erinnern, bei dem die internationalen Reaktionen so einhellig verheerend für den Ruf Spaniens ausfielen, und das waren die Tage zwischen dem 11. und 14. März 2004, als die Verschleierungs- und Manipulationsversuche der damaligen Regierung enorme Empörung auslösten.
Die Erfahrung der vergangenen Woche war auch noch aus einem anderen Grund bedrückend. Auf den scheußlichen Einfluss, den klar verfassungswidrige Vereinigungen wie Falange Española und „Manos Limpias“ auf die politische Kultur nehmen, reagiert eine nostalgische Linke, indem sie ihre republikanischen Fahnen entrollt und „No pasarán!“ auf frisch gedruckte Aufkleber schreibt. So verkriecht sich jeder in seiner eigenen Bürgerkriegsmythologie und nimmt die Ausfahrt Richtung Vergangenheit, wo man sich bekanntlich mit Vorliebe die Köpfe einschlug.
Indizien für diese Stimmung habe ich auch an der Complutense in der C/ San Bernardo in Madrid gesammelt, wo sich Filmemacher, Künstler und Schriftsteller einschlossen, um gegen den Garzón-Prozess zu protestieren. Jeden Abend, bis zur Schlusskundgebung am 24. April, setzt sich dort eine Gruppe Menschen in Bewegung, um vor der Audiencia Nacional ihre Empörung zu äußern. Tagsüber gibt es Kulturprogramm mit Filmvorführungen, Lesungen und Konzerten. Es ist selbstorganisierter Widerstand, eine politische Tat gegen den Wahnsinn der Politik. Zugleich kamen mir manche dieser Symbole ziemlich abgestanden vor. Ich kann mit der republikanischen Fahne nicht viel anfangen, auch wenn ich weiß, was sie bedeutet. Oder gerade weil ich weiß, was sie symbolisiert. Was hat die Zweite Spanische Republik mit der Justizfarce zu tun, die gerade vor unseren Augen abläuft? Genau. Nichts. Wacht auf, Leute! Schaut nach vorn, Richtung Zukunft, und schwenkt die Farben eures Fußballvereins, wenn ihr welche braucht.
Denn die Linke und die Rechte – Begriffe, die nicht in allen europäischen Ländern ihren Sinn behalten haben – bekämpfen sich in Spanien so grundsätzlich, aggressiv und mit so abgestandenen Parolen, dass die komplexeren Fragen dabei untergehen. Dabei gäbe es hochinteressanten Debattenstoff: Was bedeuten die Amnestiegesetze von 1977/78 für das heutige Spanien? Nennen Sie das Für und Wider! Kein Entweder-oder, bitte. Grautöne sollten es sein. Sollen diese Gesetze höher zu bewerten sein als Völkermord? Könnte nicht eine anspruchsvolle historiographische Diskussion zu dem Schluss kommen, dass die Aufarbeitung des Franco-Systems mit allen Opferziffern heutige Politiker vor die Aufgabe stellt, die unter großem Druck verabschiedeten Gesetze von damals zu überprüfen und zu revidieren? Jetzt, wo fast alle Täter tot oder jenseits der Prozessfähigkeit sind? Es ist auffällig, dass die spanische Rechte vor allem dann die Werte der transición beschwört, wenn ihr das Schweigen über die damaligen Verbrechen gut in den Kram passt.
Keine fröhlichen Zeiten. Bleiben Sie dennoch guten Mutes. Und legen Sie Protest gegen diesen Unfug ein, wenn Sie können. Die Mehrheit sollte sichtbar und hörbar sein.
[Fotos: Sanchos Esel]