Sanchos Esel

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Spät essen, laut reden, wenig schlafen, kein Fahrrad haben, die Mülltrennung vergessen, dem berühmtesten Fußballverein der Welt zugucken, bei Rot

Erste Postkarte aus der Sahara: Ein Volk, das für niemanden zählt

| 26 Lesermeinungen

Wie halten wir es mit der Armut? Der Armut der anderen? Das waren so Gedanken, die ich mir machte, bevor wir mit einer guten Zweihundertschaft in die Sahara aufbrachen, zum Internationalen Sahara-Filmfestival. Auf die Filme kam es mir dabei am wenigsten an, aber das ist wohl verzeihlich. Es ist der Schauplatz, der hier zählt, das Hinfahren, Dasein und Zurückkehren.

Wie halten wir es mit der Armut? Der Armut der anderen? Das waren so Gedanken, die ich mir machte, bevor wir mit einer guten Zweihundertschaft in die Sahara aufbrachen, zum Internationalen Sahara-Filmfestival. Auf die Filme kam es mir dabei am wenigsten an, aber das ist wohl verzeihlich. Es ist der Schauplatz, der hier zählt, das Hinfahren, Dasein und Zurückkehren.

Zunächst muss man festhalten, dass es nicht einfach ist, ohne absurden Aufwand in die saharauischen Flüchtlingslager zu kommen. Tindouf, die algerische Provinzstadt, ist knapp drei Autostunden von Dakhla entfernt, dem Lager, in dem das Festival stattfindet, und auch wenn die asphaltierte Straße in den letzten Jahren ausgebaut wurde, bleiben immer noch einige Kilometer am Ende, auf denen die Fahrer ihr Höllenrennen durch den Wüstensand veranstalten. In unserem Geländewagen waren die Bänke nicht sehr solide, bei jedem Buckel, jeder Welle sprang das Ding samt Mensch nach oben, und man lief Gefahr, sich den Schädel zu ramponieren. Dass die Raserei für die Fahrer eines der wenigen Vergnügen ist, die sie im Leben so haben, sehe ich allerdings ein. Schade also, dass sie irgendwann, wenn die Straße fertig ist, darauf verzichten müssen.

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Wie aber kommt man nach Tindouf? Mit einem Charterflug. Man soll um 20:45 Uhr am Madrider Flughafen sein, damit man um 1:00 Uhr morgens abfliegen kann. In Algier oder Oran muss der Apparat auch noch zwischenlanden, um nachgetankt zu werden. Morgens um 5:30 waren wir schließlich in Tindouf.

Die Reisenden teilten sich grob in vier Klassen auf: Filmindustrie (Regisseure, Schauspieler und so weiter – weiter unten sehen Sie Victoria Abril beim Autogrammschreiben), Journalisten (Fernsehen, Radio, Zeitung, Sanchos Esel), Solidaritäts- und Hilfsorgansiationen (dazu zähle ich die Veranstalter des Festivals, die das Ganze mit enormem Einsatz möglich machen) sowie Privatpersonen. Die letzte Gruppe war erstaunlich. Es sind Menschen, die sechshundert Euro für Flug, Unterkunft und Verpflegung bezahlen, um zwei Nächte im Flugzeug und drei Nächte auf dem Boden zu schlafen. Ich sprach mit vielen von ihnen. Sie sagen Sätze wie: „Als Spanier haben wir eine moralische Verantwortung gegenüber der Westsahara. Wir waren die Kolonialmacht. Neunzig Jahre lang haben wir dieses Gebiet besetzt gehalten, und als es darum gegangen wäre, ihnen die Unabhängigkeit zu geben, haben wir sie im Stich gelassen. Wir haben die Saharauis betrogen und verkauft. Und heute interessiert sich kein Mensch für ihr Schicksal.“

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Das Letzte ist wahr. Man braucht nicht darumherumzureden. Die Westsahara ist ein schrecklicher Beleg für Opportunismus und politischen Zynismus. Oder sollte es die Politik selbst sein, die wesensgemäß zynisch ist? Dann könnte man die Vorgänge um die Westsahara so deuten: Rund zweihunderttausend Leute, Beduinen, Wüstenbewohner sind einfach nicht genug, um als Volk zu gelten. Man kann ihre Interessen mit Füßen treten. Auch die Vereinten Nationen müssen sich nicht sonderlich beeilen, ihnen zu helfen. Sie schicken Nahrungsmittel und lindern die schlimmsten Missstände. Der Rest fällt schon nicht mehr auf. Dies ist Nordafrika. Kein Konfliktherd, wenn nicht gerade Bomben von Fundamentalisten hochgehen. Folgerung: Die Westsahara ist egal.

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Werfen wir einen Blick auf die Menschen und ihre Lebensbedingungen. Das saharauische Volk ist heute zweigeteilt: Vermutlich die größere Hälfte lebt in dem von Marokko besetzten Gebiet der Westsahara, überwacht, gegängelt, schikaniert durch massiven Polizeieinsatz, notfalls inhaftiert und gefoltert, abgeriegelt nach Osten durch eine 2700 Kilometer lange Mauer, an der schätzungsweise 150 000 marokkanische Soldaten Dienst tun, was – wiederum schätzungsweise – der Hälfte des gesamten marokkanischen Militärs entsprechen soll. Die besetzten Gebiete sind durch eine gezielte Umsiedlungspolitik längst majorisiert, man spricht von rund 130 000 Marokkanern, die heute dort leben. Seit 1991, als die Besatzungsmacht und die Polisario-Befreiungsfront einen Waffenstillstand aushandelten, steht ein Referendum zur Unabhängigkeit der Westsahara an, doch bis heute hat es nicht stattgefunden. Derweil beutet Marokko die reichen Bodenschätze aus – Phosphat, Erdöl, Erdgas – und spielt auf Zeit. Jeder Tag, der vergeht, zementiert die historische Tatsache der Okkupation.

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So schwierig das Leben in den besetzten Gebieten sein muss, die Existenz in den vier saharauischen Lagern im Südwesten Algeriens ist auf ganz andere Weise elend. Die Menschen dort warten. Immer noch. Sie warten in einer heißen, harten, denkbar kargen Landschaft, in der kaum etwas wächst, es gibt keine Arbeit, keine Perspektive, keine Zukunft.

In das ärmste, am weitesten entfernte dieser Lager – Dakhla – fielen Ende April wir ein. Und das ist die Beobachtung, mit der ich für heute schließen möchte: Wir wurden freundlich und mit einer sofort einnehmenden natürlichen Gastfreundschaft empfangen. Nichts Übertriebenes. Einige herzliche Gesten, daneben aber auch würdevoller Abstand zu den Gästen. Ich fragte mich: Wie würden wir das machen? Wenn wir so arm wären? Wenn die reichen Nordafrikaner kämen, um uns bettelnden Europäern einige begehrte Konsumartikel aus dem Maghreb, ein paar Dinarscheine und ihre Solidarität mitzubringen? Und es gelang mir nicht, die Situation umzukehren. Vielleicht Mangel an Phantasie, nichts weiter.

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                                                                       [ Fotos: Ulrich Korn (1), Sanchos Esel (2-5]


26 Lesermeinungen

  1. abfeldmann sagt:

    schoene feldpost, paul...
    schoene feldpost, paul ingendaay. herzlichen dank.
    wenn ich ihre phantasie anregen darf: ostdeutschland vor – oder unmittelbar nach – dem fall der mauer. deutschland nach 45, von schokolade und zigaretten verteilenden GIs etc etc… – ich selbst erinnere mich an den deutschlandbesuch angheirateter saudiarabischer familie zur oelkrise 73 mit cadillactross, dienerschaft und allem pipapo… – man fuehlt sich dann nicht schlecht, wenn man von sagenhaft reicher verwandtschaft besucht wird, im gegenteil. ein bisschen glanz bleibt haften und der wiegt mehr als die paar kanister freibenzin.

  2. mugabarru sagt:

    Dass Spanien die Saharauis wie...
    Dass Spanien die Saharauis wie eine heisse Kartoffel fallen liess, ist klar. Und gerechte und rationale Lösungen für dieses Volk zu finden ist m.E. nicht einfach. Und gerade deshhalb sollte auf Romantik und wishful thinking, so weit es geht, verzichtet werden. Denn leider haftet dieser Flair an den meisten Argumenten der spanischen Saharaui-Unterstützer. Diese spanischen Filmfestspiele in der Wüste, die seit Jahren organisiert werden, finde ich ziemlich skurril. Ich kann mir nicht vorstellen was für ein Interesse die Frau, die ihre Ziegen tränkt und die wahrscheinlich ein sehr hartes Leben führt, für manche der vorgeführten Filme haben kann. Sie ist zu alt um als Kind „Urlaub“ bei einer spanischen Familie verbracht zu haben. Wahrscheinlich kennt sie nichts anderes als das harte Leben in der Wüste. Versteht sie die gezeigten Konflikte? Kann sie über die selben Situationen lachen? Ist ihr alles zu fremd? Ist das ganze nicht einfach eine Nabelschau zum eigenen Trost? Mir wäre das ziemlich peinlich. Dulcinea, können sie etwas aus der Sicht dieser Menschen beisteuern? Herr Ingendaay, ich freue mich auf weitere Berichterstattung zum Thema.

  3. Madrid sagt:

    Eine treffende Beobachtung,...
    Eine treffende Beobachtung, abfeldmann. Die Saharauis empfinden ja auch die alte Verbindung zu Spanien. „Kolonie“ ist ein vielschichtiges Konzept. Bei vielen ist die Sprache noch vorhanden (oder wird frisch gelernt wie bei den Kindern), und Spanien ist ihnen in Europa das Nächste. Über Frankreich würden sie nicht dasselbe sagen.

  4. abfeldmann sagt:

    na, sehn sie. - ich glaube ja...
    na, sehn sie. – ich glaube ja auch nicht, dass sie im beduinenzelt die ganze zeit verschwoererisch mit ihrem ipad hantierten und den gastgebern fachsimpeleien ueber 64GB vs 32GB aufgezwungen haben. – dann bleibt es doch alles im rahmen. – auch dass filmschauspieler kamen inklusive presseentourage, das ist doch etwas sehr schoenes.
    ueber die cadillacs mit den maerchenhaften nummernschildern hat unsere nachbarschaft damals jahrelang geredet. warscheinlich haben sie es nie vergessen. – und so etwas gibt einem schon etwas. es gibt einem eigenartige kraft und einen hauch unverwundbarkeit.

  5. Dulcinea sagt:

    Seine Menschenwürde und...
    Seine Menschenwürde und Integrität zu behalten, wenn man seine Armut zur Schau stellt, das ist gar nicht so leicht, wie Sie es hier darstellen, abfeldmann. Dem reichen, wohlmeinenden Besucher zu zeigen, daß man nichts hat, ist in sich ja sehr entwürdigend. Umso bewundernswerter ist das Filmfestival dort. Zu mehr reicht meine Kraft heute leider nicht, mein lieber mugabarru. Verzeihen Sie! Dieser Abend hat mich etwas erschöpft. Ich stand mit vielen anderen vor der Audiencia Nacional, als Garzón um neun herauskam und ihm Beamte seine Kartons hinterhertrugen. Wahrscheinlich werden jetzt alle rufen, daß das doch klar war, und daß man ja nichts anderes tun konnte, als ihn vom Dienst zu suspendieren. Und dennoch. Ich finde das sehr traurig.

  6. Madrid sagt:

    Wir wollen Garzón nicht...
    Wir wollen Garzón nicht vergessen, Dulcinea. Da haben Sie recht.
    *
    mugabarru, natürlich ist etwas an diesem Festival skurril. Aber eher an der Idee als an der Wirklichkeit. In der Wirklichkeit versammelt sich das Publikum im Freien, um unterhalten zu werden. Dieses Jahr lagen Teppiche auf dem Sandboden, so daß man wirklich sehr bequem saß und sogar einmal die Augen zumachen konnte. Ich sah nämlich auch einen recht langweiligen Dokumentarfilm, und als ich nach oben in die Sterne schaute, war ich froh, das eigentliche Kino entdeckt zu haben. Dann schlief ich etwas, wie gesagt, und irgendwann riß der Film (es waren noch Rollen, glaube ich), und dann gab es eine halbe Stunde Bemühungen, das Ding zu reparieren – Film, Projektor, was auch immer -, und dann wurde es aufgegeben und der nächste Film eingelegt. Das war dann der, den ich gut fand. Aber zurück zu Ihrer Frage nach der älteren Frau mit den Ziegen. Die Frauen finden sich in großen Gruppen zusammen und erzählen sich etwas. Die finden das großartig. Sie empfinden sich vor der Leinwand nicht als filmkritische Instanz. Aber sie spüren sehr wohl, daß diese vielen Spanier, die einmal im Jahr in ihr Lager kommen, sich für ihre Sache einsetzen. Und dieses Engagement ist nicht falsch, nicht hochtönend, es ist kein Ersatz für etwas anderes. Es gehorcht der Frage, was der einzelne tun kann, um diesen Menschen zu helfen. Und das erste, was die einzelnen antworten, wenn man sie fragt, ist: „Wir dürfen sie nicht vergessen. Wir dürfen nicht so tun, als ginge uns ihre Zukunft nichts an.“ Was ich ebenfalls versichern kann, ist, dass ich bei den Spaniern nirgendwo Selbstzufriedenheit über das eigene Engagement bemerkt habe. Die zweite Postkarte aus der Sahara wird dafür Beispiele bringen.

  7. abfeldmann sagt:

    nein, dulcinea, das glaube ich...
    nein, dulcinea, das glaube ich nicht. der schluessel zu dieser geschichte ist ‚entfernung‘ – eine entfernung, dies es heute so fast garnicht mehr gibt.
    sehen sie, wenn sie sich ihren nachbarn oder alten schulkameraden in ihrer gegenwaertigen jammerarmut offenbaren muessen, dann ist das bitter. dann werden sie sich irgendwo verschanzen und sich die augen ausheulen. lustig wuerde so ein treffen nicht fuer sie werden. erhebend auch nicht.
    ganz etwas anderes ist es natuerlich, wenn sie in absoluter armut aber doch in einer gemeinschaft vom schicksal weitgehend gleichgestellter besuch aus ferner wunderwelt bekommen. – frueher waren auch hollywood stars solche heilsmaechtigen figuren. heute gibt es eigentlich nur noch queen elizabeth und fuer manche ratzingers benedikt.

  8. mugabarru sagt:

    Ja Dulcinea, dass Garzón als...
    Ja Dulcinea, dass Garzón als Richter doch suspendiert worden ist, ist mehr als traurig. Mich macht es sehr wütend. Es ist eine Schande. Wahrscheinlich bin ich zu naiv, doch ich habe nicht erwartet, dass es so weit kommt. Noch weniger habe ich die Einstimmigkeit erwartet. Und wenn in den letzten Wochen Brecht nicht zu oft zitiert worden wäre, würde ich es jetzt tun. Und ausgerechnet jetzt will die Regierung das hinkende Gesetz der „memoria histórica“ flicken, damit das recht auf die Ausgrabung der Ermordeten gefestigt wird. Ist das auch Rechtsbeugung?

  9. Dulcinea sagt:

    O! abfeldmann. Das können Sie...
    O! abfeldmann. Das können Sie mir schon glauben, daß ich nicht Nachbarn oder alte Schulkameraden meinte. Wie kommen Sie darauf? Mein Kommentar bezog sich vielmehr auf „ostdeutschland vor – oder unmittelbar nach – dem fall der mauer. deutschland nach 45“, und das waren Ihre Beispiele. Was Sie meinen, das ist so eine Art Märchendistanz. Sie schrieben ja schon vom Glanz, von der eigenartigen Kraft, vom Hauch Unverwundbarkeit. Die ferne Wunderwelt. Aber sind WIR die ferne Wunderwelt für die Sahrauis? Oder sind nicht eher die Sahrauis die ferne Wunderwelt für uns? Wüste, Beduinenzelt, Teppiche, Ziegen. Die Ästhetisierung von Armut ist eine wirklich schwierige Fragestellung. Aber ich dachte auch, es geht einfach darum, die internationale Gemeinschaft auf diesen Konflikt hinzuweisen. Daß er nicht vergessen wird, wie es oben in der Überschrift heißt?

  10. Dulcinea sagt:

    Mein lieber mugabarru, was ich...
    Mein lieber mugabarru, was ich fühle und empfinde, wenn ich daran denke, daß Ankläger, die sich aus der falange und anderen rechtsgerichteten Organisationen zusammensetzen, Garzón zu Fall gebracht haben… das kann ich gar nicht anfangen zu beschreiben. Das ist ein historischer Fehler, den sich Spanien da leistet. Und als solcher wird er erinnert werden, da bin ich sicher.

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