Einige kurze Überlegungen zwischendurch, um die spanische Liga gedanklich abzuschließen. Die Glückwünsche an den FC Barcelona wurden ja schon verteilt. Der Cava ist getrunken, die Flasche entsorgt. Es gibt wohl niemanden, der die Verdienste von Pep Guardiola und seiner Mannschaft nicht anerkennen würde. Noch nie hat ein Team der Primera División in einer Saison 99 Punkte geholt. Natürlich können sich auch die 96 Punkte von Real Madrid sehen lassen, aber dazu gleich.
Barcelona hat in 38 Spielen 98:24 Tore erzielt, das heißt: Auf ein Tor des Gegners kamen mehr als vier Tore von Barça. Habe ich das richtig gerechnet? Im Durchschnitt pro Partie hieß das Verhältnis 2,57 : 0,63. Eine andere Zahl ist noch aufschlussreicher. Ich meine nicht die 47 Saisontore von Leo Messi, die ihn mit dem brasilianischen Ronaldo in seinen besten Tagen gleichziehen lassen; oder die acht Spieler aus dem eigenen Nachwuchs, die in der Anfangsformation gegen Valladolid standen (während Leute wie Henry und Ibrahimovic die Bank wärmten, ein Anblick, über den sich niemand mehr wundert). Sondern den Umstand, dass der FC Barcelona in den letzten zwanzig Jahren zehnmal spanischer Meister geworden ist, Real Madrid dagegen nur sechsmal. Im ewigen Duell der beiden Großen steht es jetzt 31:20 für Real Madrid, und der Abstand schrumpft.
Da wir schon bei Zahlen sind: In den letzten zwanzig Jahren, in denen Barcelona eindeutig die beste spanische Mannschaft war, hat der Klub neun Trainer gehabt. Vier von ihnen haben die Meisterschaft gewonnen: Cruyff (4), van Gaal (2), Rijkaard (2) und Guardiola (2). Drei dieser vier Trainer sind Begründer bzw. Fortführer eines Stils, den man inzwischen weltweit mit dem FC Barcelona identifiziert. Bei Real Madrid übrigens waren in derselben Zeit 22 Trainer beschäftigt. Und niemand würde sagen, dass irgendeiner von ihnen besonders viel mit dem „Charakter“ des Klubs zu tun hat. Im Gegenteil. Stellt man alle Trainer in eine Reihe, sieht man eine buntscheckige Folge von erfahrenen und unerfahrenen, harten und weichen, erfolgreichen und erfolglosen Leuten. Geht das Konzept Capello daneben, kommt eben Bernd Schuster. Das einzig Konstante daran ist der Wechsel. Und auf den schönen Fußball, ohne den das Bernabéu-Stadion angeblich nicht sein kann, warten wir immer noch.
Die Schlüsse, die aus den obigen Bilanzen zu ziehen wären, müssten alle madridistas nachdenklich stimmen. Ich sehe aber keine Nachdenklichkeit, sondern den bekannten Aktionismus und die Bereitschaft, wieder ein paar fette Schecks zu schreiben. Also noch einmal im Klartext. Der von Florentino Pérez gesteuerte Klub nimmt einen erratischen, von allerlei Mediengeschrei begleiteten Kurs, aus dem die spielerische Signatur der Mannschaft nicht mehr ersichtlich wird. Immer wieder macht sich Real Madrid von vermeintlich großen Spieler- oder Trainernamen abhängig, ohne zu fragen, ob diese Akteure auch dem angestrebten Profil entsprechen. Natürlich kann man einen Weltstar wie Cristiano Ronaldo verpflichten, wenn man das nötige Geld dazu hat, und sein Typus, seine gezupften Augenbrauen oder die tränenfeuchten Blicke in den Stadionhimmel sollen jetzt nicht mein Thema sein. Aber es war schon immer Pérez‘ Fehler, die Spieler wie cromos zu sammeln, statt den Trainer zu fragen, wie sie denn zusammenpassen könnten. Den Trainer kann man ja auch nur fragen, wenn man ihn hat! Sagen wir also, wer einen Robben, Higuaín und dann noch Ronaldo und Kaká auf der Gehaltsliste hat, braucht sicherlich keinen Benzema zu kaufen. Seltsam, dass ein nüchterner Beobachter das sofort erkennt, nur Florentino Pérez nicht. Jede dieser Nichterkenntnisse kostet den Verein zwanzig, dreißig oder vierzig Millionen Euro. Oder mehr.
In dieser Beziehung darf man die zweijährige Ära des Präsidenten Ramón Calderón ruhig zur Dekadenzphase unseres Vereins hinzurechnen. Real Madrid scheint die Spanische Liga so sehr zu verachten, dass im Jahr 2003 (Vicente del Bosque) und im Jahr 2007 (Fabio Capello) jeweils der Trainer entlassen wurde, der soeben den Titel gewonnen hatte. Überhaupt begann mit del Bosques Entlassung – dem letzten Übungsleiter, der mit seiner Mannschaft 2002 die Champions League erringen konnte – durch Florentino Pérez der Niedergang jeder seriösen Planung. In weniger als sieben Jahren hat der spanische Rekordmeister neun Trainer verschlissen, wenn man den Rauswurf Pellegrinis einmal als beschlossene Sache annimmt. Sieben dieser neun Trainer hat Pérez entlassen. Sieben! Ist der Mann noch zu retten?
Das ständige Einstellen und Rauswerfen der Trainer bedeutet nicht nur ein permanentes Zurücksetzen des Zählers auf Null, viel Unruhe, neue Co-Trainer, Physiotherapeuten, Einflüsterer, Groupies, Schleimer und so weiter, dazu gewaltige Summen für Abfindungszahlungen. Es heißt auch, dass die neue Saison nicht im Frühjahr oder spätestens Frühsommer vorbereitet werden kann, weil die begehrten Trainerkandidaten meistens noch anderswo unter Vertrag stehen und sich daher nicht frühzeitig zu ihren Vorstellungen äußern können. Doch selbst wenn sie es könnten, würden sie schnell begreifen, wie begrenzt ihre Macht ist. Manuel Pellegrini hat letzten Sommer deutlich gesagt, er zähle auf Wesley Sneijder für das Madrider Mittelfeld; prompt wurde Sneijder verkauft. Auch Arjen Robben wurde abgegeben, damit Geld in die Kasse strömt. Beide Niederländer gehören zu den Stützen ihrer neuen Mannschaften und stehen jetzt im Champions-League-Finale. Mit gemischten Gefühlen, vielleicht sogar mit etwas Schadenfreude dürften sie sich am kommenden Samstag im Rund des Bernabéu-Stadions umsehen. Wenn sie Florentino Pérez erblicken, sollten sie ihm zuwinken, auch wenn wir längst wissen, dass Pérez jedem Winken gegenüber unzugänglich ist. Das hat schon ein Spieler namens Samuel Eto’o erfahren.
Nachdem Trainer Manuel Pellegrini praktisch verabschiedet und hinausgedrängt ist – ich schweige von den üblen Beleidigungen und Diskreditierungskampagnen durch die Madrider Sportpresse -, lohnt noch einmal ein Blick auf die Zahlen. Es stimmt, die entscheidenden Spiele der Saison hat Real Madrid verloren. Aber an Punkten und Toren wurde ein Madrider Ligarekord aufgestellt, der sich durchaus sehen lassen kann. Es gibt Menschen, die zugunsten Pellegrinis sagen, jedes fußballerische „Projekt“ brauche etwas Zeit. Man kann es kaum beschleunigen, auch nicht mit knapp 300 Millionen Euro. Cruyff und Rijkaard gewannen in ihrem ersten Trainerjahr bei Barcelona nicht den Ligatitel, konnten aber dann einen Zyklus mit hervorragenden Ergebnissen durchlaufen. Mehr, sie prägten eine Epoche. Cruyff, Rijkaard, Guardiola – das ist eine Reihe, die in jeder Beziehung Sinn ergibt.
Solche Zyklen von vier, fünf oder mehr Jahren kann man nicht herbeizwingen, nur vorbereiten. Wer Eile hat, den bestraft das Leben. Man sollte also alles dafür tun, dass die Zyklen sich ereignen. Und die erste Voraussetzung dafür – abgesehen von einer erfolgversprechenden Personalentscheidung – ist nun einmal Kontinuität, damit die Dinge zusammenwachsen können. Gibt es ein „Projekt“, muss der Trainer es aufbauen dürfen. Dafür braucht er, die finanziellen Möglichkeiten vorausgesetzt, Entscheidungsfreiheit darüber, mit welchen Spielern er sein Ziel erreichen will. Guardiola zum Beispiel könnte sich letztes Jahr geirrt haben, als er Eto’o durch Ibrahimovic ersetzte und auch noch 45 Millionen Euro hinterherwarf. Aber es ist das, was ich einen kreativen Irrtum nenne: Er wollte sehen, ob es klappt. Gute Trainer gehen Risiken ein und folgen ihrem feeling. Man will doch kein Angsthase sein! Das feeling führt übrigens dazu, dass die Mannschaft den Irrtum des Trainers aus eigenen Stärken (die wiederum Guardiolas Verdienst sind) kompensiert. Wer nämlich einen Pedro oder Bojan in der Hinterhand hat, kann Ibrahimovic auf die Bank setzen. Was geschieht, wenn Villa kommt, will ich mir lieber nicht ausmalen. Der ist wieder mehr der Eto’o-Typ als der Ibrahimovic-Typ. So erkennt man, wie Guardiola sein Projekt weiterentwickelt und verfeinert.
Bevor offiziell ist, dass José Mourinho der neue Trainer von Real Madrid wird, noch eine letzte Bilanz. Präsident Florentino Pérez hat mit keinem von ihm eingestellten Trainer einen Titel errungen, wenn wir die spanische Supercopa mal ignorieren, die der Neuling Queiroz im Sommer 2003 gewissermaßen nur für Vicente del Bosque abgeholt hat. Mit keinem! Das macht seit damals also dreieinhalb Jahre Pérez – 42 Monate – ohne jeden Titel. Für diese anhaltende Titellosigkeit wurden auf dem Transfermarkt zwischen 500 und 800 Millionen Euro ausgegeben. Ich schenke mir das Nachrechnen.
Nein, ich verstehe nicht, wie man einen so erfolglosen Mann auf dem Präsidentensessel so lange agieren lassen kann, wenn ein Manuel Pellegrini nicht einmal zwölf Monate vollmachen darf. Florentino hat doch längst bewiesen, dass er es nicht kann. Die Fans sollten seinen Rücktritt fordern. Der Verein muss sehr ängstlich sein, dass er sich an Florentinos Millionen und Marketingversprechen klammert. Mir gefällt auch nicht, wie Real Madrid in den Augen der Welt dasteht: als angeberischer Verein, der sich planlos alles zusammenkauft, worauf er Lust hat. Manche Spieler werden bei uns so schlecht, wie sie vorher nie waren. Andere harmonieren nicht mit dem Rest der Mannschaft. Wieder andere haben das Beste ihrer Karriere hinter sich. Und welcher Spieler wurde zuletzt in Madrid zum „Weltfußballer des Jahres“? Es ist so lange her, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann. Ich fände es schön, wenn ein Trainer mal ein bisschen bei uns bliebe und seine Arbeit entwickeln dürfte. Aber das, fürchte ich, wird mit diesem Präsidenten nicht zu haben sein.
[Fotos: AP, Reuters, AFP]