Sanchos Esel

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Spät essen, laut reden, wenig schlafen, kein Fahrrad haben, die Mülltrennung vergessen, dem berühmtesten Fußballverein der Welt zugucken, bei Rot

Der Blick der Mitläufer

| 48 Lesermeinungen

Nächstes Jahr wird Island das Gastland der Frankfurter Buchmesse sein, da werden wir wieder zuschauen, lernen und staunen. Diesmal, mit den Argentiniern, entstanden viele lustige Eindrücke aufgrund der Mischung aus Nähe und Ferne. Das Spanische, sagt man, verbinde Europa und Lateinamerika, und es stimmt. Doch die Lebenswelten und täglichen Erfahrungen sind im Einzelfall dann doch ganz andere.

Nächstes Jahr wird Island das Gastland der Frankfurter Buchmesse sein, da werden wir wieder zuschauen, lernen und staunen. Diesmal, mit den Argentiniern, entstanden viele lustige Eindrücke aufgrund der Mischung aus Nähe und Ferne. Das Spanische, sagt man, verbinde Europa und Lateinamerika, und es stimmt. Doch die Lebenswelten und täglichen Erfahrungen sind im Einzelfall dann doch ganz andere. In mancherlei Hinsicht ist Argentinien sogar das Gegenteil von Spanien. Zum Beispiel in dieser: Fern von allem, am Südende der Welt gelegen, versucht die Einwandererkultur und Erbin verschiedenster europäischer Traditionen mit großer Energie, die Welt nach Argentinien zu holen, konkret etwa durch Übersetzungstradition.

Das könnte, ja müsste doch dasselbe sein, mag man sich sagen: Übersetzt man ein Buch ins Spanische, dient es praktischerweise gleich für alle spanischsprachigen Länder. Doch es ist genau andersherum. Jedes Land übersetzt für sich selbst. Und die Argentinier etwa lassen Werke aus Philosophie und Geisteswissenschaften übertragen, die es in spanischen Verlagen nicht gibt. Gerade erzählte mir Walter Kappacher – Don Walter, Sie erinnern sich an ihn, seinen Büchner-Preis, die Fotografien vom Eis aus dem letzten Jahr -, sein Roman Der Fliegenpalast werde gerade sowohl von einem spanischen wie von einem argentinischen Verlag übersetzt. Dabei könnte man das sehr vereinfachen, eine kleine Revision würde genügen, um aus ein und demselben spanischsprachigen Text die passenden Versionen für Spanien beziehungsweise Argentinien herzustellen.

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Auf der Frankfurter Buchmesse traf ich den Schriftsteller Martín Kohan wieder, den ich im April in Buenos Aires kennengelernt hatte. Sein Roman Sittenlehre (Ciencias morales) ist kürzlich auf deutsch erschienen, und da soeben auch die Verfilmung herausgekommen ist, die ich mir wohl nicht ansehen werde, es sei denn, jemand überzeugt mich mit sehr guten Argumenten von der Notwendigkeit des Gegenteils, dachte ich wieder über einen anderen, älteren Roman nach, nämlich Was vom Tage übrigblieb (The Remains of the Day) von Kazuo Ishiguro. Von diesem las ich vor einigen Wochen den schönen Erzählband Nocturnes, sein Name schwamm also wieder weit oben.

Was ich aber eigentlich sagen wollte: Ishiguro und Kohan teilen in den beiden genannten Romanen die Idee, wie die unüberschaubar große Welt mit ihren geschichtlichen Katastrophen, Grausamkeiten und Untergängen zu beschreiben ist: durch die Augen der bescheidensten Mitläufer. Bei Ishiguro ist es der Butler Stevens (den Anthony Hopkins in James Ivorys Verfilmung meisterhaft spielt). Bei Kohan die Schulaufseherin María Teresa. Sie will wirklich nichts anderes, als ihre Pflicht zu erfüllen, die Achtung ihres Vorgesetzten zu erringen und den angemessenen Platz in der Schulhierarchie zu besetzen, aber vielleicht ist das Letzte schon zuviel gesagt: Sie will eigentlich nur möglichst schmerzfrei durch ihre graue Existenz hindurchschlüpfen und das Gewicht des Lebens nicht so spüren. Und obwohl Ishiguros Butler ein älterer Mann ist, der zurückschaut, und Kohans Aufseherin eine unerfahrene junge Frau, die alles noch vor sich hat, erfassen beide Schriftsteller in ihren Romanen die größere Welt durch den Brennspiegel derselben Frage, die sich ihre Hauptfiguren stellen: Was ist meine Pflicht, und wie kann ich sie am besten erfüllen?

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Man verwendet für vergleichbar autoritätshörige Menschen, die ihr Pflichtbewusstsein höherstellen als eigenständige Reflexion, den unschönen Begriff „Kadavergehorsam“: Solche Menschen gehorchen, weiter nichts, und tun widerstandslos, was man von ihnen verlangt. In den beiden Romanen von Ishiguro und Kohan wird allerdings plausibel, wieviel Nachdenken, menschliche Qualität, wieviel Charakter in diese Aufgabe investiert wird. Wie leicht diese Menschen das Leben darüber verpassen, gegen ihre eigenen Interessen handeln oder untergehen. Es ist eine große Kunst, Tragödien dort zu entdecken, wo sie sich normalerweise lautlos und im Verborgenen abspielen. Schon das Wort „Tragödie“ bedeutet ja: Wir haben etwas entdeckt, was zuvor unsichtbar war. Der Butler und die Aufseherin existieren.

Ich habe Ihnen noch ein paar Fotos aus Buenos Aires dazugestellt – von der Buchhandlung, die genau auf der anderen Straßenseite des Colegio Nacional liegt, in welchem Martín Kohans Roman spielt, konkret: von dem Kellerraum, in dem Kohan und ich uns so schön unterhalten haben. Und unten ein Dokument, das zeigt, wie man früher mit Bücherdieben verfuhr: Man exkommunizierte sie. Nach langer Überlegung neige ich dazu, darin das Kennzeichen einer Kulturnation zu sehen.

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48 Lesermeinungen

  1. donalphonso sagt:

    Ha! Das geht noch viel...
    Ha! Das geht noch viel härter! Bernward von Hildesheim schrieb in seine Bücher:
    .
    Anathema diaboli sit
    quisquis mihi dempserit.
    .
    Der Fluch des Teufels treffe
    denjenigen, der mich stiehlt.
    .
    Und in dieser grauen Vorzeit waren seine Diebe doch allenfalls Mitpriester, der Rest konnte nicht lesen.

  2. Dulcinea sagt:

    Die geschichtlichen...
    Die geschichtlichen Katastrophen und Untergänge, die bescheidenen Mitläufer, die Exkommunikation… all das fiel mir auch wieder ein, als ich heute dieses Buch hier aufschlug: https://picasaweb.google.com/lh/photo/QBhofppuXWXRS6hrIm5D8Q?feat=directlink
    Die Isländer sollen bloß aufpassen, was sie hinten in ihre Bücher und Übersetzungen hineindrucken!

  3. mugabarru sagt:

    Wie schön, diese einheitliche...
    Wie schön, diese einheitliche Stimmung. Es ist ja bald Vollmond, Halloween, Walpurgis… Fehlst noch du, pardel, mit deiner verlorenen EB. Aber alle anderen WG-Miglieder dürfen, selbstverständlich, auch…

  4. Madrid sagt:

    Ich bin etwas langsam,...
    Ich bin etwas langsam, Dulcinea. Würden Sie mir die Zeilen in Ihrem Buch bei Gelegenheit erläutern?

  5. Dulcinea sagt:

    Wie gut, daß ich...
    Wie gut, daß ich vorbeischaue! Verzeihung! Ja, also die Zeilen besagen, daß man, wenn man eine Meinung zum vorliegenden Buch, der englischen Übersetzung, dem Erscheinungsbild oder verbessernde Vorschläge für zukünftige Ausgaben hat, sich vertrauensvoll schriftlich an den Verlag wenden soll. So weit, so gut. Jetzt kommen die geschichtlichen Katastrophen und Untergänge ins Spiel. „Progress Publishers“ gibt es ja nicht mehr. Soweit ich weiß. Ob das an „Progress“, an „Publishers“ oder generell an der Tatsache liegt, daß es das Land U.S.S.R. nicht mehr gibt, das vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht sind auch alle drei Tatsachen von gewisser Bedeutung. Ich las die Aufforderung („Request“ – was für ein schönes Wort) wie eine Botschaft aus versunkener Zeit. Das hat mich bewegt. Denn es ist noch immer ein interessantes Buch, auch wenn ich meine Meinung dazu nun niemandem mehr schicken kann. Und dann dachte ich an Island. pardel weiß etwas über die Vulkane dort. Ich meine nur.

  6. Dulcinea sagt:

    Mein lieber mugabarru, uns...
    Mein lieber mugabarru, uns fehlt ein bißchen das enfant terrible des Blogs, nicht wahr? Wo sind alle hin? abfeldmann? Gatamad? Der ewig kollabierende Diogeneskarl? Selbst Don Jorge… Ach ja! Es ist nicht immer leicht, ein Kommentator zu sein. Übrigens, Ihre Lebensgeschichte und das: ich bin einverstanden! Bringen Sie ihre Hemden mit, es ist sehr sonnig in Madrid. Also. Jetzt ist es dunkel. Aber morgen wieder!

  7. zyune sagt:

    <p>Lieber Herr...
    Lieber Herr Ingendaay,
    Warum nicht? Die Spanier spielen sich doch oft den Suedamerikanern gegenueber als Herren und Hueter des castellano auf. Das Wichtigste in spanischer Sprache kommt schon lange nicht mehr aus Spanien. Argentinisch, und nicht nur das, ist so verschieden vom castellano, was eine eigene Uebersetzung durchaus rechtfertigt. Walter Kappacher soll doch froh sein, dass er noch einmal uebersetzt wird. Ist das nicht Hochachtung gegenueber dem Kuenstler, dem Kreativen? Sergi Belbel klagte mir einmal sein Leid, wie sehr er es bedauert, dass eine spanische Uebersetzung als Vorlage fuer die Uebersetzung seiner Stuecke ins Deutsche verwendet wird. (Noch schlimmer ist die Unart, die ich hier feststelle, dass japanische Romane oft aus dem Englischen ins Deutsche uebersetzt werden. Doppelter Schatten also.) Sie schreiben so oft ueber arrogante Menschen, vor allem Fussballer… Lesen Sie mal wieder Kafka oder den Bartleby.
    Saludos aus Nippon.

  8. Madrid sagt:

    zyune, Ihre Meinung ist...
    zyune, Ihre Meinung ist hochwillkommen. Gelegentlich korrigiere ich Schreibfehler und hoffe, dass es Ihnen recht ist. Ebenfalls lösche ich persönliche Angriffe und Tiervergleiche, die gegen den Autor oder Kommentatoren dieses Blogs gerichtet sind. Ich hoffe, auch damit sind Sie einverstanden.
    Zur Sache: Natürlich ist Walter Kappacher froh, wenn seine Bücher übersetzt werden. Mein Hinweis auf die doppelte Übersetzung zeigt den wahren kulturellen Abstand zwischen Ländern, die durch die gemeinsame Sprache verbunden sind. Im Fall des Japanischen könnte man beklagen, dass es für diese Sprache offenbar nicht genügend literarische Übersetzer gibt, die von ihrer Arbeit leben können. Wenn ein japanischer Autor die Wahl hat, entweder aus dem Englischen oder gar nicht übertragen zu werden, könnte er also das kleinere Übel wählen. Ich vermute, die Übersetzungen, von denen sie sprechen, werden mit der Billigung des Autors angefertigt?

  9. pardel sagt:

    Sie liegen ganz richtig, liebe...
    Sie liegen ganz richtig, liebe Dulcinea, Progress Publishers gibt es nicht mehr und die Inschrift fiel bereits anderen auf: https://en.wikipedia.org/wiki/Progress_Publishers Wie soll eine solche Aufforderung ohne Kommentarfunktion ernst genommen werden? Mittlerweile würde man sagen, das wird ein Blog. Aber damals, per Post, mehr noch, mit der zensierten Ost-Post? Die haben sich vielleicht was vorgenommen! Und dann brach der Kapitalismus über sie hinein und sie waren Pleite, wem wundert’s? Heute wäre es immer noch anstrengend, bei aller Technologie. Oder man würde auf eine Agentur zurückgreifen, die schreiben Schmeichelhaftes gegen Bezahlung, worüber allgemein gelästert wird, sobald es rauskommt (und es kommt raus, vom Niveau dieser Söldnerkommentatoren ganz zu schweigen. Peinlich, peinlich! weTab! Konstantin Neven DuMont!). Nur Don Alphonso vom Blog nebenan hat die Energie, immer on-line zu sein und auf zweihundert Kommentare täglich persönlich zu reagieren. Ich frage mich immer, wie er das schafft. In den USA würde er sich vermutlich einer Dopingkontrolle unterziehen müssen, zum Glück ist die FAZ nicht so.
    @Zyune: Viele deutsche Autoren (Heidegger, Nietzsche z. B.) wurden ins Spanische über den Umweg des Französischen übersetzt. Was wäre nun Ihrer Meinung nach besser: Heidegger nicht zu verstehen, weil man Deutsch kann, und er auf Deutsch völlig unverständlich ist, oder ihn falsch zu verstehen, weil zwei Übersetzer hintereinander sein Werk vorverdaut und umgedeutet haben? Ich bin mir da nicht so sicher.
    Beim Dolmetschen muss man oft auf die Simultanübersetzung eines Kollegen in einer anderen Kabine zurückgreifen, wenn man die Sprache des Redners nicht direkt versteht, das kommt bei mehrsprachigen Konferenzen öfter vor (bei Ministertreffen der EU ist es an der Tagesordnung. Anders wären solche Treffen mit über 20 Sprachen nicht zu bewerkstelligen). Das nennt man „auf Relais gehen“ und ist eine akzeptierte professionelle Praxis. Nur Relais von einem Relais, das sog. Doppelrelais, ist verpönt. Wenn es unvermeidbar sein sollte, wurde das Team falsch zusammengesetzt und die Planungsabteilung wird gerügt. Kommt unter Profis so gut wie nie vor.
    Was noch keiner vorgeschlagen hat, leider! ist die Einrichtung einer spanischen Kabine für Spanier und einer zweiten kastilianischen Kabine für Südamerika. Das würde unseren Arbeitsmarkt sehr fördern.

  10. mugabarru sagt:

    Also jetzt kann ein jeder mit...
    Also jetzt kann ein jeder mit mir schlafen. Ich schnarche nicht mehr! Meine Mandeln sind operiert worden. Auch atme ich besser. Die medizinische Entscheidung war also angebracht. Und jetzt können wir ja wieder zum Thema Lotería zurück kommen. Pardel, ich akzeptiere – nach langen Überlgegungen deine vorgeschlagene 41592 so wie auch die 28182. Was irrational, traszendent und doch real ist, ist für mich absolut interessant und gültig. Unsere Dulcinea wollte eine Endziffer 2, kein anderes WG-Mitglied hat sich gemeldet, leider, so dass wir davon ausgehen können, dass deine Ziffern akzeptiert sind., Das Problem jetzt ist, dass beide Ziffern in Andalusien gespielt werden. Wird der Preis tatsächlich in Andalusien fallen? Haben die Andalusier das verdient? Wie kommen wir an diese „décimos“? Das ist die nächste Hürde die genommen werden muss. Für positive Lösungen stehen wir bereit…….
    https://www.abc.es/loteria-de-navidad/localizardecimo.asp?numero=41592
    https://www.abc.es/loteria-de-navidad/localizardecimo.asp?numero=28182
    In Plaza Santa Ana von Madrid bin ich bestimmt nächsten Monat. Un die letzte Zahl, capicua, gefällt mir besonders. Doch wird Madrid wieder „madrillones“ gewinnen? Wie organisieren wir einen anonymen Kauf des – hoffentlich – millionenschweren décimos?

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