Nächstes Jahr wird Island das Gastland der Frankfurter Buchmesse sein, da werden wir wieder zuschauen, lernen und staunen. Diesmal, mit den Argentiniern, entstanden viele lustige Eindrücke aufgrund der Mischung aus Nähe und Ferne. Das Spanische, sagt man, verbinde Europa und Lateinamerika, und es stimmt. Doch die Lebenswelten und täglichen Erfahrungen sind im Einzelfall dann doch ganz andere. In mancherlei Hinsicht ist Argentinien sogar das Gegenteil von Spanien. Zum Beispiel in dieser: Fern von allem, am Südende der Welt gelegen, versucht die Einwandererkultur und Erbin verschiedenster europäischer Traditionen mit großer Energie, die Welt nach Argentinien zu holen, konkret etwa durch Übersetzungstradition.
Das könnte, ja müsste doch dasselbe sein, mag man sich sagen: Übersetzt man ein Buch ins Spanische, dient es praktischerweise gleich für alle spanischsprachigen Länder. Doch es ist genau andersherum. Jedes Land übersetzt für sich selbst. Und die Argentinier etwa lassen Werke aus Philosophie und Geisteswissenschaften übertragen, die es in spanischen Verlagen nicht gibt. Gerade erzählte mir Walter Kappacher – Don Walter, Sie erinnern sich an ihn, seinen Büchner-Preis, die Fotografien vom Eis aus dem letzten Jahr -, sein Roman Der Fliegenpalast werde gerade sowohl von einem spanischen wie von einem argentinischen Verlag übersetzt. Dabei könnte man das sehr vereinfachen, eine kleine Revision würde genügen, um aus ein und demselben spanischsprachigen Text die passenden Versionen für Spanien beziehungsweise Argentinien herzustellen.
Auf der Frankfurter Buchmesse traf ich den Schriftsteller Martín Kohan wieder, den ich im April in Buenos Aires kennengelernt hatte. Sein Roman Sittenlehre (Ciencias morales) ist kürzlich auf deutsch erschienen, und da soeben auch die Verfilmung herausgekommen ist, die ich mir wohl nicht ansehen werde, es sei denn, jemand überzeugt mich mit sehr guten Argumenten von der Notwendigkeit des Gegenteils, dachte ich wieder über einen anderen, älteren Roman nach, nämlich Was vom Tage übrigblieb (The Remains of the Day) von Kazuo Ishiguro. Von diesem las ich vor einigen Wochen den schönen Erzählband Nocturnes, sein Name schwamm also wieder weit oben.
Was ich aber eigentlich sagen wollte: Ishiguro und Kohan teilen in den beiden genannten Romanen die Idee, wie die unüberschaubar große Welt mit ihren geschichtlichen Katastrophen, Grausamkeiten und Untergängen zu beschreiben ist: durch die Augen der bescheidensten Mitläufer. Bei Ishiguro ist es der Butler Stevens (den Anthony Hopkins in James Ivorys Verfilmung meisterhaft spielt). Bei Kohan die Schulaufseherin María Teresa. Sie will wirklich nichts anderes, als ihre Pflicht zu erfüllen, die Achtung ihres Vorgesetzten zu erringen und den angemessenen Platz in der Schulhierarchie zu besetzen, aber vielleicht ist das Letzte schon zuviel gesagt: Sie will eigentlich nur möglichst schmerzfrei durch ihre graue Existenz hindurchschlüpfen und das Gewicht des Lebens nicht so spüren. Und obwohl Ishiguros Butler ein älterer Mann ist, der zurückschaut, und Kohans Aufseherin eine unerfahrene junge Frau, die alles noch vor sich hat, erfassen beide Schriftsteller in ihren Romanen die größere Welt durch den Brennspiegel derselben Frage, die sich ihre Hauptfiguren stellen: Was ist meine Pflicht, und wie kann ich sie am besten erfüllen?
Man verwendet für vergleichbar autoritätshörige Menschen, die ihr Pflichtbewusstsein höherstellen als eigenständige Reflexion, den unschönen Begriff „Kadavergehorsam“: Solche Menschen gehorchen, weiter nichts, und tun widerstandslos, was man von ihnen verlangt. In den beiden Romanen von Ishiguro und Kohan wird allerdings plausibel, wieviel Nachdenken, menschliche Qualität, wieviel Charakter in diese Aufgabe investiert wird. Wie leicht diese Menschen das Leben darüber verpassen, gegen ihre eigenen Interessen handeln oder untergehen. Es ist eine große Kunst, Tragödien dort zu entdecken, wo sie sich normalerweise lautlos und im Verborgenen abspielen. Schon das Wort „Tragödie“ bedeutet ja: Wir haben etwas entdeckt, was zuvor unsichtbar war. Der Butler und die Aufseherin existieren.
Ich habe Ihnen noch ein paar Fotos aus Buenos Aires dazugestellt – von der Buchhandlung, die genau auf der anderen Straßenseite des Colegio Nacional liegt, in welchem Martín Kohans Roman spielt, konkret: von dem Kellerraum, in dem Kohan und ich uns so schön unterhalten haben. Und unten ein Dokument, das zeigt, wie man früher mit Bücherdieben verfuhr: Man exkommunizierte sie. Nach langer Überlegung neige ich dazu, darin das Kennzeichen einer Kulturnation zu sehen.