Irgendetwas ist in die Spanier gefahren, aber niemand weiß, was. Ist das eine zulässige Verallgemeinerung? Kürzlich jedenfalls amüsierte sich der Bürgermeister von Valladolid in einem Radiogespräch über das Äußere der neuen spanischen Gesundheitsministerin Leire Pajín und fügte hinzu: „Immer, wenn ich ihr Gesicht und dieses Mündchen sehe, denke ich an dasselbe, aber das sage ich jetzt nicht.“ Der Aufschrei über die sexistischen Äußerungen des älteren Herrn war noch nicht ganz verhallt, da schrieb der Schriftsteller Arturo Pérez-Reverte auf Twitter über den ehemaligen spanischen Außenminister: „Habe Moratinos weinen sehen. Nicht einmal beim Abgang hat er Mumm.“ Ja, Miguel Ángel Moratinos hat geweint, als er verabschiedet wurde. Ein harter Junge wie Pérez-Reverte, Bestsellerautor von Mantel-und-Degen-Romanen und Mitglied der Königlich-Spanischen Akademie, findet das zum Brüllen. Seine Verachtung gipfelt in der Beschimpfung, Moratinos sei gegangen wie ein „perfecto mierda“, was wohl keiner Übersetzung bedarf.
Im Nu hatten die Online-Zeitungen die Sache verbreitet. Eine erstaunliche Reaktion überrrollte das Land. Im Twitter-Universum bildeten sich Gruppen, die Parodien des enthemmten Schriftstellers erfanden. Zugleich abonnierten sich Tausende auf seinen Tweed und erhöhten die Zahl der Pérez-Reverte-Anhänger auf mehr als dreißigtausend. Irgendwann erreichte die Kommentarlawine auch die Politiker und rührte sie gnadenlos unter. Einer sagte, selbst der „hervorragende Schriftsteller“ Pérez-Reverte dürfe es nicht an Respekt fehlen lassen. Ein anderer fragte, was denn so schlimm daran sei, wenn ein Politiker Gefühle zeige? Empfindsamkeit sei doch kein Vergehen. Ein weiterer meinte, die Sätze des Schriftstellers seien gewiss nicht nett, aber so schlimm wie das Mündchen der Gesundheitsministerin seien sie auch wieder nicht.
Währenddessen wurde Moratinos im Internet als Heulsuse verhöhnt und Pérez-Reverte mal als großer Stilist gefeiert, dann wieder zum billigen Lohnschreiber degradiert. Am Ende zankten sich auch die Kommentatoren in den Online-Medien. Das Internet ist die Verrohungsmaschine unserer Tage. „Diesen Erfolg hatte ich gar nicht erwartet“, twitterte der Schriftsteller, noch immer berauscht von seiner Wirkung. Wäre er sich über die Folgen klargewesen, hätte er mit den Beleidigungen viel früher angefangen! Wie gesagt, irgendetwas ist in die Spanier gefahren. Aber auch ich weiß nicht, was.
Das Obige habe ich in unserer Zeitung geschrieben. Es erschien am Samstag unter der Glossenüberschrift „Nicht nett“. Ein paar Anmerkungen möchte ich hinzufügen. Erstens, mit welch schlechtem Gewissen ich das Obige geschrieben habe. Denn nicht nur ist es peinigend, ja demütigend, so viele Dummheiten in einer einzigen Schreibsitzung paraphrasieren und dann auch noch kommentieren zu müssen. Es sind die Augenblicke, da unser Beruf fragwürdig wird, denn dienen wir dem Bürgermeister von Valladolid (der seine Frechheiten zuerst im Radio verbreitete) und dem Herrn Pérez-Reverte (der die seinen in jeweils 140 Buchstaben packte) nicht unfreiwillig als Verstärker? Verschaffen wir den Beleidigern nicht genau das, worauf sie es abgesehen haben, wenn wir ihre Sätze weitertragen und in den großen allgemeinen Nachrichtenstrom leiten, der unsere Ohren mit Getöse erfüllt, sobald wir den Computer hochfahren? Mehr: Verschärfen und verschlimmern wir die Beleidigung nicht gerade dadurch, dass wir sie bis in die letzten Winkel (lassen Sie es mich pathetisch formulieren:) fremder Länder tragen?
Meine vorläufige Antwort heißt: ja.
Aber, könnte man einwenden, normalerweise schreibt ein Pérez-Reverte doch Romane! Und seine Romane bleiben doch ein würdiger Gegenstand! Darauf muss ich antworten: Ich weiß es nicht. Hier jedenfalls hat er nicht von seinen Romanen und der Kunst des Schreibens gesprochen. Er hat den spanischen Außenminister angerempelt, der nach mehr als sechs Jahren sein Amt abgeben musste. Ein paar unschöne Assoziationen stellten sich deshalb bei mir ein, darunter die Gebote landläufiger Macho-Pädogogik: Schmerz runterschlucken! Jungs weinen nicht!
Mit wirklicher Haltung, mit wahrer Tapferkeit haben diese Slogans nicht viel zu tun.
Umgekehrt verbitte ich mir aber auch den Opportunismus der spanischen Kulturministerin Ángeles González-Sinde, die ein großes Geschrei um die sexistischen Äußerungen des Bürgermeisters von Valladolid veranstaltet hat (sie konnte vor solidarischer Aufgewühltheit nicht mit ihm sprechen, sie konnte ihm bei der Eröffnung des Kinofestivals von Valladolid nicht einmal die Hand schütteln!), den Fall Pérez-Reverte jedoch wie folgt kommentierte: Die Tränen ehrten Moratinos; und der Schriftsteller habe nur frei seine Meinung geäußert.
Wie bitte? Die spanische Kulturministerin glaubt, sich hinter die Grobheit eines Schriftstellers stellen zu müssen, nur weil er kein öffentliches Amt bekleidet? Vielleicht hat sie einfach nicht den Mut, den Mann, der ihren Kollegen Moratinos mit Gratisbeleidigungen überzieht, zu kritisieren? Dann sollte sie schweigen. Sie hätte sich auch zu den Emotionen des ehemaligen Außenministers bei seiner Verabschiedung nicht zu äußern brauchen. Die Tränen nämlich, wie ich finde, „ehren“ Moratinos überhaupt nicht. Genauso wenig, wie sie ihn anklagen oder belasten. Sie sind geflossen, nichts weiter. Unwillkürlich. Und wenn eines die Geschichte dieser spanischen Verhöhnungen vollends unangenehm macht, dann ist es, zur Grobheit auch noch deren Kehrseite zu erleben, die Sentimentalität.
[ Fotos aus Günter Schwaigers Film Arena ]
Leider gehören diese...
Leider gehören diese Grobheiten und Taktlosigkeiten auch zum „spanischen Charakter“. Nur waren die früher einfach auf bestimmte Lokalisationen (lenguaje tabernario y/o cuartelario usw.) beschränkt. Nur Cela wurden diese „exapruptos“ auch toleriert. Doch in den letzten Jahren, m.E. durch das Fernsehen und dessen schreckliche Klatschprogramme, hat sich das so „normalisiert“, dass es selbst auf das gesamte soziale Zusammenleben ausgeweitet ist. Die PP hat auch entscheidend dazu beigetragen ganz allgemein im parlamentarischen Alltag (ich muss da an den kürzlich verstorbenen Labordeta von der Chunta Aragonesista und seine entnervte Reaktion auf die Zwischenrufe und Häme der PP denken: „“¿Pero es que aquí no se puede hablar, coño?. ¡Que no estoy hablando con ustedes!. Estoy hablando con el señor Ministro. Iros a la mierda. Lo que les pasa a ustedes, que han mandado siempre, es que no soportan que los que hemos sido represaliados y torturados vengamos a aquí a hablar. ¡Eso es lo que les jode!. ¡Iros a la mierda!“.) Die Beleidigungen gegen ZP, die Entwürdigung von Richtern, Polizei, all derer von denen sie sich angegriffen fühlten…. Leider glänzte die „andere Seite“ nicht ebenfalls durch Ironie, Benimm oder dergleichen. Auch deren Anspielungen auf die etwaigige Homosexualität von Mariano Rajoy finde ich taktlos. All diese Gemeinheiten waren früher in der Öffentlichkeit verpönt. Gut, es kann als Heuchelei ausgelegt werden. Mag sein. Aber es war entspannter. Ich kann dieses Spektakel einfach nicht mehr ertragen. Weder von den einen, noch von den anderen.
Pardel, deine andere Nr, die...
Pardel, deine andere Nr, die 41592, die wird nur in der Aministración de Loterías nº 1 in Fuentes de Andalucía, C/Lora del Rio 3-A verkauft, wie aus dem „localizador de décimos“ dessen link ich im vorigen Beitrag kopiert habe, zu ersehen ist. Ich würde da mal anrufen – Tel.: 954 83 82 72 – und nachfragen, ob es möglich ist dass sie dir das Los, gegen Bezahlung, nach Berlin schicken. Jede Administración erhält bestimmte Lose, so dass, wenn du eine bestimmte Nr suchst, erst herausfinden musst wo die verkauft wird.
<p>Ja, mugabarru, die...
Ja, mugabarru, die Klatschprogramme des Fernsehens haben ihren Teil der Schuld. Den anderen haben diese schrecklichen Kommentarbandwürmer unter Zeitungsmeldungen im Internet. Was sich dort austobt, ist bodenlos. Ich spreche nicht einmal von Marca oder der Sportpresse allgemein; das Fußballfanwesen ist naturgemäß aggressiv. Ich spreche von den Leserkommentaren in den Online-Ausgaben bürgerlicher Blätter wie La Vanguardia oder El Mundo.
Wer die spanische...
Wer die spanische Kulturministerin noch einmal erleben möchte, kann dies hier: https://www.elpais.com/articulo/cultura/ministras/reprueban/Drago/jactarse/sexo/menores/elpepucul/20101031elpepicul_3/Tes
Was für den Schriftsteller Fernando Sánchez Dragó gelten soll – nämlich seine literarische Tätigkeit nicht als Freibrief für sein Verhalten im Privatleben zu nehmen -, müsste eigentlich auch für andere gelten. Tut es aber nicht. Zumindest nicht in den Augen der Ministerin.
Dass es "peinigend, ja...
Dass es „peinigend, ja demütigend [war], so viele Dummheiten in einer einzigen Schreibsitzung paraphrasieren“ kann ich gut verstehen aber ich sehe nicht so recht, warum Sie beim Schreiben des Artikels ein schlechtes Gewissen hätten haben sollen. Ihre Intention wird ja sehr deutlich: Stil, Takt, und guter Geschmack sollte nicht verlorengehen. Und diese Aufforderung ist ganz sicher nicht auf Spanien begrenzt.
Ob da begründete Hoffnungen bestehen, in bestimmten Medien etwas verändern zu können, möchte ich aber (leider) bezweifeln. Diejenigen, die „Aktualität“ (=Geschwindigkeit??) als wichtigstes Kriterium betrachten, werden sich nicht ändern wollen – und für die Anderen bleibt einfach nur, sich ihre Quellen auszusuchen. Es muss ja nun wirklich nicht Twitter sein.
Die online-Kommentare unter Internet-Artikel der Zeitungen stören mich übrigens nicht, da sehe ich mehr das Positive: sie bieten eine zwar sehr selektive, aber doch interessante Möglichkeit, etwas über die Leserschaft zu erfahren. Dass diese oft auf Stammtisch-Niveau argumentiert, ist ja nichts wirklich Neues. Schlimm wird es erst, wenn die Profis in Presse und Fernsehen sich auch auf dieses Niveau begeben – und da wären wir wieder am Ausgangspunkt.
Ach, mugabarru, das ist so...
Ach, mugabarru, das ist so wohltuend, dass es in Spanien doch noch jemand wie Sie gibt, der beide Seiten gleichermassen kritisieren kann, aufgrund der Absurditäten, die sie jeweils abgeben. Ansonsten finde ich hier doch immer nur das einseitig, reflexhaft vorgefertigte Verteidigen des eigenen Lagers bzw. des Verdammens der anderen Seite. Und leider ist es nicht auf das Stammtisch-Niveau der Leser beschränkt, sondern wir von Pülitikern und Medien vorgelebt. Da eine ähnliche Tendenz auch in den USA zu beobachten ist, fuerchte ich auch, dass Besserung einstweilen nicht in Sicht ist.
Leider teile ich ihren...
Leider teile ich ihren Pessimismus, HenryCharms. Aber trotzdem, oder gerade deshalb, ist es wichtig, dass es keinerlei augenzwinkernde Komplizenschaft mit solch pöbelhaftem Benehmen geben kann. Ich dulde keinerlei frauen- ausländer- oder gayfeindliche Scherze, soweit ich die wahrnehme. Aber das ist ein anderes Problem. Meine Sensibilität scheint nicht immer empfindlich genug zu sein.
Aber blöde Bemerkungen,...
Aber blöde Bemerkungen, ironische Kommentare, dumme Witze, all das geht schon zu meinen Lasten. Nur versuche ich (was nicht immer gelingt), da zu platzieren wo eben dieses liebevoll ironische auch erkannt wird. Meine ehemalige peruanische Kollegin und Freundin J., die ja jetzt in Paris lebt, die frage ich immer wieder wie ich sie nun asprechen soll: als „gabacha“ oder als „sudaca“, da die Auswahl aufgrund ihres Lebenswandel doch immer grösser werde. Aber wir kennen und mögen uns. Wir wissen wie es gemeint ist.
dazu faellt mir nur der gute...
dazu faellt mir nur der gute Rat, den senor H. uns gab, ein:
-Hast du Verstand und ein Herz,
so zeige nur eines von beiden.
Beides verdammen sie dir,
zeigst du beides zugleich.
Wenn ich meine Viertelstunde...
Wenn ich meine Viertelstunde heute (verteilt auf drei Besuche) in den Lottostellen Madrids hochrechne, dann weiß ich, was in die Spanier gefahren ist. Die kaufen alle Weihnachtslose! Ausnahmslos! Alle! In zwei Wochen gibt es in Spanien keine Lose mehr! Unglaublich! pardel sagt, das muß die Krise sein. Die Spanier scheinen alle auf ihr Glück zu hoffen statt auf Arbeit. Ganz anders als… wir.