Sanchos Esel

Die Hüften von Shakira

Vor ein paar Tagen war ich im Shakira-Konzert, und ich weiß sehr genau, was ich in diesem Augenblick tue: Ich schreibe hin, daß ich im Shakira-Konzert war, mit allem, was das für den weiteren Fortgang dieses Textes bedeuten könnte. Zum Beispiel, wie ihre Hüften an diesem Abend waren. Shakiras Hüften, meine ich. Wie die kleine Sängerin über die Bühne geturnt ist, die Haare geworfen, die Klamotten gewechselt, wie sie sich gebogen, geschlängelt und geringelt hat! Die meisten wissen ungefähr, wovon ich rede. Und wer es nicht weiß, kann hier mit dem Lesen aufhören.

Eigentlich wollte ich aber damit anfangen, dass ich acht Tage zuvor in der Oper war, nur: Wer würde dann noch weiterlesen? Also dachte ich, fange ich mit Shakiras Hüften an, dann geht alles leichter. Natürlich ist mein Konzertbesuch (ebenso wie meine Zeugenschaft in dieser Sache) bestenfalls von relativem Wert. Man sieht Shakira, sagt man sich, aber der visuelle Eindruck der winzigen Figur dort unten auf der weit entfernten Bühne des Palacio de Deportes speist sich doch eher aus Fernseh- und Videobildern und hat allenfalls zufällig auch eine reale Inkarnation, die auf Welttournee geht, um die Nachfrage nach authentischer Verkörperung und live act zu befriedigen.

In der Oper jedenfalls gaben sie neulich Benjamin Brittens The Turn of the Screw, und nicht nur, dass man dabei niemandes Hüften zu Gesicht bekommen hätte, sie – die Hüften – haben sich auch nicht bewegt. Alle Figuren trugen strenge, hochgeschlossene Sachen in Schwarz und Grau, wirklich ein großer Unterschied zum Shakira-Konzert. Neben den tieferen Gedanken, die ich mir in der Oper auch immer mache, reflektierte ich diesmal: Wie mag es wohl sein, wenn man als zwölfjähriger Knabe (ich sage jetzt mal zwölf, genau weiß ich es nicht) an einem halben Dutzend Abende von einer erwachsenen Frau an sich gedrückt wird, die dabei auch noch Britten singt? Und als ich einmal bei Überlegungen zum Phänomen der Peinlichkeit auf der Bühne angekommen war, dachte ich an Nacktheit auf der Bühne.

Nacktheit, wird man jetzt sagen. Nacktheit! Das ist doch heute nichts Besonderes mehr, ein alter Hut. Nackte sehen wir ständig und überall. Pfff. Wo liegt denn da das Problem?

Kein Problem, antworte ich. Nur, dass Nacktheit auf der Bühne noch einmal etwas anderes ist. Denn erstens ist das eine Frage des Kontextes. Nacktheit auf der Opernbühne zum Beispiel hat oft eine erstaunliche Wirkung. Zweitens erwartet das Publikum sie nicht. Denn drittens ist es ja seinerseits angezogen. Das unterscheidet die Oper zum Beispiel vom Strand. Ich habe mit eigenen Sinnen erlebt, wie ein leichter Schauer durch die Reihen lief, als neulich in Barcelona, in der Carmen-Produktion des Liceu, der Torero sich auszog und dann splitternackt einige schöne Bewegungen mit dem Tuch vollführte. Ich meine, die Nacktheit war ästhetisch und all das, die Musik passte ebenfalls dazu. Doch zugleich war sie… wie soll ich sagen? Überaus konkret. Ein nackter Mann vor sechshundert angezogenen Leuten. 

Dasselbe gilt natürlich für die Simulation von sexuellen Handlungen. Man erzählt uns in der Oper sicher nichts grundsätzlich Neues darüber. Trotzdem bin ich davon immer wieder überrascht, auf eine Weise, wie mich Liebesszenen in Filmen im allgemeinen nicht überraschen. Als hätte das Filmbild längst alle Wirklichkeit eingebüßt, weil es so allgegenwärtig ist, während eine krude, unzureichende Live-Performance noch etwas vom echten Schock des voyeuristischen Schauens vermittelt. Ganz zu schweigen davon, dass dabei auch noch gesungen wird. 

Ein hübsches Beispiel burlesker Sexualität bot kürzlich die Inszenierung von Brecht und Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny im Madrider Teatro Real. Manche Szenen fielen in die Abteilung der mechanisierten Sexualität (verkauftes Fleisch, Mensch als Ware und so), andere boten ein Abbild zeitgenössischer Verpackungskultur (Weihnachten steht vor der Tür!), und auch wenn sich hier niemand vollständig auszog wie in der Carmen von Barcelona, war die Suggestion völlig ausreichend: Fleischfarbene synthetische Häute schmiegten sich um die Körper und erinnerten daran, dass eine lebendige Vorführung die Kraft hat, die Zuschauer in die Nähe von wirklicher Scham und authentischer Peinlichkeit zu führen.

Manche Opernliebhaber, so erzählte man mir, waren übrigens gleich weggeblieben, weil sie solche Szenen auf der Bühne nicht sehen wollen. Sie fühlen sich davon belästigt. Und es stimmt, die Nacktheit auf der Bühne eines gewöhnlichen Theaters ist etwas Besonderes. Und da hätte ich die Hüften von Shakira so außergewöhnlich finden sollen?

                     [ Fotos: A. Bofill/Gran Teatre de Liceu (1,2), Javier del Real/Teatro Real (3,4) ]

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