Es ist ein schönes Zeichen, dass das spanische Militär ausrückt und Flughäfen übernimmt, nicht, um ein Land zu besetzen oder Krieg zu führen, sondern weil die Bevölkerung ungehindert in Urlaub fahren soll. Diese Fluglotsen! Kommen auf die Idee, zum Auftakt spanischer Feiertage zu streiken! Wenn ein Land solche Ereignisse auf sämtliche Zeitungstitelseiten setzt, ist ein gewisser Grad an normalem Wahnsinn erreicht. Und wie könnte Zapatero jemals hoffen, den Beifall von ABC, El Mundo und La Razón zu erhalten, wenn nicht durch eine entschlossene militärische Geste?
Womit ich mich nicht über jene erheben will, die stundenlang auf spanischen Flughäfen festgehockt haben. Ich hoffe, alle kommen demnächst gut und sicher an. Und natürlich wünsche ich mir, dass der FC Barcelona nicht allzu unbequem nach Pamplona reist, wo auch noch das Spielfeld verschneit ist. Die Aufgabe könnte schwieriger werden als die am letzten Montag gegen Real Madrid. An dieser Stelle ergreife ich die Gelegenheit, die Leser des Blogs von Javier Cáceres zu grüßen, dem Spanien-Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung, mit dem ich gerade telefoniert habe. Er sitzt in Lissabon und kommt erst heute nacht mit dem Zug nach Madrid zurück, scheint den verlängerten Aufenthalt aber nicht zu bedauern.
Etwas anderes hat mich in den letzten Tagen sehr erstaunt. Dass die größte Tageszeitung des Landes uns täglich auf vielen Seiten mit Klatsch von den Esstischen der Diplomaten füttert. Ich schlage El País vom Freitag auf und sehe folgende Schlagzeile: „Aznar: Wenn ich Spanien verzweifelt sehe, müsste ich vielleicht in die Politik zurückkehren“. Aha. Das Fundstück von Wikileaks ist nun nicht unbedingt ein Gedanke, der irgendjemanden überraschen würde. Das Schlimme an der Schlagzeile ist deshalb nicht der Inhalt dieses Satzes, sondern die Tatsache, dass er am 28. Juni 2007 nach einem Abendessen in der Residenz des spanischen Botschafters in Washington, Eduardo Aguirre, gesprochen wurde. Vor dreieinhalb Jahren! Und nicht in einer Pressekonferenz, sondern bei Kaffee und Zigarre. Ist diese Zeitung noch zu retten? Das bietet sie ihren Lesern am 3. Dezember 2010 als Aufmacher an??
Vielleicht ist es an der Zeit, etwas klarzustellen. José María Aznar, der vielerorts auf Ablehnung, anderenorts auf starke Sympathien stößt, hat lange vor seinem Abgang im Jahre 2004 angekündigt, zwei Amtszeiten seien genug. Daran hat er sich gehalten. Dass er im Hintergrund noch kräftig mitmischt und Fäden zieht, Einfluss nimmt, Stimmung verbreitet, unterscheidet ihn nicht wesentlich von Felipe González. Haken wir das ab. Beide sind relativ jung aus dem Amt geschieden, Aznar freiwillig, González nicht. Beide tun im Hintergrund, was animales políticos eben tun. Was diesen ganzen Themenkomplex betrifft, erwarte ich von einer seriösen Tageszeitung, dass sie mich nicht für blöder hält, als ich bin. Sonst müsste ich glauben, sie wäre es.
Insgesamt erscheint mir die von Wikileaks in die Öffentlichkeit gepustete Masse an diplomatischem (und reichlich undiplomatischem) Gerede, an Klatsch, der sich als Information tarnt, an Gerüchten, Meinungen und Befürchtungen oft so niederschmetternd nichtssagend, dass der allgemeine Schaden größer ist als der Nutzen. Die Diplomatie muss Berichte schreiben. Sie muss recherchieren, beurteilen, abwägen und Informationen austauschen. Dafür ist sie da. Es ist unmöglich zu beurteilen, welchen politischen Effekt die aus dem Zusammenhang gerissene Meinung eines bestimmten Botschafters oder Botschaftsangehörigen hatte, haben könnte, haben wird oder hätte haben können. Dafür müssten wir die gesamte Textproduktion kennen, aber dann bitte auch alle gesprochenen Äußerungen, die niemand aufgezeichnet hat und daher auch niemand weitergeben kann. Die zweihundertfünfzigtausend Dokumente in der Hand von Wikileaks kommen mir vor wie die profane Einlösung von Borges‘ unendlicher Bibliothek. Auch hinter dem Reich von Julian Assange wartet ein ontologischer Schwindel, dem niemand anheimfallen will.
Im Klartext. Wenn die Diplomatie ihre Aufgabe nicht mehr wahrnehmen kann, weil keiner ihrer Mitarbeiter einen ungeschützten Satz sagen darf oder es kein off the record-Prinzip gibt, nimmt das internationale politische Tagesgeschäft Schaden. Dann ist Sondierung, Annäherung, informeller Austausch, ja diplomatische Tätigkeit selbst unmöglich. Wir sprechen hier nicht von geheimen Informationen über den Irak-Krieg oder Folter in Afghanistan. Wir haben es mit einer gigantischen Menge an Meinungen zu tun, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren und im Geheimen hätten bleiben sollen.